Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Ein unsterb­li­ches Chamäleon?

Religion zwischen Säkularisierung und Sakralisierung,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 21-29

Sichtet man die sozialwissenschaftlichen Diskurse der vergangenen Jahre, so kann man den Eindruck gewinnen, dass eines ihrer Hauptbeschäftigungen darin besteht, den Abschied oder die Wiederkehr bestimmter Kategorien bzw. Themen anzuzeigen. Vom Ende der Geschichte, der Stadt und der Politik war ebenso die Rede wie von der Wiederkehr des Körpers, des Raums und der Klasse. Und nun also die Rückkehr der Religion. Religion ist insofern ein besonders zentraler Kandidat, weil die These von der abnehmenden Bedeutung der Religion der Soziologie geradezu eingeschrieben ist – vergleichbar nur noch mit der Kategorie des Raums, der in den klassischen Theorien der Moderne ebenfalls ein baldiges Ende prophezeit wurde (vgl. Schroer 2006). Es gehört zu den Grundannahmen der Theorien der Moderne, dass die Einflusssphäre der Religion mehr und mehr zurückgehen wird. Damit war freilich nicht gesagt, dass sie eines Tages gänzlich von der Bildfläche verschwinden würde. Vielmehr lautet die übereinstimmende Diagnose der soziologischen Klassiker (also von Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber), dass die Religion ihre einstige Vormachtstellung einbüßt und nunmehr nur noch ein Bereich unter anderen darstellt. Von einer Wiederkehr der Religion lässt sich sinnvoll nur dann sprechen, wenn man die von den Klassikern thematisierte Einflussbeschneidung der religiösen Sphäre insgeheim mit ihrem Verschwinden gleichgesetzt, die ursprüngliche These also gewissermaßen unter der Hand radikalisiert hat. Gut möglich, dass in diese Übertreibung die Vorstellung eingeflossen ist, dass Religion, wenn sie nur mehr als Teilbereich funktioniert, gar nicht mehr funktioniert, sie die Beschneidung ihrer Zuständigkeitsbereiche gewissermaßen nicht überleben würde. Gedeckt ist diese Annahme durch die Einschätzung der Klassiker aber keineswegs. Die Religion als historisch überlebt zu betrachten, ist eher ein Produkt der 1960er Jahre. Die Klassiker dagegen haben bereits im Blick, dass sich Religion in anderer als gewohnter Form präsentiert und damit gerade nicht verschwindet. Nicht das Ende, sondern der Wandel der Religion steht im Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Damit war die Soziologie bereits früh auf die These Thomas Luckmanns eingestimmt, nach der Religion mehr und mehr außerhalb der institutionalisierten Bereiche vorzufinden sei, sich in verwandelter Form zeige, neue Aufgaben übernähme und deshalb zunehmend „unsichtbar“ bleibe (vgl. Luckmann 1991). Der Soziologie wuchs damit die Aufgabe zu, mit wachsamen Blick Religion gerade dort aufzuspüren, wo sie gleichsam getarnt agiert und deshalb unerkannt für Sozialforscher bleibt, die Religion auf Kirchliches reduzieren. Gut zwanzig Jahre nach dieser Weichenstellung will Ulrich Beck einen ähnlichen Perspektivenwechsel hinsichtlich der Politik bzw. des Politischen herbeiführen. Statt von einem Ende der Politik zu reden, wirbt er dafür, das Politische gerade außerhalb seiner angestammten Formen und Orte aufzusuchen, so dass wir es nicht mit einem Ende der Politik, sondern mit einer permanenten Entdeckung des Politischen zu tun bekommen (vgl. Beck 1993).
Was im einen Fall zur Erweiterung der Politik durch das Politische (Subpolitik) führt, führt im zweiten zur Erweiterung der Religion durch das Religiöse (was man Subreligion nennen könnte). Es spricht viel für die Vorschläge, den Bedeutungsrückgang einer bestimmten institutionellen Form von Religion bzw. Politik nicht mit dem Rückgang von Religion bzw. Politik insgesamt gleichzusetzen. Beide Vorschläge führen allerdings zum Problem eines allzu ausufernden Verständnisses des Gegenstandbereichs, zu wenig trennscharfen Begriffen, die Zeitdiagnosen ermöglichen, denen zufolge „alles politisch“ bzw. religiös ist. Während ein enger Religions- und Politikbegriff die Rede vom Ende der Politik oder dem Verschwinden der Religion geradezu erzwingt, sobald sich Form und Inhalte substantiell verändern, legt eine weite Begriffsdefinition den Verdacht nahe, dass unter allen Umständen und über alle Wandlungen hinweg erhalten bleiben soll, was als unersetzlich für das gesellschaftliche Funktionieren und Zusammenleben gehalten wird. Damit wird Religion gleichsam zu einem unsterblichen Chamäleon, das über alle Wandlungen hinweg doch immer noch als mit sich identisch erkannt werden kann. Gerade vor dem Hintergrund eines solchen Religionsverständnisses erscheint die These einer Rückkehr der Religion als besonders fragwürdig, denn bei einem so weiten Religionsbegriff wie dem Luckmann`schen kann von einer Wiederkehr der Religion schlicht deshalb keine Rede sein, weil sie qua definitionem immer vorhanden war und bleiben wird. Mit der These von einer Wiederkehr der Religion muss insofern mehr gemeint sein. Schließlich ist ja nicht von der Entdeckung eines subreligiösen Bereichs die Rede oder von der Wiederkehr des Religiösen, sondern von der Wiederkehr der Religion. Und das kann nur heißen, dass Religion in ihrer institutionalisierten Form wieder eine weit größere Rolle spielt, als dies in den klassischen Annahmen immer wieder unterstellt worden ist. Wenn mit Säkularisierung der Rückzug der Religion aus zahlreichen Bereichen des modernen Lebens gemeint war, dann kann von einer „postsäkularen Gesellschaft“ (Habermas 2001: 13) eigentlich nur die Rede sein, wenn der Wiedereintritt der Religion in eben diese Bereiche belegbar wäre. Es stellt sich daher die Frage: Lässt sich ein solcher Prozess tatsächlich beobachten? 

Neue religiöse Unüber­sicht­lich­keiten : das Event der Papstwahl und der Neid der Kanzlerin

Welche Indikatoren sprechen für die These einer Rückkehr der Religion? Haben wir es mit einer Rückkehr der Religion zu tun, weil Abermillionen von Menschen das Sterben des Papstes am Fernsehen verfolgt haben? Ist die Tatsache, dass Angela Merkel bei ihrer Vereidigung als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland die Schlussformel „So wahr mir Gott helfe“ mitsprach, auf die ihr Amtsvorgänger und die meisten seiner Kabinettsmitglieder verzichtet hatten, als ein Zeichen für die Rückkehr der Religion zu bewerten? Zeichnet sich im leichten Rückgang der Kirchenaustritte eine Rückkehr der Religion an? Ist der Zulauf, den religiöse Bewegungen verzeichnen können, als Rückkehr der Religion zu bewerten? Man kann aus diesen Befunden in der Tat die Tendenz einer wieder zunehmenden Bedeutung der Religion herauslesen. Sie als überzeugenden Beleg für ein Wiedererstarken der Religion auf breiter Basis zu interpretieren, scheint dagegen übertrieben. Schließlich lassen sich die Befunde auch anders deuten: Der erste Vorgang lässt sich auch als Annäherung der Religion an die Medien verstehen, die andere soziale Felder längst vollzogen haben. Weil auch sie gemerkt hat, dass sie nicht mehr mit einer selbstverständlich gegebenen Aufmerksamkeit rechnen kann, sondern selbst aktiv auf sich aufmerksam machen muss, werden wir Zeuge der medialen Inszenierung und Eventisierung kirchlich-religiöser Ereignisse, die sich von anderen Events kaum mehr unterscheiden lassen.
Dabei käme es allerdings einem Kurzschluss gleich, die Events der Kirchen als plumpe Nachahmungen der Popkultur zu interpretieren. Eher verhält es sich umgekehrt. Popkulturelle Inszenierungen haben aus der über Jahrhunderte angesammelten Erfahrung der Kirchen mit der Inszenierung von Ereignissen gelernt. Den zweiten Fall wird man als Rückkehr zu einem Ritual ansehen können, die bei einer christdemokratisch geprägten Regierung nicht überraschen dürfte. Entscheidender als die Rückkehr zu besagter Schlussformel ist, dass der Passus ebenso gut hätte weggelassen werden können, ohne das dies eine Welle der Empörung nach sich gezogen hätte. Ob die derzeitige Stagnation der Kirchenaustritte als Indiz für die Rückkehr der Religion angesehen werden kann, hängt nicht nur davon ab, ob sich dieser Trend verstetigt oder gar zunimmt. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, sagt die Kirchenmitgliedschaft für sich genommen nicht viel aus, kann doch der Eintritt in die Kirche aus vielen Gründen erfolgen. Der vierte Fall schließlich kann als Beleg dafür gelten, dass die offiziellen Kirchen Konkurrenz durch sich immer wieder konstituierende religiöse Bewegungen, esoterische Angebote und Sekten zuwächst. Das aber ist nicht eben neu, sondern gehört zum festen Bestandteil der Erforschung von Religion bzw. religiöser Phänomene und Surrogate, die sich neben der institutionalisierten Fassung der Religion eben auch für die Subreligionen und das Subreligiöse interessiert. Insofern ließe sich von einem latent stets vorhandenen Bodensatz an diffus religiösen Phänomenen sprechen, die sich in regelmäßigen Abständen manifestieren.
Die These einer Wiederkehr der Religion kann damit nicht gestützt werden, denn wir haben es mit kontinuierlich zu beobachtenden und nicht mit plötzlich auftauchenden Aktivitäten zu tun. Entscheidend ist dabei vor allem, dass wir zumindest für den europäischen Raum keine Bedeutungszunahme der Religion in der Weise feststellen können, dass die Mitgliedschaft in einer bestimmten religiösen Vereinigung zur Bedingung der Teilhabe an anderen sozialen Feldern wird. Nach wie vor kann man Bundeskanzler werden, Geschäfte betreiben, Kunst kaufen, Recht erhalten, ja sogar: heiraten, Kinder bekommen und aufziehen, ohne religiös aktiv zu sein oder auch nur einer Kirche anzugehören. Glaube ist Privatsache und kann sich auf die verschiedensten Objekte richten – mit Religion im traditionellen Sinne muss das keineswegs immer etwas zu tun haben. Die im Alltag vorherrschende unleidenschaftliche Haltung zur Religion resultiert gerade daraus, dass der einzelne kaum in Situationen gerät, in der das Bekenntnis zu einer Religion eine große Rolle spielen würde. Die Zugehörigkeit zu einer Religion wirft zudem keinerlei Privilegien ab, anders als dies bei Clubs, Parteien und Vereinen der Fall sein kann. Würde die Vergabe von Eintrittskarten zu Spielen der kommenden Fußballweltmeisterschaft dagegen an Religionszugehörigkeit geknüpft, so wären Wiedereintritte in die Kirche gewiss zu verzeichnen. So aber bleibt die Religionszugehörigkeit ebenso wie die Religionsunzugehörigkeit in signifikanter Weise folgenlos. [1]

Der Mythos vom postsä­ku­laren Zeitalter

Das Bild ändert sich erst – und dies scheint überhaupt der entscheidende Anstoß für eine Diskussion über eine Rückkehr der Religion zu sein – wenn der Blick über den nationalen bzw. europäischen Tellerrand hinausweist. Dann wird deutlich, dass es sich bei dem lange Zeit für selbstverständlich geltenden Prozess der Säkularisierung offenbar vor allem um eine genuin europäische Perspektive handelt, die schon auf Nordamerika, erst recht aber auf Südamerika, Afrika und Asien, Zentral- und Südostasien, Ägypten, dem Iran und dem Nahen Osten nur bedingt angewendet werden kann. Selbst führende Vertreter der Säkularisierungstheorie kommen deshalb um das Eingeständnis nicht herum, dass Ausmaß und Unausweichlichkeit der Säkularisierung überschätzt zu haben (vgl. Berger 1991). Statt eines zunehmenden Bedeutungsverlusts der Religion ist all diesen Ländern ganz im Gegenteil eine große religiöse Vitalität zu bescheinigen. Sowohl Katholizismus und Protestantismus als auch der Islamismus erfreuen sich eines regen Zulaufs. Wohl allzu lange sind die starken Bindungen an Religion in diesen Ländern als durch nachholende Modernisierungsschübe überwindbare Atavismen angesehen worden.
Dabei ist das Gegenteil der Fall. Nicht mit traditionellen Überbleibseln haben wir es zu tun, sondern mit modernen Varianten und Mischungen althergebrachter Glaubensrichtungen. So ist etwa auffällig, dass es in Lateinamerika zur Abkehr vom traditionellen Katholizismus zugunsten charismatischer Gruppen und in Afrika zu Mischungen aus Stammesreligion und Christentum kommt, so dass insgesamt von einer Pluralisierung und Hybridisierung des Religiösen auszugehen ist, die vor allem dafür sprechen, nicht über das Ende und die Wiederkehr der Religionen zu spekulieren, sondern sich für den permanent stattfindenden Wandel der Religionen zu interessieren. Was sich dabei ebenfalls beobachten lässt, ist die Rückkehr der Religion auf die internationale politische Bühne, vor allem in Gestalt des Fundamentalismus, der in der öffentlichen Debatte zu Unrecht für eine islamische Spezialität gehalten wird. Besondere Sprengkraft entsteht gerade aus der Konfrontation des wachsenden christlichen Fundamentalismus der USA auf der einen und des islamischen Fundamentalismus auf der anderen Seite.
Doch diese globale Präsenz der Religion bringt den Prozess der Säkularisierung so wenig zum Stillstand, wie die mangelnde Präsenz der Religion als Zeichen für eine durchgesetzte Säkularisierung gelesen werden kann. Dass jedoch gerade Jürgen Habermas das postsäkulare Zeitalter einläutet, zeigt, dass das unvollendete Projekt der Moderne und damit der nicht abgeschlossene Prozess der Säkularisierung vorübergehend offenbar durchaus als vollendbar und abschließbar gedacht wurden. Doch inzwischen bekommt man es mit der Wiederkehr des Verdrängten zu tun: Die als überwindbar gedachten Kategorien der Rasse, der Ethnie, des Körpers und des Raums stehen ebenso wieder auf der Tagesordnung wie Gewalt, Krieg und Religion. Die These vom postsäkularen Zeitalter überschätzt allerdings die aktuelle Bedeutung der Religion und unterschätzt die Bedeutung, die die Religion einmal gehabt hat. Damit begeht sie gleich zwei Fehler auf einmal. Zum einen unterstellt sie ein durchgesetztes säkulares Zeitalter, das nun durch ein postsäkulares abgelöst wird. [2] Zum anderen legt sie nahe, dass wir es mittlerweile mit einem Bedeutungszuwachs der Religion zu tun haben, der an Zeiten vor dem einsetzenden Prozess der Säkularisierung erinnert. Obwohl man sich vor der Gefahr hüten sollte, die Bindekraft der Religion für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft in der Rückschau zu überschätzen, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass der Einfluss der Religion in der Vormoderne ungleich höher war als heute – wenn man von gegenwärtigen Theokratien einmal absieht.
Eine gewisse Plausibilität scheint die These von der Rückkehr der Religion also dadurch zu erhalten, dass sich auf der internationalen politischen Bühne religiös eingefärbte Konflikte in den Vordergrund geschoben haben. Es ist allerdings eine durchaus offene Frage, ob wir es dabei wirklich mit religiös motivieren Konflikten zu tun haben oder doch eher mit politischen Konflikten, in denen Religion zwischen den Konfliktpartnern für ihre jeweiligen Interessen eingesetzt wird. Bei der Bewertung dieser Entwicklung stehen wir jedoch vor einem Dilemma: Während der Hinweis auf die Instrumentalisierung religiöser Gründe für politische Ziele der Religion womöglich zu wenig Bedeutung zuerkennt, gesteht eine eindeutige Identifizierung der Konflikte als religiös ihr womöglich zu viel Bedeutung zu. Nicht zu leugnen aber ist, dass sich religiöse und politische Motive bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischen. Wenn man dies als Rückkehr der Religion zu interpretieren bereit ist, ist man der oftmals nur religiös verkleideten politischen Motive der terroristischen Anschläge aber vielleicht schon auf den Leim gegangen. Die kalkulierte mediale Offensive der Terroristen ist jedenfalls erfolgreich genug gewesen, um als Zeichen für eine Wiederkehr der Religion gelesen zu werden. Das Deutungsangebot des Religionskrieges wurde geradezu dankbar aufgegriffen.

Sakra­li­sie­rung, Priva­ti­sie­rung und Gemein­schaft

Neben dieser neuen globalen Präsenz der Religion haben wir es auf der anderen Seite mit den privatisierten und individualisierten Formen des Religiösen zu tun, die zwar nicht gänzlich unsichtbar sind, sich dem Blick aber auch nicht gerade aufdrängen. Um sie zu entdecken, muss man sich schon auf die „Suche nach Religion“ (Krech 2003) begeben, denn aus dem alltäglichen öffentlichen Leben hat sich Religion weitgehend zurückgezogen. Nimmt man etwa die Auswahl von Zeitschriften einer beliebigen Bahnhofsbuchhandlung als Indiz für die Bedeutung bestimmter Phänomene in der heutigen Gesellschaft, stößt man auf   Wirtschafts- , Politik- und Kunstmagazine, auf Sport-, Reise- und Computerjournale, Architektur-, Wohn- und Musikzeitschriften, auf Esoterisches und Kulinarisches. Auf Religion dagegen trifft man nicht. Es gibt kein Religionsmagazin, das es sich zur Aufgabe gemacht hätte, über alle religiösen Aktivitäten und Entwicklungen zu berichten, die sich auf diesem Planeten beobachten lassen. Warum ist das so? Gibt es nicht genügend Leser, die sich über ihre eigene Konfessionszugehörigkeit hinaus für den Bereich Religion im Allgemeinen interessieren? Ist Religion noch immer derart von Geheimwissen geprägt, dass eine journalistische Berichterstattung sich ausschließt? Bedarf Religion einer solchen thematischen Bündelung nicht, weil sie von anderen Magazinen immer schon mitbehandelt wird, sobald etwas Spektakuläres zu berichten ist? Wie auch immer man diese Frage beantworten mag:
Für die Einschätzung der Bedeutung der Religion ist die Tatsache nicht unerheblich, dass sie zwar selbst nicht über ein eigenes Magazin verfügt, alle genannten Bereiche sich aber gleichwohl religiös aufladen lassen. Insofern haben wir es nicht mit einer Rückkehr der Religion, sondern mit einer religiösen Einfärbung, besser: Sakralisierung der verschiedensten Lebensbereiche zu tun. Das lässt sich allein schon an zahlreichen Begriffen ablesen, die aus dem religiösen Kontext herausgelöst in anderen Bereichen fortleben: Autoausstellungen werden zu Automessen, Fußballstadien zu Fußballtempeln und Shopping Malls zu Kathedralen des Konsums. Weitere Indizien lassen sich anführen: So können politische Überzeugungen ebenso zur Religion werden wie das Bekenntnis (!) zu einem bestimmten Fußballverein.
Was von Haus aus nichtreligiöse Aktivitäten zu religiösen macht, ist der unbedingte Glaube an etwas, das man nicht bereit ist in Frage zu stellen. Zwar kann man die Leistungen eines Fußballvereins im Rahmen gleichgesinnter Fans schonungslos diskutieren, eine von Außen artikulierte Kritik dagegen wird als nicht hinzunehmender Übergriff erlebt. Ein bestimmter Bereich des Lebens wird damit als sakrosankt deklariert. Doch ob es sich nun um den Glauben an eine politische Idee oder an einen Fußballverein handelt: Entscheidend ist in jedem Fall, dass man den Glauben mit anderen teilen kann. Die Frage nach Religion ist insofern auch immer eine Frage nach Kollektiven. Es hat eben nicht jeder seine eigene kleine Privatreligion. Vielmehr erlaubt eine wie immer definierte Religion Gesellschaft als Gemeinschaft von Gläubigen zu erleben – wie klein die Gemeinschaft auch immer sein mag.

Öffnung als Risiko für Religion?

Auf diese Weise überlebt Religion gleichsam im Verborgenen. Die offizielle Religion steht dagegen vor dem Problem, sich entweder auf ihr traditionelles Terrain zurückzuziehen und damit nur mehr ein Nischendasein zu fristen oder aber in die Gesellschaft hineinzudiffundieren, dabei aber an Identität und Authentizität zu verlieren. Die Kirchenvertreter selbst scheinen hinsichtlich dieser Frage in „Fundis“ und „Realos“ gespalten zu sein. Galt bisher als ausgemacht, dass Kirchen in dem Maße an Bedeutung verlieren, in dem sie sich nicht dem zunehmend privatisierten, individualisierten und urbanisierten Leben stellen, so könnte man inzwischen auch umgekehrt fragen, ob die vergleichsweise geringe Bedeutung der Kirchen gerade mit ihrer Öffnung hin zu weltlichen Belangen und der Übernahme auch nichtreligiöser Funktionen zu tun hat. Denn je verwissenschaftlichter Religion selbst daher kommt, indem sie ihre Zweifel offen legt, Unsicherheiten nicht verbirgt und Letztbegründungen ablehnt, desto eher ist für den Konsumenten von Sinnangeboten kaum mehr ein Unterschied zu anderen Institutionen erkennbar.
Was die Menschen aus der Kirche heraustreibt, wäre dann folglich nicht mehr ihre Regressivität und Repressivität, sondern ihre Liberalität und Offenheit, die sie vom Rest der Gesellschaft kaum mehr unterscheidbar macht. Wenn ich auch beim Kirchgang eher mit einer politischen Rede als mit einer religiösen Predigt rechnen muss, schalte ich vielleicht doch gleich lieber den Politiktalk daheim im Fernsehen ein. Dies ist nun keineswegs als Plädoyer für die Rückkehr der Kirchen zu alter Strenge und traditionellem Dogmatismus zu verstehen. Es geht vielmehr darum, dass sich Religion fragen muss, ob sie mit einer zunehmenden Verwässerung ihrer Botschaften und einer grenzenlosen Öffnung gegenüber allen an sie herangetragenen Erwartungen nicht an ihrem eigenen Untergang mitarbeitet. Vielleicht stehen die Kirchen ja vor einem ähnlichen Problem wie die deutsche Sozialdemokratie: Entweder man enttäuscht die Traditionalisten, indem man den Weg der Liberalisierung und Öffnung beschreitet, oder aber man verprellt die Reformisten, weil man sich auf die eigene Identität und Tradition besinnt. Würden Kirchenmitglieder in regelmäßigen Abständen zur Wahl gebeten, um über den jeweils eingeschlagenen Kurs der Kirchenoberhäupter abzustimmen, ließen sich womöglich ähnliche Turbulenzen wie auf dem derzeitigen Politikmarkt beobachten. So aber bleibt den Kirchen unzufriedenen nur das für Partei zugehörige allerletzte Mittel des Austritts, um ihrem Missfallen Ausdruck zu verleihen. Wie auch immer die Kirchen diese Konflikte für sich lösen mögen, gewiss scheint, dass der ehemals durch Religion gestiftete Sinn und die von ihr gelieferten Gewissheiten auch weiterhin nachgefragt werden. Wenn die Kirchen diesen Bedarf nicht mehr länger befriedigen können oder wollen (gewissermaßen gehandicapt durch die wissenschaftlich verbürgte Einsicht in die unhintergehbare Ungewissheit in der modernen Welt), dann wird diese Aufgabe von anderen Institutionen übernommen werden – was ja auch längst im großen Stil geschieht.
Der permanent wachsende Markt an esoterischer Literatur, astrologischen Zeitschriften und pseudotherapeutischen Ratgebern ist in geradezu hemmungsloser Weise bereit, den Bedarf an Gewissheiten in einer von Ungewissheit geprägten Welt zu stillen. Hier werden für jede Lebenslage und jedes Lebensereignis nicht nur Ratschläge erteilt und Lösungen vorgegeben, hier werden auch bis ins Detail Tipps unterbreitet, was im einzelnen zu tun ist, um ein glücklicher und erfolgreicher Mensch zu werden, was zumeist als identisch angesehen wird.

Glaubensmix und Glauben­s­orte – Raum und Religion

Dass die Kirche gegenüber diesen Angeboten überhaupt weiterhin bestehen kann, hat einerseits sicher damit zu tun, dass die Wahrnehmung dieser Angebote und die Kirchenzugehörigkeit vom einzelnen gar nicht als Widerspruch empfunden werden. Die Zusammensetzung eines religiösen Glaubens aus den verschiedensten Versatzstücken unterschiedlicher Religionen zu wahren Patchworkreligionen scheint als Folge des Individualisierungsprozesses durchaus gang und gäbe zu sein. Insofern lässt sich schwer beurteilen,  ob „die“ Menschen Religion brauchen (vgl. Joas 2004). Vielmehr lässt sich beobachten, dass es offenbar einen nicht unerheblichen Bedarf an Deutungsangeboten und Sinnstiftungen gibt, der unter anderem von den vorhandenen Religionen zu befriedigen versucht wird. Wenn dies nicht mehr in überzeugender Weise gelingt, so erleben wir das Aufkommen neuer Religionen und Religionsformen, die zum Teil eine Mischung aus den etablierten Religionen darstellen oder aber in Form von subreligiösen Unternehmungen auftreten.
Das angesichts dieser durchaus angespannten Konkurrenzlage dennoch komfortable Dasein der institutionalisierten Religionen resultiert vor allem aus ihrer organisatorischen Struktur als Kirchen, die ihr eine sowohl zeitliche als auch räumliche Kontinuität verschafft. Gegenüber den subreligiösen Formen haben die Kirchen den unschätzbaren Vorteil räumlicher Manifestationen. Gerade weil sie unabhängig vom jeweiligen Zulauf über eine kaum geringer werdende Präsenz an „Gotteshäusern“ verfügt, verschafft sie sich eine für jedermann sichtbare Stabilität. Den Kirchengebäuden ist von Außen nicht anzusehen, ob sie regelmäßig von vielen Kirchgängern frequentiert werden oder ob sie die meiste Zeit über leer stehen. Und anders als bei anderen Gebäuden wird ein relativer „Leerstand“ von niemandem als Abrissgrund ins Feld geführt. So gesehen ist es vielleicht doch kein Zufall, dass Raum und Religion gemeinsam wieder auf der Agenda auftauchen. Für die Funktion von Religion ist es keineswegs unerheblich, dass sie über Räume verfügt, die für diejenigen zur Fluchtstätte werden können, die aus anderen Räumen regelmäßig vertrieben werden. Nicht umsonst hält Niklas Luhmann Religion für einen der wenigen Kandidaten, die den Sog von sich aneinander reihenden Exklusionen aufzuhalten vermögen, indem sie vorbehaltlose Inklusion praktizieren (vgl. Luhmann 2000).
All dies spricht für das hartnäckige Überleben religiöser Angebote in einer Welt, die daneben über eine Fülle anderer Angebote verfügt, gegen die sie sich behaupten muss. Für die Rückkehr der Religion im Sinne einer generellen Bedeutungszunahme spricht es nicht.
 
 
1  Allerdings verfügen kirchlich gebundene Institutionen als Arbeitgeber mit der Kirchenzugehörigkeit über ein Selektionsmittel bei der  Auswahl der Bewerber um eine Stelle, das viele Arbeitsuchende vor dem Kirchenaustritt zurückschrecken lässt.   
2  Bedenkt man die enge Verbindung von Moderne und Säkularisierung, beschert uns ausgerechnet Habermas mit seiner These von der postsäkularen Gesellschaft im Grunde eine neue Variante der Postmoderne – Diskussion.

Literatur  

Beck, Ulrich 1993: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/Main
Berger, Peter L. 1991: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Freiburg
Habermas, Jürgen 2001: Glaube und Wissen, Frankfurt/Main
Joas, Hans 2004: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg
Krech, Volkhard 2003: Götterdämmerung. Auf der Suche nach Religion, Bielefeld
Luckmann, Thomas 1991 [1967]: Die unsichtbare Religion, Frankfurt/Main
Luhmann, Niklas 2000: Religion der Gesellschaft, Frankfurt/Main
Schroer, Markus 2006: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/Main

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