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Der Tod und der Schutz des Lebens und der Menschen­würde

vorgängevorgänge 13806/1997Seite 56-60

Verfassungsrechtliche Überlegungen zur Wahl des Todeszeitpunktes

Aus: vorgänge Nr. 138 (Heft 2/1997), S. 56-60

Der Tod hat, wie nicht verwunderlich, den Menschen geistig umgetrieben, seit er kulturell prähistorisch faßbar ist. Nicht nur der Tod des Menschen, auch der des Tieres ging ihm nahe, dem er als Spender seiner Existenzgrundlagen (Nahrung, Kleidung, Schmuck) und vielleicht auch in des wahren Wortsinns Bedeutung natürlich verbunden war.[1] Seit dem Moustérien (80.000 bis 50.000 v.u.Z.) sind rituelle Bestattungen von Menschen und Tieren bekannt.[2] Totenkulte entstanden in überschwenglichen Ausmaßen (natürlich vor allem für die Oberschicht): von altägyptischen Pyramiden und Kammergräbern über Grabmonumente der Renaissance und des Barock bis zu trivialen Friedhöfen unserer Zeit. Die Toten wurden verehrt oder gefürchtet (und dann im Grab gefesselt oder durch Opfer besänftigt). Jenseitsvorstellungen entwickelten die Menschen, denen der Gedanke unerträglich war, daß der physische Tod definitiv ihr Ende bedeute. Daher mußten Reste des Körpers bewahrt werden: Schädel bei den Völkern Neu-Guineas, Mumien im alten Ägypten. Für wichtig gehaltene Organe wurden gelegentlich besonders konserviert, Herzen etwa (als vermeintlicher Sitz der Seele) im frühneuzeitlichen und barocken Europa. Niemals aber war zweifelhaft, wann der Mensch tot war. Die Zäsur schien eindeutig.

Wiederholt zitiert wird in jüngster Zeit die Feststellung des Juristen Friedrich Carl von Savigny (1779-1861): „Der Tod, als die Grenze der natürlichen Rechtsfähigkeit, ist ein so einfaches Naturereignis, daß derselbe nicht, so wie die Geburt, eine genauere Feststellung seiner Elemente nöthig macht.“[3] Aber auch der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860), der als Student auch medizinische Vorlesungen gehört hatte, meinte: „Der Tod ist so natürlich, wie das Leben; und dann wollen wir weiter sehen.“[4] Im später zu erörternden Zusammenhang wichtiger aber ist Schopenhauers Überlegung, was den Tod so furchtbar mache, sei die Zerstörung des Organismus. „Diese Zerstörung fühlen wir aber wirklich nur in den Übeln der Krankheit oder des Alters; hingegen der Tod selbst besteht für das Subjekt bloß in dem Augenblick, da das Bewußtsein schwindet, indem die Tätigkeit des Gehirns stockt. Die hierauf folgende Verbreitung der Stockung auf alle übrigen Teile des Organismus ist eigentlich schon eine Begebenheit nach dem Tode. Der Tod in subjektiver Hinsicht betrifft also allein das Bewußtsein.“[5] Das ist eine erstaunliche Vorwegnahme des modernen Hirntodkonzeptes aus philosophischer Sicht. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit es unter den Bedingungen unserer Medizintechnik tragfähig ist.

Die Verfügung des Menschen über das eigene Leben erfolgt – vom gesundheitlichen Raubbau abgesehen – vor allem in drei Formen: durch Selbsttötung, durch Bitte um Sterbehilfe und letztlich vielleicht auch durch Einwilligung in eine umfassende Organspende nach Eintritt des Hirntodes.

Selbsttötung

Das Grundgesetz (GG) verbietet die Selbsttötung nicht.[6] Die Beendigung des eigenen Lebens als Akt freien Willens stellt jedenfalls keinen Verstoß gegen die Menschenwürde dar (Art. 1 Abs. 1 GG), sondern findet darin seine verfassungsrechtliche Grundlage.[7] Der „objektive Wertgehalt“ der Grundrechte darf nicht gegen die subjektive Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers gerichtet werden.[8] Richtigerweise ist davon auszugehen, daß es keine verfassungsrechtliche Pflicht des Menschen gibt, gegen den eigenen Willen weiterzuleben.[9] Vielmehr gebietet die Achtung der menschlichen Würde und Selbstbestimmung, einen wohlerwogenen Entschluß des Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen, zu respektieren.[10]

Es kann daher nur darum gehen, ob es einem Dritten erlaubt ist, unter bestimmten Voraussetzungen dem Menschen, der nicht (mehr) in der Lage ist, diesen Entschluß allein in die Tat umzusetzen, Hilfe zu leisten (was derzeit § 216 StGB verbietet, falls er verfassungsgemäß ist) und wann der Staat zum Schutz des Lebensmüden eingreifen darf oder muß: wenn ernstliche Zweifel bestehen, daß eine selbstverantwortliche Entscheidung vorliegt oder wenn Dritte gefährdet sind. In beiden Fällen bejaht die herrschende Meinung die Pflicht zu hoheitlichem Eingriff, im letztgenannten Fall sicher zu Recht.

Sterbehilfe

Art. 1 Abs.1 GG schützt auch das Recht, in Würde zu sterben.[11] Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod ist jedenfalls insoweit grundrechtlich gewährleistet, als es keinen legitimen Grund gibt, der es rechtfertigen könnte, einen Menschen gegen seinen ausdrücklichen Willen durch medizinische Maßnahmen am Leben zu halten. Richtiger Ansicht nach ist ein entsprechender Wunsch des Patienten, auch wenn er in einer antizipierten Patientenverfügung niedergelegt ist, zu respektieren.[12] Der Staat darf daher zumindest das Recht auf passive Sterbehilfe nicht beeinträchtigen, sofern von der freien selbstverantwortlichen Entscheidungsfähigkeit des Sterbenden zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Erklärung auszugehen ist.[13] Das ist der Fall, wenn keine gegenteiligen Tatsachen bekannt sind. Da dieses Selbstbestimmungsrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG folgt, kann in es auch nicht aufgrund des Gesetzesvorbehaltes in Art. 2 Abs.2 Satz 3 GG eingegriffen werden.

Unter passiver Sterbehilfe versteht man den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen oder die Einstellung einer lebensverlängernden Therapie. Um dem Sterbenden diese Entscheidung zu ermöglichen, hat er Anspruch auf ärztliche Aufklärung. Denn die Entscheidung über einen ärztlichen Eingriff steht grundsätzlich dem betroffenen Patienten zu.[14]

Aus dem durch Art.1 Abs.1 GG gewährleisteten Anspruch auf einen menschenwürdigen Tod kann auch ein Recht auf aktive Sterbehilfe hergeleitet werden, wenn ein Kranker sie bei vollem Bewußtsein verlangt[15] und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit sie rechtfertigt, wenn der bevorstehende Tod also gewiß ist und die Sterbehilfe dazu dient, das Leiden und die Agonie abzukürzen. Nach geltendem deutschen Strafrecht ist sie allerdings verboten, von extremen Ausnahmefällen abgesehen.[16] Der Gesetzgeber könnte aufgrund des Gesetzesvorbehaltes des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG diese Art der Sterbehilfe legalisieren, doch ist damit in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. In Australien ist ein derartiger Versuch soeben gescheitert. Der Senat hat ein Gesetz des Nordterritoriums, das aktive Sterbehilfe erlaubte, aufgehoben.

Hirntod

War dem Juristen von Savigny vor 150 Jahren der Todeszeitpunkt noch kein Problem, so ist er heute heftig umstritten. Die Intensivmedizin hat Methoden der Behandlung lebensbedrohlich Erkrankter entwickelt, die die Wiederherstellung der Funktionen lebenswichtiger Organsysteme erlaubt, um ein weiteres Leben unter tragbaren Bedingungen zu gewährleisten. Sie scheinen die Grenze zwischen Leben und Tod zu verwischen, ja die Grenzüberschreitung reversibel zu machen: Herzdruckmassage und Atemspende können heute zur Reanimation führen, lebensverlängernde Maßnahmen den Tod hinauszögern, auch bei infauster (aussichtsloser) Prognose.

Seit der ersten erfolgreichen Herztransplantation 1967 in Südafrika stellte sich das Problem neu, für welchen Zeitpunkt der Tod eines Menschen festgestellt werden kann und ihm – möglicherweise ohne seine Einwilligung – Organe zum Zweck der Transplantation entnommen werden dürfen. Das ist keine rein medizinische Entscheidung, sondern nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“) eine vor allem auch verfassungsrechtliche, von ethischen, religiösen und weltanschaulichen Aspekten abgesehen, die nicht vernachlässigt werden dürfen, aber die Diskussion nicht emotionalisieren sollten. Nur dieser verfassungsrechtlichen Frage soll hier nachgegangen werden: Wann endet der Schutz des Grundrechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit?

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat wiederholt betont, die Achtung vor diesem Grundrecht gebiete ganz allgemein, bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Eingriffen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Es genüge nicht, daß der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruhe, denn auch dieses Gesetz müsse im Lichte der Bedeutung des Grundrechtes gesehen werden.[17] Im übrigen war das BVerfG mit Fragen des Lebensschutzes vor allem im Zusammenhang mit Vorschriften zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs befaßt. Es hat unmißverständlich festgestellt, das Grundgesetz verpflichte den Staat, menschliches Leben zu schützen. Zum menschlichen Leben gehöre auch das ungeborene, zumindest ab dem Zeitpunkt der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter (Nidation).[18] Daraus läßt sich allerdings nicht notwendig ein Grundsatz „In dubio pro vita“ (im Zweifel für das Leben) herleiten, wie versucht wurde.[19] Man wird aber damit rechnen müssen, daß das BVerfG gesetzliche Regelungen mißbilligen wird, die die Entnahme von Organen vor Eintritt des Herz-Kreislaufstillstandes unabhängig von der Einwilligung des Betroffenen oder seiner Angehörigen erlauben, weil es sich dann von dem von ihm postulierten weitreichenden postmortalen Persönlichkeitsschutz lösen müßte,[20] womit nicht ohne weiteres zu rechnen ist. Mit Sicherheit würde eine Abwägung zwischen den Interessen des Sterbenden und denen potentieller Organempfänger nicht zugunsten letzterer ausfallen, wie die Interessenabwägung Mutter-Leibesfrucht durch das BVerfG zeigt.

Wie also ist verfassungsrechtlich der Hirntod zu bewerten? Seine Kriterien wurden erstmals 1968 von einer Kommission der Harvard Medical School entwickelt, sie werden vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer (Stand 29.6.1991) definiert „als Zustand des irreversiblen Erloschenseins der (integrativen) Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung noch aufrechterhaltenen Herz-Kreislauffunktion“.[21] Der irreversible Ausfall der Hirnfunktionen muß dabei kritisch von voneinander unabhängigen Ärzten festgestellt werden, die auch nicht an der Organtransplantation beteiligt sein dürfen.

Die moderne Medizin hat Schopenhauers eher diffuse Feststellung bestätigt: Der Tod der Persönlichkeit, der Individualität des Menschen ist der Tod seines Gehirns. Andererseits werden für die Organtransplantation die körperlichen Funktionen Atem und Kreislauf künstlich aufrechterhalten, so daß man diese Menschen als sterbende und somit noch nicht tote wird ansehen müssen, die vom Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützt sind.

Da nach der hier vertretenen Ansicht jedoch dem infaust Kranken, dem Sterbenden, das Recht auf einen menschenwürdigen Tod zusteht und er selbst über das Ende seines Lebens befinden kann, muß eine (auch in einem antizipierten Patiententestament enthaltene) Verfügung, im Falle seines Hirntodes seine Organe zu spenden, beachtet werden. Auch ein Zeugnis nächster Angehöriger, daß die sterbende Person sich in diesem Sinne geäußert habe, sollte genügen.[22] Dagegen wäre eine Vermutung der Einwilligung mangels Widerspruchs mit deutschem Verfassungsrecht wohl nicht vereinbar.

1 Vgl. Nitschke, Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen, Band 1.

2 Giedion, Ewige Gegenwart – Die Entstehung der Kunst, 1964, S. 76, 139, 206.

3 System des heutigen Römischen Rechts, 2. Band (1840), S. 17.

4 Handschriftlicher Nachlaß, zit. nach Frauenstädt, Schopenhauer-Lexikon (1871) Band 2 S. 381.

5 Die Welt als Wille und Vorstellung Band II, zit. nach Frhr. von Löhneysen (Hrsg.), Sämtliche Werke, Band II, S. 597f.

6 Lorenz in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, § 128 RdNr. 62.

7 Dreier (siehe den Literarischen Maulwurf in diesem Heft), RdNr. 93 zu Art. 1 Abs. 1 GG; Sachs/ Murswiek, RdNr. 211 zu Art. 2 GG.

8 Sachs/Murswiek, aaO (Fn. 7); streitig, zweifelnd z.B. v. Münch/Kunig, 4. Aufl., RdNr. 50 zu Art. 2 GG m.w.N.; Jarass/Pieroth, 3. Aufl., RdNrn. 24, 53 zu Art. 2 GG.

9 Lorenz aaO (Fn. 6).

10 Vgl. BK/Zippelius, RdNr. 75 zu Art. 1 Abs. 1 u. 2 GG ohne eigene Stellungnahme.

11 Dreier (Fn. 7), RdNr. 93 zu Art. 1 Abs. 1 GG.

12 Sachs/Murswiek (Fn. 8), RdNr. 212 zu Art. 2 GG; aus ärztlicher Sicht streitig.

13 Dreier/Schulze-Fielitz, aaO (Fn. 7), RdNr. 43 zu Art. 2 Abs. 2 GG.

14 BVerfGE 89, 120, 130; 52; 131, 178 – abweichendes Votum der Bundesverfassungsrichter Hirsch, Niebler und Steinberger – beide Entscheidungen sind nicht zur Sterbehilfe ergangen.

15 Jarass/Pieroth, aaO (Fn. 8), RdNr. 56 zu Art. 2 GG.

16 Aus strafrechtlicher Sicht: Otto, Gutachten für den 56. DJT 1986, D 56ff.

17 BVerfGE 17, 108, 117.

18BVerfGE 88, 203, 251.

19 So Höfling, MedR 1996, 6, 8 und Höfling/Rixen, Verfassungsfragen der Transplantationsmedizin, Tübingen 1996.

20 BVerfGE 30, 173, 196 – „Mephisto“.

21 Schlake/Roosen, Der Hirntod als der Tod des Menschen, 1995 (Klammerzusatz von den Verfassern), S. 13.

22 Vgl. Jung, Die französische Rechtslage auf dem Gebiet der Transplantationsmedizin, MedR 1996, 355, 361.

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