Publikationen / vorgänge / vorgänge 190: Die Erosion der Demokratie

Nachhal­tig­keit und postde­mo­kra­ti­sche Wende

Zum Wechselspiel von Demokratiekrise und Umweltkrise;

aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 44-54

I. Demokra­ti­sche und ökologische Nachhal­tig­keit

In Anbetracht der sich zuspitzenden Nachhaltigkeitskrise einerseits und der verbreiteten Klage über die Erosion der Demokratie andererseits ist die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Demokratie in modernen Konsumentengesellschaften eine Zentralfrage geworden (z.B. Höffe 2009; Leggewie und Welzel 2009). Sie hat zwei Dimensionen: Erstens geht es um den derzeitigen Zustand und die weiteren Entwicklungsaussichten – also um die Nachhaltigkeit – der Demokratie, die in vielen fortgeschrittenen Industrienationen deutliche Ermüdungserscheinungen zeigt. Zweitens geht es um die Frage, inwieweit demokratische Strukturen in der Lage sind zu bewältigen, was derzeit oft als die wichtigste Herausforderung an die Menschheit bezeichnet wird, nämlich die sich zuspitzende Klima- und Umweltkrise. Beide Fragen sind analytisch klar voneinander getrennt, in der Praxis jedoch wechselseitig miteinander verbunden. In der ersten Dimension geht es weniger darum, das mögliche Ende der Demokratie zu verkünden, als vielmehr, eine angemessene Beschreibung ihrer sich derzeit vollziehenden Transformation zu finden (z.B. Cain et al. 2003; Blühdorn 2007, 2009a; Crouch 2008). In der zweiten Dimension geht es um die erneute Betrachtung des Verhältnisses von Demokratie und Ökologie und des alten Verdachtes, dass demokratische Strukturen möglicherweise grundsätzlich ungeeignet sind, um die Umweltkrise in den Griff zu bekommen.

Jeweils für sich werden beide Fragen derzeit breit diskutiert, doch erstens sind die beiden Debatten noch stark voneinander isoliert, d.h. Demokratiekrise und Nachhaltigkeitskrise werden nur selten zusammengedacht. Zweitens spielen in beiden Einzeldiskussionen Leitbegriffe und Glaubenssätze eine zentrale Rolle, die dringend der kritischen Nachfrage bedürfen. Drittens bleibt selbst dort, wo die beiden Fragen wenigstens versuchsweise zusammengebracht werden, die Verbindung zwischen den beiden Dimensionen der Zukunftsfähigkeit der Demokratie unklar: Es wird vermutet, dass Parteien-, Politik- und Demokratieverdrossenheit nicht zuletzt darauf zurückzuführen sind, dass die Bürger das Vertrauen in den ernsthaften Willen und die Fähigkeit der politischen Eliten und demokratischen Institutionen verloren haben, die anstehenden Zukunftsprobleme zu lösen (z.B. Embacher 2009). Umgekehrt glauben gerade in den emanzipatorischen Bewegungen verwurzelte Akteure, dass eine Wende zur Nachhaltigkeit ausschließlich durch eine Stärkung demokratischer Partizipation, Repräsentation und Legitimation zu bewerkstelligen sei (z.B. Leggewie und Welzel 2009). Doch wie tragfähig diese Vermutungen wirklich sind und welcher Art die Verbindung der beiden Nachhaltigkeitsfragen tatsächlich ist, bleibt unklar – auch weil es dort, wo die beiden Fragen gleichzeitig ins Visier genommen werden, oft an analytischer Schärfe fehlt und unbegründete normative Annahmen die Perspektive verzerren (z.B. Höffe 2009; Leggewie und Welzel 2008, 2009; Siller 2010).

Damit sind die Ziele für diesen Beitrag umrissen: Er soll die jeweiligen Diskussionen über die Demokratiekrise und die Umweltkrise enger miteinander in Verbindung bringen, in beiden Einzeldiskussionen kritische Akzente setzen und die wechselseitige Beziehung der beiden Dimensionen der Zukunftsfähigkeit der Demokratie neu beleuchten. Nach einem kurzen Blick auf konkurrierende Diagnosen zum Zustand der Demokratie wird es zunächst um Demokratieskepsis und Demokratievertrauen im Kampf gegen die ökologische Krise gehen. Im Anschluss werden die Aussagen zur Demokratiekrise einerseits und die zur Reichweite der Demokratie als Mittel gegen die Umweltkrise andererseits kritisch betrachtet. Dabei wird in Abgrenzung zu dem populären schwachen Begriff der „Postdemokratie“ (vgl. Crouch 2008; Buchstein und Nullmeier 2006; Jörke in diesem Heft) ein stärkeres Verständnis des Begriffs entwickelt. Auf dieser Grundlage wird abschließend die Beziehung zwischen den beiden Dimensionen der Zukunftsfähigkeit der Demokratie erneut untersucht und vor allem die Fatalität des Zusammenspiels von Demokratiekrise und ökologischer Krise herausgestellt.

II. Demokra­tie­krise: Konkur­rie­rende Diagnosen

Seit Langem beobachten Politikwissenschaftler und politische Journalisten in entwickelten demokratischen Industriegesellschaften eine Krise der Demokratie (vgl. z.B. Maier 2000; Dalton 2004; Wiesendahl 2006; Brodocz 2008; Embacher 2009). Ihre Diagnose bezieht sich erstens, auf Seiten der Bürger, auf die Feststellung einer abnehmenden Bereitschaft zur politischen Organisation und Partizipation, auf das schwindende Vertrauen in die Fähigkeit und den Willen politischer Eliten, die Interessen der Bürger angemessen zu vertreten, und auf die zunehmende Konzentration der Bürger auf das Management ihres eigenen, immer anspruchsvoller und vielschichtiger werdenden Lebens. Zweitens bezieht sich diese Diagnose, auf der Seite der Regierenden, auf deren – natürlich nicht offen ausgesprochenes – abnehmendes Vertrauen in partizipatorische Verfahren gerade angesichts steigender Problemkomplexität und hohen Entscheidungsdrucks, auf die zunehmende Entparlamentarisierung, Personalisierung und Präsidentialisierung der Politik, auf den Glauben an die höhere Effizienz des Marktes, und auf die wachsende Bedeutung von vermeintlich entpolitisierten Expertenkommissionen, professionellen Politikberatern und verschiedenen Behörden und Agenturen, die nicht demokratisch, sondern durch die ihnen zugeschriebene Sachkompetenz legitimiert sind. Drittens bezieht sich die Diagnose auf die Feststellung, dass gesellschaftliche Funktionssysteme, soziale Interaktionshorizonte und die von der Politik zu regelnden Problemzusammenhänge längst über den demokratisch verfassten Nationalstaat hinausgewachsen sind, ohne dass sich jenseits des Nationalstaates ernstzunehmende demokratische Institutionen herausgebildet hätten. Schon innerhalb des Nationalstaats ist die offizielle Politik – und damit die demokratischen Institutionen – nur noch eines von vielen Zentren der Macht und hat nur sehr begrenzte Steuerungsfähigkeit. Noch mehr jedoch wird die Macht des demokratischen Souveräns durch die fortschreitende Transnationalisierung beschränkt.

Da es wenig Anzeichen gibt, dass sich an dieser Lage und Entwicklung etwas Grundsätzliches ändern könnte, scheint es um die Zukunftsfähigkeit der Demokratie nicht gut bestellt. Der von Colin Crouch in die Diskussion eingebrachte Begriff der „Postdemokratie“ scheint schon ihren endgültigen Niedergang zu verkünden. Crouch spricht von einer „unvermeidlichen Entropie der Demokratie“ und von Veränderungen, die so machtvoll und tief greifend seien, dass eine erneute Umkehrung des Entwicklungstrends kaum vorstellbar sei (Crouch 2008: 133). Sein Modell der Postdemokratie beschreibt einen Zustand der demokratischen Erschöpfung, Ernüchterung und Enttäuschung (ibid: 30), in dem zwar die wesentlichen Institutionen und Rituale der Demokratie formal erhalten bleiben, die meist „passiven, schweigenden, ja sogar apathischen“ Bürger aber keinen wirklichen Einfluss mehr auf die Politik haben (ibid: 10). Diese werde vielmehr unter weit gehendem Ausschluss der demokratischen Öffentlichkeit – und oftmals auf transnationaler Ebene – zwischen politischen Eliten und wohl organisierten, insbesondere wirtschaftlichen, Interessengruppen ausgehandelt (ibid.).

Solche Diagnosen des demokratischen Niedergangs sind allerdings nicht unumstritten. Ihnen widerspricht zunächst die Tatsache, dass sich trotz des geringen Vertrauens in demokratische Institutionen demokratische Werte heute höherer gesellschaftlicher Zustimmung erfreuen denn je (vgl. Embacher 2009). Robert Dahl (2000), Chantal Mouffe (2000) und viele andere sprechen hier von einem demokratischen Paradox. Russell Dalton ist ein prominentes Beispiel für diejenigen, die zwar gewisse Transformationserscheinungen feststellen, dabei aber nicht müde werden zu betonen, dass die Bürger westlicher Demokratien zu keinem früheren Zeitpunkt so viele Partizipationsmöglichkeiten hatten und so regen Gebrauch von ihnen gemacht haben wie heute (z.B. Dalton 2004). Ronald Inglehart findet auch in seinen jüngsten Arbeiten zur „human development sequence“ (z.B. Inglehart und Welzel 2005; Inglehart 2008) seine alten Thesen der „stillen Revolution“ (z.B. Inglehart 1977, 1997) bestätigt, dass der fortlaufende Prozess der Modernisierung immer mehr Demokratisierung mit sich bringe, die Autorität der Eliten immer weiter einschränke und die partizipatorisch-demokratische Kultur immer tiefer verankere. Dies widerspricht der Diagnose der Postdemokratie. Aber auch Crouch verwendet diesen Begriff eigentlich nur als polemischen Reizbegriff, mit dem er gegen beobachtete Tendenzen der Entpolitisierung und Elitenherrschaft mobilisieren will (Crouch 2008: 133ff). Tatsächlich hat sich die Demokratie als äußerst entwicklungs- und anpassungsfähig erwiesen, und so ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass Otfried Höffe ihr jüngst sogar „ein hohes Maß an Zukunftsfähigkeit“ bescheinigt hat (Höffe 2009: 243f): „In ihrem west- und nordeuropäischen Zuschnitt ermöglicht die moderne Demokratie, allen drei Kriterien für Zukunftsfähigkeit, der Freiheit, der Gleichheit und der Sicherheit, gleichermaßen zu genügen“ (Höffe 2009: 253).

III. Ökologische Krise: Demokra­ties­kepsis und Demokra­tie­ver­trauen

Die zweite Dimension der Zukunftsfähigkeit der Demokratie, d. h. die Frage, inwieweit demokratische Strukturen geeignet sind, den Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaftsform zu organisieren, spielt bei Höffe eine nur nebengeordnete Rolle. Dabei bedeutet gerade die sich zuspitzende Klimakrise eine erhebliche Herausforderung für die Demokratie und gerade im Bereich der Umweltpolitik haben Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Demokratie eine lange Tradition. Schon in den Frühzeiten der Umweltbewegung hatten die Denkansätze vieler intellektueller Gründungsväter durchaus auch autoritäre Untertöne (z.B. Ehrlich 1971; The Ecologist 1972; Schumacher 1973; Gruhl 1975). Zwar waren es dann gerade die emanzipatorisch-partizipatorischen neuen sozialen Bewegungen, die das Umweltthema auf die politische Agenda gebracht und dort fest verankert haben, doch die ökologischen Werte der Selbstbeschränkung, Selbstbeherrschung und Selbstverpflichtung im Namen einer intakten natürlichen Umwelt blieben immer in einem Spannungsverhältnis zu den demokratisch-emanzipatorischen Werten der Selbstbefreiung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Weder die sozialen Bewegungen und die aus ihnen hervorgegangenen politischen Akteure noch die politische Theorie haben diese Spannung je wirklich auflösen können.

Zu den konstitutiven Elementen dieser Spannung gehört, dass die Demokratie anthropozentrisch und nur eingeschränkt in der Lage ist, das angemessen zu repräsentieren, was keine Stimme hat und sich nicht in elektoral relevanter Weise artikulieren kann. Weiter ist die Demokratie sowohl auf der Seite der Wähler als auch auf der, der Gewählten stark gegenwartsfixiert. Sie priorisiert die Interessen des jeweiligen Moments, denkt in kurzen Zeitabschnitten (z.B. Wahlperioden oder Konjunkturzyklen) und tut sich schwer damit, der Zukunft angemessenes Gewicht zu geben. Außerdem tendiert die Demokratie zum Kompromiss, auch dort wo Kompromisslösungen umweltpolitisch nicht zielführend sind. Viertens sind demokratische Verfahren langsam und ressourcenaufwendig – und vor allem immer zu langsam und zu teuer für die jeweils akute Krise. Zudem richtet die Demokratie ihre Politik nach der aggregierten Mehrheit aus, doch die Präferenzen der Mehrheit entsprechen nur selten dem im Sinne von Nachhaltigkeit und Ökologie Vernünftigen. Weiter ist die Demokratie geographisch beschränkt. Sie tut sich schwer damit, stabile Legitimation für Politiken zu schaffen, von denen vor allem Menschen in anderen Ländern oder gar Erdteilen profitieren sollen, die aber den Wählern im eigenen Lande Kosten oder Beschränkungen auferlegen. Und schließlich ist die Demokratie grundsätzlich emanzipatorisch, d.h. sie zielt immer auf die Expansion persönlicher Rechte und die Verbesserung der persönlichen Lebensumstände. Sie ist damit ungeeignet für jede Form von die Mehrheit betreffenden Einschränkungen persönlicher Freiheiten und materieller Erwartungen, wie immer unverzichtbar solche Beschränkungen ökologisch auch sein mögen.

Schon Hans Jonas hatte in seinem 1979 veröffentlichten Buch Das Prinzip Verantwortung daher geäußert, „nur eine Elite“ könne „ethisch und intellektuell“ die erforderliche „Zukunftsverantwortung übernehmen“ und dachte über „eine wohlwollende, wohlinformierte und von der richtigen Einsicht beseelte Tyrannis“ nach (Jonas 1984: 262). Allerdings war es dann gerade das Misstrauen gegenüber den gesellschaftlichen Eliten, gepaart mit dem neuen politischen Selbstvertrauen einer durch Wirtschaftswachstum und Bildungsexpansion zu erheblichem Selbstbewusstsein gelangten neuen Mittelschicht, die die partizipatorische Revolution (Kaase 1982, 1984) auslösten und der Ansicht zum Durchbruch verhalfen, dass Ökologie und Demokratie untrennbar miteinander verbunden seien.

Im Zeichen der sich zuspitzenden Klima- und Nachhaltigkeitskrise sind die Zweifel an der Demokratie jedoch erneut gewachsen. Die Befürchtung, dass es ihr sowohl am Willen als auch an der Fähigkeit fehlt, die z. B. vom Weltklimarat dringend eingeforderten Maßnahmen zur Abwendung einer sozialen und ökologischen Katastrophe zu implementieren, hat sich auch dadurch verstärkt, dass die kulturelle Pluralisierung von Wertvorstellungen und Lebensentwürfen den Glauben an eine einheitliche authentische Vernunft und damit die Grundlage für den demokratischen Konsens geschwächt hat. Umweltrelevante Themen wie Klimawandel, Energiesicherheit oder die Umweltbilanz ökologischer Lebensmittel übersteigen in ihrer Komplexität bei Weitem das Wissen, die Vorstellungskraft und das Urteilsvermögen selbst überdurchschnittlich gebildeter Bürger. Gezielt beschleunigte Innovation, Mobilität und Flexibilisierung führen erstens zu immer schnellerer Veränderung und zweitens, zusammen mit der fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung sozialer Systeme, zu immer komplexer und unübersichtlicher werdenden Veränderungsprozessen. Unsicherheit und Unkalkulierbarkeit sind so zum zentralen Charakteristikum moderner Gesellschaften geworden (vgl. Beck 2007), und man kann immer weniger erwarten, dass der demokratische Souverän vorsorgende Entscheidungen für eine völlig unkalkulierbare Zukunft trifft: Beschleunigung und Nachhaltigkeit sind zwei direkt miteinander konfligierende Prinzipien. Und da der „ökologische Fußabdruck“ (Rees und Wackernagel 1996) moderner Konsumentendemokratien oft um ein Vielfaches die Größe ihres nationalen Territoriums übersteigt, vernachlässigen demokratische Verfahren nicht nur die nicht-menschlichen Interessen und die Belange zukünftiger Generationen, sondern auch die Interessen derer, die nicht zum demokratischen Gemeinwesen gehören, gleichwohl aber von dessen Entscheidungen massiv betroffen sind. Die Externalisierung ökologischer und sozialer Kosten ist heute also in mehrfacher Hinsicht strukturell in der Demokratie verankert.

All dies nährt den Verdacht, dass im Kampf gegen die ökologische Krise die Demokratie tatsächlich eher Teil des Problems als Teil einer aussichtsreichen Lösungsstrategie sein könnte. Bereits Ende der neunziger Jahre sprach die kanadische Umweltethikerin Laura Westra von „Demokratieversagen“ angesichts der Umweltkrise (Westra 1998: 53-80). Insbesondere die Vorstellung, „dass die Entscheidungen und Präferenzen der Mehrheit in den demokratischen, reichen Ländern als absolut und jenseits der Diskussion gesehen werden sollten“ (ibid: 3), erschien ihr problematisch, und „die unhinterfragte Akzeptanz des Primats demokratischer Institutionen“ bedeutete für sie ein „wesentliches Hindernis“ für eine erfolgreiche Umweltpolitik (ibid: 58). Die einzige Hoffnung auf wirksame Veränderung lag für Westra in noch zu schaffenden „globalen Regulierungsinstitutionen, die paternalistisch in unserem Namen handeln“ (ibid: 198). Was ihr vorschwebte, war ein interdisziplinär besetzter ökologischer Rat, der „die Rolle des weisen Mannes aus der aristotelischen Lehre übernehmen“ solle (ibid.).

In vergleichbarer Weise sprach sich jüngst auch Anthony Giddens sehr deutlich für den Staat als den zentralen umweltpolitischen Akteur aus. Nicht ohne vor den Fehlern des Sozialismus zu warnen, fordert Giddens eine Rückkehr zu zentralisierter Planung (ibid: 91-128) und einen „Gewährleistungsstaat“, der stark genug sein soll, ambitionierte Zielvorgaben beim Klimaschutz nicht nur zu formulieren, sondern auch in verlässlicher Art und Weise durchzusetzen (ibid: 7, 69). Natürlich müsse dieser Planungsstaat „mit demokratischen Freiheiten in Einklang gebracht werden“ (ibid: 96), doch den von den sozialen Bewegungen so betonten Wert der partizipatorischen Demokratie hält Giddens eigentlich für umweltpolitisch nicht zielführend und für mit Werten des Klimaschutzes auch nicht wirklich verbunden (ibid: 56). Giddens spricht sich klar für eine Entpolitisierung der Klimapolitik aus: „Der Klimawandel sollte aus dem rechts-links Kontext herausgehoben“ und „jenseits der unmittelbar parteipolitischen Rhetorik“ bearbeitet werden (ibid: 114). An die Stelle von Westras interdisziplinärem Rat tritt bei Giddens ein entpolitisiertes „cross party framework“ (ibid: 7, 113f), das vom Druck parteipolitischer Interessen und kurzer Regierungszyklen befreit sein soll.

Aus der Perspektive der emanzipatorischen sozialen Bewegungen und der aus ihnen hervorgegangenen politischen Akteure sind dies schwer erträgliche Überlegungen. Entsprechend vehement verteidigt z. B. Peter Siller (2010) den demokratischen Ansatz. Siller betont, dass Entpolitisierung und Expertenherrschaft gar keine Option sein können, weil nämlich „aus naturwissenschaftlichem Sachverstand noch keine normativ-politische Perspektive folgt“. In der Tat sind die empirischen Datensammlungen zum Beispiel des Weltklimarates einerseits und die Interpretation dieser Daten sowie die gesellschaftlichen Normen der Akzeptabilität von Umweltveränderungen und ihren sozialen Konsequenzen andererseits zwei verschiedene Dinge (vgl. Höffe 2009: 280-284). Siller kritisiert daher „die latente Demokratieskepsis eines Teils der Umweltaktivisten“ und insistiert, „dass eine Lösung der Klimakrise nur demokratisch zu bewerkstelligen“ sei. Ganz ähnlich fordern z. B. auch Claus Leggewie und Harald Welzel, dass „politische und bürgerschaftliche Partizipation“ ein „integraler Bestandteil einer künftigen Klimapolitik von unten“ sein müsse (Leggewie und Welzel 2008: 29). Der Umbau der Industriegesellschaft könne nur funktionieren, „wenn er als Projekt angelegt wird, in das sich die Gesellschaftsmitglieder identitär einschreiben können, ihn also als ihr Projekt begreifen“ (ibid: 30). Das wiederum setze voraus, dass „das Politikangebot partizipatorisch und aktivierend gedacht ist“ (ibid: 30).

IV. Argumen­ta­ti­ons­fehler und Begriffs­schär­fungen

Im Sinne der emanzipatorischen Bewegungstradition sind diese Argumentationsmuster verständlich. Siller, Leggewie und Welzel begehen jedoch den Fehler, von der unbestrittenen Untauglichkeit der Expertokratie zu schnell auf die größere Tauglichkeit partizipatorisch-demokratischer Ansätze zu schließen. Den oben erwähnten Bedenken gegen die Demokratie setzen sie jedoch nichts entgegen und ihre Behauptung, dass eine Lösung der Klimakrise nur demokratisch zu bewerkstelligen sei, weil nämlich Ökologie und Demokratie untrennbar miteinander verbunden seien, hat allenfalls als normative Forderung Bestand, nicht aber aus der Perspektive der empirischen Politikwissenschaft oder der politischen Theorie. Im Gegenteil muss man klar feststellen, dass es zwischen Ökologie und Demokratie keinen notwendigen Zusammenhang gibt, selbst wenn in demokratisch verfassten Gesellschaften, der Tendenz nach ein höheres Umweltbewusstsein und strengere Umweltstandards zu beobachten sind als in Nichtdemokratien. Während also die einen den Fehler begehen, von der berechtigten Sorge über die Untauglichkeit der Demokratie übereilt auf die größere Tauglichkeit der Expertenherrschaft zu schließen, begehen die anderen den umgekehrten Fehler. Die einen übersehen, dass es weder Grund zu der Annahme gibt, dass Experten Politikziele richtig festlegen könnten, noch zu dem Glauben, diese Ziele seien dann auch tatsächlich praktisch durchsetzbar. Die anderen übersehen erstens, dass die Behauptung einer notwendigen Verbindung zwischen Demokratie und Ökologie schon immer auf tönernen Füßen stand, und zweitens, dass gerade in jüngerer Zeit der Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung demokratische Werte und Institutionen in einer Weise verwandelt hat, die dem ökologischen Demokratievertrauen vollends den Boden entzieht.

Zum Beleg sei, neben den bereits angesprochenen Faktoren, vor allem auf den in der Demokratietheorie wie auch in der Nachhaltigkeitsdebatte vernachlässigten Werte- und Kulturwandel verwiesen, mit dem sich herausgebildet hat, was in Analogie zu Zygmunt Baumans Theorem der „flüchtigen Moderne“ (Bauman 2003) mit dem Oxymeron flüchtige Identität beschrieben werden könnte. Dieser Begriff zielt auf den in den Kulturwissenschaften längst anerkannten Umstand, dass in fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften das bürgerlich-modernistische Ideal der unitären und stabilen Identität, das zuletzt von den neuen sozialen Bewegungen emphatisch erneuert worden war, abgelöst worden ist vom – oder besser ergänzt worden ist um das – eigentlich in sich widersprüchliche Ideal der fragmentierten und flexiblen Identität. Denn unter den Bedingungen heutiger Wettbewerbs- und Konsumgesellschaften ist die alte Idealvorstellung des identischen Subjekts mit all ihren Implikationen von Konsistenz, Konsequenz, Moralität und Selbstdisziplin kontraproduktiv und zur Belastung geworden. Flexibilität, Vielseitigkeit, Mobilität und Innovationsbereitschaft sind demgegenüber nicht nur unbedingte Konditionen des modernen Arbeitsmarktes und beruflichen Erfolges, sondern sie scheinen auch ein breiteres Spektrum an Möglichkeiten für ein volleres und erfüllteres Leben zu eröffnen. Sie versprechen zusätzliche Optionen zur Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung.

Gerade in den fortschrittlichen gesellschaftlichen Milieus ist das Selbstverständnis und Identitätsideal daher vielschichtiger, flexibler, innovationsoffener und toleranter gegenüber internen Widersprüchlichkeiten geworden. Allerdings ist dieses von der Wirtschaft eingeforderte und von den Bürgern selbst präferierte neue Selbstverständnis erstens fundamental nicht-nachhaltig, und zweitens bedeutet es eine erhebliche Herausforderung für die Demokratie. Nicht-nachhaltig ist dieses Identitätsideal (a) insofern es per definitionem flexibel, flüssig und flüchtig, also eben gerade nicht konsequent, konsistent und konstant ist; (b) insofern es vor allem auf die unmittelbare Gegenwart fixiert ist und sich in seiner ständigen Neukonstruktion weder der Vergangenheit noch der Zukunft in besonderem Maße verpflichtet fühlt; und (c) insofern es als Medium der Selbstverwirklichung, Selbstartikulation und Selbsterfahrung ganz wesentlich auf Konsumhandlungen setzt, wobei es vor allem auf den Symbol- und Neuigkeitswert der Konsumgüter ankommt, die entsprechend immer möglichst schnell wieder ausgetauscht werden müssen.

Eine Herausforderung für die Demokratie bedeutet dieses zeitgenössische Identitätsideal erstens, weil man im gleichen Maße, wie dieses Selbstverständnis zur gesellschaftlichen Norm wird, davon ausgehen muss, dass die Bürger eben diese Norm und die auf sie gegründeten Interessen in den demokratischen Prozess einspeisen werden und repräsentiert sehen wollen (vgl. Blühdorn 2006). Damit verdunkeln sich die Aussichten auf eine demokratisch organisierte und dennoch effektive Strategie gegen die Nachhaltigkeitskrise, und technokratische, expertokratische und autoritäre Ansätze erhalten weiteren Auftrieb. Zweitens erscheinen aus der Perspektive des neuen Selbstverständnisses und Identitätsideals demokratische Institutionen und Verfahren nicht mehr wirklich als effizient. Angesichts der Komplexität der gesellschaftlichen Probleme und der Beschleunigung des persönlichen Lebens erscheint es effizienter, demokratische Verantwortlichkeiten an geeignete service provider zu delegieren, um sich selbst ganz auf sein life management konzentrieren zu können. Drittens haben die etablierten demokratischen Institutionen erhebliche Schwierigkeiten, sich auf das veränderte Selbstverständnis und Identitätsideal der Bürger einzustellen. Die Krise der Parteien und die übrigen viel zitierten Indikatoren der Demokratiekrise zeigen unmissverständlich, dass die etablierten Begriffe und Verfahren der Repräsentation, Legitimation und Partizipation für die Bürger immer weniger Sinn machen, und einstweilen ist keineswegs sicher, ob und wie diese Begriffe den veränderten Bedingungen angepasst werden können. Stattdessen beobachten wir vor allem, dass die verbreitete Klage über bestehende Demokratiedefizite erstaunlich wenig demokratische Mobilisierung hervorruft.

Zusammen bilden diese Entwicklungen den Kern dessen, was ich in Anlehnung an Colin Crouch, aber auch in bewusster Abgrenzung zu ihm, als postdemokratische Wende bezeichnet habe (vgl. Blühdorn 2006, 2007, 2009a). Während Crouch sich auf seinen eigenen Zentralbegriff nicht wirklich einlässt, sondern uneingeschränkt an den traditionellen Normen der Demokratie festhält, öffnet sich der Begriff der postdemokratischen Wende der Tatsache, dass demokratische Werte und Erwartungen sich im fortlaufenden Prozess der Modernisierung entsprechend den gewandelten Formen des Selbstverständnisses grundsätzlich verändert haben. Im Gegensatz zu Crouchs schwachem Begriff der Postdemokratie wird mit der postdemokratischen Wende also ein starkes Verständnis des Begriffs vorgeschlagen. Es geht davon aus, dass für die Bürger moderner Konsumentendemokratien mehr Demokratie wagen nicht mehr unbedingt erstrebenswert ist, sondern vielmehr schnell kontraproduktiv wird. Es betont, dass im Gegensatz zu den Thesen von Inglehart der fortlaufende Prozess der Modernisierung nicht nur die Demokratisierung vorantreibt, sondern gleichzeitig auch die kulturellen Ressourcen auszehrt, die für die Demokratie eine unverzichtbare Grundlage sind.

V. Demokratie und Nicht-Nach­hal­tig­keit

Der revidierte Begriff der Postdemokratie wirft ein grundsätzlich neues Licht auf die Frage der Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Höffes sorglos-positives Urteil, das weder die Demokratie selbst ernsthaft in Gefahr sieht noch ihre Fähigkeiten bei der Bewältigung anstehender Zukunftsfragen bezweifelt, erscheint nun weitgehend unbegründet.

Im Hinblick auf die erste Dimension unserer Ausgangsfrage wird deutlich, dass wir es in der Tat mit einer tiefen Krise der Demokratie zu tun haben. Sie hat ihre Ursache aber wohl weniger in der Unfähigkeit der Politik, die drängenden Zukunftsfragen zu lösen, als in der postdemokratischen Wende, d.h. im Prozess der Modernisierung, der die modernistischen Grundlagen und kulturellen Ressourcen aufgezehrt hat, auf denen moderne Demokratien gründeten. Die Demokratie ist dadurch nicht grundsätzlich in ihrem Bestand bedroht; in keiner gefestigten Demokratie kündigt sich eine offizielle Verabschiedung von demokratischen Prinzipien an. Aber die Erscheinungsform der Demokratie ist ein weiteres Mal dabei sich zu ändern, und Schlüsselkategorien wie Partizipation, Repräsentation und Legitimität werden grundsätzlich neu bestimmt (vgl. Blühdorn 2007a, 2009a). Crouchs Begriff der Postdemokratie ist zur Beschreibung dieser neuen Erscheinungsform(en) jedoch wenig geeignet. Er ist ein vor allem rückwärts gewandter und negativ bestimmter Begriff, er leuchtet nicht aus, in welchem Sinne die so genannte Postdemokratie möglicherweise den (veränderten) demokratischen Bedürfnissen heutiger Bürger entspricht, und weil Crouch an den überkommenen demokratischen Normen einfach festhält, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, dass sie ihre Gültigkeit verloren oder verändert haben könnten, hat er auf die sich herausbildende neue Erscheinungsform der Demokratie nur eine verzerrte Perspektive.

Bezüglich der zweiten Dimension der Ausgangsfrage, also der Klimakrise, ist deutlich geworden, dass es für demokratischen Optimismus wohl nicht viel Grund gibt. Von der Demokratie jenseits der postdemokratischen Wende ist eine Gesellschaftstransformation zur Nachhaltigkeit kaum zu erwarten. Wenn es überhaupt eine Aussicht für eine partizipatorisch organisierte, demokratisch legitimierte und ökologisch effektive Nachhaltigkeitspolitik gibt, dann nur, wenn zunächst große Anstrengungen daran gesetzt werden, das normative Kapital und die kulturellen Ressourcen zu regenerieren, die eine demokratische Politik der Nachhaltigkeit unverzichtbar benötigt, die der fortlaufende Modernisierungsprozess aber aufgezehrt hat. In der Praxis würde das vor allem die aktive Repolitisierung und Neuverhandlung der gesellschaftlichen Vorstellungen von Freiheit, Individualität, Identität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bedeuten. Politisch ist dies ein Minenfeld, doch solange eine solche Neubestimmung ausbleibt, kann ein Mehr an Demokratie die Klima- und Nachhaltigkeitskrise nur vertiefen. Doch daraus folgt eben keineswegs, dass technokratische, expertokratische und autoritäre Ansätze etwa aussichtsreicher wären. Zu dieser Annahme gibt es keinerlei Grund, nicht zuletzt, weil auch der technologische fix und die expertokratischen Ansätze ohne den angesprochenen Werte- und Kulturwandel am Ende nicht zum Erfolg führen können. Wir befinden uns also in einem veritablen Dilemma, in dem eine fortgesetzte Politik der Nicht-Nachhaltigkeit (vgl. Blühdorn 2007b, 2008, 2009b; Blühdorn und Welsh 2008), also der immer erneuten Versuche zu stabilisieren, was sich letztlich doch nicht stabilisieren lässt, die wahrscheinlichste Perspektive ist. Die Empirie bestätigt diesen Befund.

Hinsichtlich der Verbindung zwischen Demokratie und Nachhaltigkeit einerseits und Demokratiekrise und ökologischer Krise andererseits können wir abschließend festhalten, dass es diese Verbindung tatsächlich gibt. Sie besteht aber nicht darin, dass die Nachhaltigkeitskrise nur durch mehr demokratische Partizipation, Repräsentation und Legitimation gelöst werden kann, sondern darin, dass die Demokratie durch die postdemokratische Wende selbst in ihrer Zukunftsfähigkeit bedroht ist, und die postdemokratisch gewendete Demokratie die ökologische Krise weiter verschärft und zum entscheidenden Mittel für den Erhalt des Nicht-Nachhaltigen wird. Fatal ist, dass derzeit weder eine begründete Hoffnung auf eine Erneuerung der erschöpften kulturellen Ressourcen für eine zukunftsfähige Demokratie besteht noch eine Hoffnung, dass expertokratisch-autoritäre Führung einen Weg aus der Klimakrise weisen könnte. Vielmehr ist zu befürchten, was jedermann längst ahnt, was aber weder im politischen noch im wissenschaftlichen Betrieb offen ausgesprochen werden darf: dass nämlich Demokratiekrise und Ökologiekrise, sich gegenseitig verstärkend, wohl noch tiefer in die Sackgasse hineinführen werden.

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