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Der Mensch und das Tier oder die Mißachtung des Lebens

Aus: vorgänge Nr. 138 (Heft 2/1997), S. 84-89

Kaum eine Aufforderung hat der Mensch so gründlich und so verhängnisvoll befolgt wie diese alttestamentarische, von Priestern oder Schriftgelehrten eines eben erst seßhaft gewordenen Nomadenvolkes aufgeschriebene und Gott dem Schöpfer in den Mund gelegte: „Machet Euch die Erde untertan“. Nicht nur die israelitischen Priester legitimierten diesen totalen Herrschaftsanspruch mit der Tatsache, daß der Mensch denken konnte, Verstand, ja offenbar Vernunft besaß, also Bewußtsein, die höchste Stufe des Seins, wie später die Philosophen annehmen sollten. Die Selbsteinschätzung als höchstentwickeltes Wesen dürfte sich früh, schon mit Beginn des erwachenden Bewußtseins, entwickelt haben. Sie enthält bereits das erste anthropozentrische Werturteil: Die Natur kennt nur Unterschiede in der Komplexität. Der Mensch ist das komplexeste Lebewesen. Die unter dem Druck der evolutiven Selektionsbedingungen stetig zunehmende Komplexität beispielsweise seines Gehirns schlug irgendwann bei einem der Vormenschen endgültig von Quantität (Zahl der Neuronen und Synapsen, der Nervenverbindungen) in Qualität um: Bewußtsein (wobei nach Konrad Lorenz eine „Fulguration“ angenommen werden muß: wenn zwei Eigenschaften aufeinandertreffen, erzeugen sie eine dritte, die ihnen nicht angelegt, jedenfalls nicht zu vermuten war).

Die am komplexesten organisierte Art aber ernannte sich zur qualitativen besten, zur „Krone der Schöpfung“, gar zum Ziel und Zweck der Evolution: Nichts trug mehr dazu bei, das Wesen und die Wirkungsweise der Evolution stärker zu verkennen und gründlicher mißzuverstehen, denn die Natur und ihre Evolution wirken eben nicht teleologisch, auf einen Endzweck hin, homo sapiens genannt. Um es anthropozentrisch, aber diesmal korrekt zu formulieren: Ihr sind alle Arten gleich wichtig und gleich wertvoll. Vor allem aber sind alle Arten Teil des vom menschlichen Hirn kaum zu begreifenden komplexen Netzes der Natur. Angenommen, der Ozonschild in der Stratosphäre würde weiter durch menschliches Einwirken so stark abgebaut, daß die ultraviolette Strahlung die Augen der Insekten verätzte und viele der Arten darüber hinaus dadurch unfruchtbar machte: Alle insektenfressenden Vogelarten gingen in kürzester Zeit ebenfalls ein. Da aber Insekten wieder Bakterien entweder vertilgen oder ihnen Lebensbedingungen verschaffen, tragen sie entscheidend zum Wachstum der Pflanzen, ja zur Existenz vieler Pflanzenarten bei (die im übrigen durch ultraviolette Strahlung direkt betroffen werden können, etwa indem sich ihr Wachstum verlangsamt, was tatsächlich geschieht). Ein riesiger Teil des Netzes der Natur würde wie mit gerissenen Laufmaschen zerstört, die Existenz letztlich des Menschen mit unabsehbaren Folgen betroffen.

An klassischen Caesarenwahn schließlich erinnert die Selbstqualifikation des Menschen als „Ebenbild Gottes“. Dabei hat sich mannigfache Ernüchterung eingestellt. Evolutionstheoretiker und -biologen sowie Hirnphysiologen staunen zwar über die ungeheure Komplexität des menschlichen Gehirns aber sie erkennen auch seine Defizite: Die Nervenverbindungen zwischen Stamm- und Kleinhirn, dem Limbischen System und dem Neocortex, dem Sitz des Denkvermögens und offenbar auch des Bewußtseins, sind zu schwach, so daß, mit anderen Worten, das Denken und auch das Handeln keineswegs immer von Rationalität und Vernunft gesteuert werden. Die archaischen, unbewußt bleibenden, auch in der Emotion nicht immer sichtbar werdenden Antriebsimpulse, die wir mit dem Tier gemeinsam haben – das Hirn eines Krokodils entspricht in der Struktur etwa dem menschlichen Stammhirn – brechen sich zu häufig Bahn, vom Denken oft im nachhinein als vernünftig legitimiert (was wiederum dazu führt, daß der Begriff der Vernunft kaum objektiviert und definierbar wird, sondern bestenfalls ein „historischer“ Begriff bleibt). Das hirnphysiologe Defizit birgt nicht nur eine nüchterne biologisch-medizinische Erkenntnis, sondern auch einen zutiefst theologischen und philosophischen Gedanken: Die Evolution des Menschen ist längst noch nicht abgeschlossen, der „sechste Tag“ der biblischen Schöpfungsgeschichte hält unvermindert an. Allerdings, betonen die Evolutionstheoretiker, versucht sich nicht mehr Gott am Menschen, sondern der Mensch bestimmt selbst die Bedingungen – und wahrscheinlich auch das Tempo – seiner eigenen Evolution; er hat sich aus der Evolution der Natur ausgeklinkt, seine Evolution wird weitgehend von der seiner Zivilisation, also von der kulturellen Evolution, bestimmt. Das Ergebnis ist nicht absehbar. Dabei ist wiederum an vielfache Skepsis zu erinnern, was die Selbsteinschätzung des Menschen betrifft: Die prinzipielle, nie mehr aus der Welt zu schaffende Fähigkeit, den Planeten „mit einem Schlag“ durch Atomwaffen zu zerstören oder durch Fortsetzung einer lebensgefährdenden Wirtschaftsweise allmählich in ein menschenfeindliches Raumschiff zu verwandeln, tragen neben der schier grenzenlosen Aggressivität des homo sapiens und der von ihm geschaffenen Sozietäten nicht eben dazu bei, die Evolution des Menschen durch den Menschen euphorisch als Weg zu einer Ebenbildlichkeit Gottes – als Metapher für Vollendung verstanden – zu bewerten.

Dabei ist ein Phänomen zu beobachten: Solange der Mensch sich die Welt und die Natur mit Kosmogonien erklären mußte, konnte er sich einen gewissen Respekt vor ihnen bewahren. Naturzerstörungen, einschließlich der Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, geschahen aus Unkenntnis der biologischen, chemischen, meteorologischen oder physikalischen Zusammenhänge. Und der Umgang mit dem Tier mag zwar ebenfalls brutal gewesen sein, aber er entpersönlichte es nicht zu einer bloßen abstrakten Ressource, wie sie beispielsweise in dem Terminus „Fleischproduktion“ zum Ausdruck kommt. Je stärker andererseits die Wissenschaft die Geheimnisse des Lebens und der Natur entschleiert, dabei aber deren mirakulöse, synergetische, schier grenzenlose Komplexheit im Makro- wie im Mikrokosmos wenn nicht begreifbar, so doch ahnbar werden läßt, desto geringer werden gleichzeitig ihre Faszination für den Menschen. Das Wissen über die Wunder der Welt scheint sich atomisiert als Expertenwissen aufzuteilen, es ist nicht Gegenstand einer breiteren Kommunikation etwa unter Intellektuellen oder Bildungseliten, die es gar nicht mehr gibt. Die Vermittlung naturwissenschaftlicher Kenntnisse geschieht heute ja auch nicht unter dem Aspekt, Ehrfurcht vor dem Leben oder der Natur insgesamt zu wecken, sondern um sie in Techniken und Verfahren umzusetzen, die Natur zum Zwecke ökonomischer Ausbeutung und einer gesteigerten, gleichzeitig effizienteren Produktion in eine Ressource zu verwandeln (Fleischproduktion, Gentechnik). Daher tritt das fatale Paradox auf, daß der Kenntnisstand des modernen Menschen über die Wunderhaftigkeit der Welt einschließlich des Lebens nicht nennenswert höher ist als in früheren Zeiten, daß aber das Wissen darum, diese Wunderhaftigkeit lasse sich von Experten erklären und zum großen Teil durch Zahlen, Daten, Fakten ausdrücken, den Schleier des Geheimnisvollen zerstört, der den Menschen früher zu einer etwas demütigeren und bescheideneren Selbsteinschätzung veranlaßte. Analytisches, zergliederndes Denken ist gefragt, nicht synthetisches, auch wenn ein Großteil der heutigen Philosophie in Übereinstimmung mit der dem Umweltschutz verpflichteten Naturwissenschaft synthetisches Denken fordert. Platon und Goethe, längst megaout, lassen grüßen.

Zwei Umstände haben die Jahrtausende währende Lebenspartnerschaft zwischen Tier und Mensch in den heutigen Industrieländern zerstört und das Tier zu einem Rohstoff degradiert: Die Verstädterung – der Begriff Urbanisierung ist wegen seines kulturellen und damit humanitären Assoziationsgehalts fehl am Platze – sowie die Technifizierung und Spezialisierung der Landwirtschaft. Die Distanz zur Natur und ihren Geschöpfen ist gewachsen, die Sphäre der Kultur und der Zivilisation sind dem modernen Menschen „zur zweiten Natur“ geworden, während die erste, die Bio-Sphäre, zum Ressourcenlieferanten gemacht wurde, der Luft und Wasser ebenso preiswert bereitzustellen hat wie Tiere. Nicht einmal Krankheit, Altern und Tod werden, wie Umfragen ergeben haben, in den Städten mit der Bio-Sphäre in Verbindung gebracht, sondern werden als noch nicht gelöste Probleme, als Defizite der Kultur-Sphäre angesehen. Da ist nur folgerichtig, daß der Umweltschutzgedanke nur dann eine relative Wirkung entfalten kann, wenn die Zerstörung der Umwelt als Bedrohung einzelner Funktionen und Sektoren jener „zweiten Natur“ vermittelt wird. Alle anderen Begründungen, ethische Argumente eingeschlossen, zeitigen nur geringe Konsequenzen. Nicht zu vermitteln ist aber bereits die realitätsangemessene Totalität dieser Bedrohung, die sich in dem plastischen Bild ausdrücken läßt, daß sie sich die beiden Sphären auf Kollisionskurs befinden und es dabei keinen Zweifel geben kann, welche diesen Crash überleben wird.

Technifizierung und Spezialisierung der Landwirtschaft ermöglichen eine vollständige Abstrahierung vom Tier als lebendigem Wesen, als Mitgeschöpf. In der KostenNutzen-Rechnung taucht es nur als Rohstoff auf, mit dem ein bestimmter Nutzen zu erzielen ist, übrigens nicht nur als Nahrungsmittel (nachdem es seine Funktionen – Nutzen – als Arbeitskraft, Wächter oder Fortbewegungsmittel längst verloren hat): „Stoffe“ eines Rindes etwa finden sich in rund 200 chemischen Produkten. In den sogenannten Weltreligionen des Christentums und des Islams findet sich kaum ein Wort, das sich des Tieres als eines Mitgeschöpfes annähme. Ein tierliebender Geistlicher wie Franziskus von Assisi hat in dieser Hinsicht keine Tradition begründen können, seine kirchengeschichtliche Wirkung beruht auf seinem Ideal der Askese und der Armut als reformatorische Faktoren. Auch der Philosoph Artur Schopenhauer wird gemeinhin nicht als leidenschaftlicher Anwalt für das Tier antizipiert. Eine seiner Thesen – die durchaus nicht sonderlich originell ist, sondern „franziskanisch“ anmutet – daß das Empfinden von Schmerz das Tier mit dem Menschen verbinde, könnte und müßte auch heute Grundlage für die Beziehung des Menschen zum Tier sein. Sie schlösse Massentierhaltung aus, ließe das Gespür für das Barbarische, Inhumane, Entwürdigende, Skandalöse dieser Art von „Fleischproduktion“ sensibler werden. Eugen Drewermann sieht auf der Linie mit Schopenhauer, im Umgang mit dem Tier auch einen, womöglich den wichtigsten Gradmesser für die Art, wie der Mensch mit seinesgleichen umgeht. Achtung vor dem Leben ist ebensowenig teilbar wie seine Mißachtung.

Dieser Gleichsetzung ist, phänomenologisch betrachtet, kaum zu widersprechen. Wer beispielsweise eine Legebatterie von innen gesehen hat, wird ob der hier praktizierten, ganz konkreten Brutalität entsetzt sein. Als hessischer Sozialminister hatte sich der jetzige SPD-Fraktionschef Armin Claus eine Novellierung des Tierschutzgesetzes auf die Fahnen geschrieben, um unter anderem diese Barbarei abzustellen, an der Millionen von Verbrauchern tagtäglich kenntnis- und gedankenlos – und wohl auch mit bewußt zugedrückten Augen – teilhaben. Auch wer die infernalische Rohheit erlebt hat, unter der Schweine in Massen-,,Produktion“ gehalten werden, beginnt sich vor dem Artgenossen Mensch zu fürchten, sofern ihm ein gewisses Maß an Sensibilität nicht fremd ist.

Drewermanns Gleichsetzung, auch sie keineswegs originell, läßt einerseits Raum für Emotionalität, die unverzichtbar ist, führt aber andererseits von ihr weg, hin zu einer anthropologischen Aussage von ungeheuerem Gewicht. Die Brutalität des Artgenossen Mensch gegenüber dem Artgenossen Mensch wird ja nun täglich erbracht, durch Beispiele aus dem kleinen Alltag bis hin zu den großen Beispielen eines Völkerschlachtens. Diese Gleichsetzung macht die Hypothese einiger Anthropologen und Evolutionstheoretiker plausibler, daß die Tötung des Artgenossen ein wesentliches Moment für die Herausbildung des Denkens, für die Intelligenz- und Bewußtseinsentwicklung gewesen sei. Ein Tier tötet den Gruppengenossen nicht, wenn dieser die artgemäße Demutsgeste zeigt. Es tötet aber auch den gruppenfremden Artgenossen nicht, wenn dieser die Reviergrenzen respektiert. Diese instinktiven Tötungshemmungen fehlen dem Menschen. Es leuchtet somit ein, daß der Vormensch und auch der homo sapiens und dann der homo sapiens sapiens sich selbst gegenüber die größte Bedrohung gewesen sind, also auf sich selbst als Art den stärksten Selektionsdruck ausgeübt haben, dieser Gefahr zu begegnen: Durch Erfindung besserer Waffen und durch Planung der wirksameren Strategie, also List und Schläue. Auch wenn über diese genetische Prädisposition (nicht, wie es von den entsprechenden Sozialisationstheorien immer wieder mißverstanden wird: Determination) letztlich die Sozialisation entscheidet, die individuelle wie die kollektiv-gesellschaftliche: Den Prozeß der Menschwerdung begleitete die Angst, zu einem erheblichen Ausmaß die Angst des Menschen vor Seinesgleichen.

Einem Christen müßten die Haare zu Berge stehen: Der Mensch wurde zum „Ebenbild Gottes“ auch und nicht zuletzt durch seine jederzeit aktivierbare Bereitschaft, den Artgenossen zu töten. Und gewissermaßen probehandelnd konnte er das Töten immer am Tier üben. Ein Tier zu töten und das Töten eines Menschen sind so verschieden nicht, und der zuckende, blutende Leib eines Tieres unterscheidet sich von dem eines Menschen ebenfalls nur wenig.

Leo Tolstoi hat dies an sich selbst erfahren. Augenzeugen berichten, wie er bei der Jagd in Ekstase geriet und sich an den Qualen des verendenen Tieres weidete. Das Sterben eines lebendigen Organismus bereitete ihm Lust. Aber Tolstoi spürte diese Gefahr, die aus seinem Es kam und ihn zu entwurzeln drohte. Daher fanatisierte er buchstäblich sein Über-Ich. Und eines der Ergebnisse dieser Anstrengung, das offenkundig aggressive Böse in sich niederzuhalten, war die unsterbliche „Rede wider den Krieg“ – ein Dokument, auf das sich alle Pazifisten berufen als Ausdruck gelebter Humanität, als Zeugnis für die genuine Friedfertigkeit des Menschen.

Vor diesem Hintergrund wirken zwei Umstände makaber: Einmal der durchaus nicht nur sentimentale Gebrauch – letztlich Mißbrauch – des Tieres als Seelenfreund, Tröster und quasi Liebesobjekt. Umfragen haben ergeben, daß hunderttausende vorwiegend alter und/oder alleinstehender Menschen sich ein Haustier halten, Hund oder Katze, Wellensittich oder Meerschweinchen, weil sie von ihren Artgenossen enttäuscht sind, von denen sie keinerlei Zuwendungen erfahren können, keine Anhänglichkeit, keine Treue, keine Nähe, keine Zuverlässigkeit. Das Tier als Menschenersatz, ohne den die Zahl der Selbstmorde drastisch anstiege! Das enttäuschte emotionale Bedürfnis von Menschen, das sich sich dem Tier zuwendet, mißachtet aber im allgemeinen eine artgerechte Haltung, biegt das Tier vielmehr mit Gewalt auf ein möglichst menschenähnliches Wesen zurecht. In den meisten Fällen muß von Tierquälerei gesprochen werden, wenn diese gleichwohl nicht mit der Barbarei der Massentierhaltung verglichen werden kann.

Aber noch makabrer ist die intensive, ethisch durchaus hochstehende Diskussion angesichts der Möglichkeiten und Gefahren der Gentechnik. Zu Recht werden der auf dieser Technologie beruhenden medizinischen Forschung der „Mißbrauch“ etwa menschlicher Föten untersagt, auch wenn diese nur wenige Tage alt sind und daher keinen Schmerz empfänden. Doch wenn gleichzeitig diese Debatte den Verbrauch von vielen Millionen Tieren, die durchaus Schmerz fühlen, teilweise intensiver als ein Mensch, nicht einbezieht und problematisiert wird der reklamierte ethische Anspruch fragwürdig.

Diese anthropozentrierte Ethik-Debatte hat ja noch nicht einmal bewirkt, daß das Tierschutzgesetz so novelliert wird, um die übelsten Auswüchse der Massentierhaltung und auch des Transportes von Tieren zu mildern. Von einer entsprechenden Initiative im Rahmen der Europäischen Union kann gleichfalls nicht ernsthaft die Rede sein.

Da der Mensch keinen Herrn über sich hat – genauer: Kein noch komplexeres Lebewesen, da ihn beherrschte so wie er das Tier – bleibt nur der Selbstappell der einzigen Art mit Denkvermögen, Bewußtsein und potentieller Vernuftfähigkeit an seine Verantwortung für die Mitgeschöpfe. Auch Verantwortung ist nicht teilbar, etwa in hohe Verantwortung für die eigene Art und geringe Verantwortung für die Mitgeschöpfe. Diese Verantwortung könnte im übrigen keine sentimentale Fürsorge für das Tier sein, sondern müßte realistisch und nüchtern als Versuch gewertet werden, menschliche Barbarei und Brutalität zu überwinden, einen Beitrag für die Menschwerdung zu leisten, die ja noch immer im Gange ist. Es geht darum, den Menschen vor sich selbst zu schützen, indem er sich des Tieres annimmt. So muß er es ja nicht wie Franz von Assisi oder ein Indianer als Geschwister ansehen und vor der Tötung um Verzeihung bitten.

Schlußbeispiel: Der homo sapiens sapiens hat 98,4 Prozent der Gene mit dem Schimpansen gemeinsam. Der genetische Unterschied von 1,4 Prozent entscheidet mithin über die Selbsteinschätzung als „Krone der Schöpfung“ bzw. „Ebenbild Gottes“ oder die Einordnung als Tier. Um Arthur Koestler, den verzweifelten Zweifler am Menschen, zu widerlegen, der den Menschen aufgrund dieses 1,4-Prozent-Unterschiedes als „Irrläufer der Natur“ bezeichnete, muß gefragt werden, was der Schimpanse nicht kann: Er kann zwar Artgenossen töten, aber nur, wenn sie Reviergrenzen überschreiten und damit ein übergeordnetes Prinzip der Evolution verletzten, nämlich die Respektierung von Nahrungsressourcen. Er kann weder Artgenossen sonst noch ein Tier quälen, er kann nicht aus Lust töten; er kann sich seine Nahrungsgrundlage nicht zerstören, er kann nicht andere Arten ausrotten. Den Schimpansen, den Affen, das Tier schützt die Natur durch instinktiven Zwang. Den Menschen hat sie mit 1,4 Prozent genetischen Unterschied in die Freiheit des Bewußtseins gestoßen. In dieser Freiheit wird er umkommen, wenn er diese Freiheit nicht durch eine umfassende Ethik der Verantwortung für die gesamte Schöpfung ersetzt.

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