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Die Seifenblase des „kritischen Dialogs"

Roman Herzogs Thesen zur Menschenrechtspolitik

Aus: vorgänge Nr. 138 (Heft 2/1997), S. 1-7

Der kalte Krieg war gerade beendet, als der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Jahre 1989 in einem vielbeachteten Aufsatz in National Interest die These vertrat, daß mit der Zeit rechte wie linke Tyranneien abgeschüttelt würden und die Welt sich insgesamt zu einem System liberaler Demokratie mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung entwickeln würde, womit das „Ende der Geschichte“ erreicht sei.[1] Dieser Optimismus ist unter den amerikanischen außenpolitischen Vordenkern mittlerweile einem realpolitischen Relativismus gewichen, der den Kampf der Systeme abgelöst sieht durch den Kampf der Kulturen, den Clash of Civilizations, wie es der Harvard-Professor Samuel Huntington eingängig in einem 1993 erschienenen, Furore machenden Aufsatz in Foreign Affairs formulierte.[2] Was der Paradigmenwechsel von Fukuyama zu Huntington zumindest deutlich werden läßt, ist die Tatsache, daß die Akzeptanz des westlichen Gesellschaftssystems im Rest der Welt alles andere als gesichert gelten darf. Der Gegensatz zwischen den traditionellen westlichen Kulturstaaten und der übrigen Welt läßt sich aber – und das scheint das Neuartige – nicht mehr an unterschiedlichen Wirtschaftssystemen festmachen. Die Tendenz läuft hier wohl deutlich in Richtung eines nach kapitalistischen Gesetzen funktionierenden einheitlichen Weltmarktes. Anders als im ökonomischen Bereich ist die Globalisierung im Bereich der angeblichen „westlichen“ Werte, die sich vor allem in dem Vertrauen auf einen mehr oder weniger gefestigten Kanon universaler Menschenrechte manifestieren sollen, nicht wesentlich vorangeschritten. Islamischer Fundamentalismus und Autoritarismus in den ökonomisch aufstrebenden Staaten Ostasiens, allen voran China, scheinen es vor allem, die die weitere Proliferation der Menschenrechte behindern. Die westlichen Demokratien sehen sich zunehmend vor die Frage gestellt, ob sie die von allen Seiten gewünschte wirtschaftliche Kooperation von Vorbedingungen im Bereich der Verwirklichung der Menschenrechte abhängig machen sollten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß die Menschenrechtsdebatte überall neu entflammt ist, wobei sich die Diskussion grob gesagt zwischen den Positionen Universalismus/Relativismus und Idealismus/Pragmatismus bewegt.

Pragma­tismus statt Gesin­nungs­ethik?

In Deutschland hat sich in diese Debatte, die auf der anderen Seite des Atlantiks – ganz besonders im Hinblick auf die China-Politik der USA – unter ähnlichen Vorzeichen geführt wird, im letzten Herbst auch Bundespräsident Roman Herzog mit einem Beitrag in der „Zeit“ eingeschaltet.[3] Herzogs Ausführungen sind nicht nur deshalb von Interesse, weil hinter ihnen die Autorität des durch sein Amt zur Neutralität verpflichteten Bundespräsidenten steht, sondern auch, weil sich an ihnen die Problematik bundesdeutscher Menschenrechtspolitik exemplarisch diskutieren läßt. Nach eigenem Bekunden geht es Herzog darum, die Diskussion aus der Sackgasse eines starren „Schulenstreites“ auf eine pragmatische Ebene zu führen. Ausgangspunkt ist für ihn die Feststellung, daß der Menschenrechtsgedanke Universalität beanspruchen könne. Das Pochen auf die Einhaltung dieser Rechte könne schon deshalb nicht mehr als Verletzung nationaler Souveränität angesehen werden, weil die wichtigsten Menschenrechte in internationalen Verträgen niedergelegt worden seien, denen die meisten Staaten aus eigenem Entschluß beigetreten seien. Herzog geht es aber um die Frage des „Wie“ der Durchsetzung der Menschenrechte. Bei „absoluter Unbeirrtheit in der Zielrichtung“, so der Bundespräsident, könne es nicht darauf ankommen, lediglich Bekennermut zu zeigen. Was gefragt sei, sei nicht ein unpolitischer Moralismus, mit dem viele Universalisten nur eine absolut kompromißlose Haltung gelten ließen. Vielmehr müsse pragmatisch bestimmt werden, welches Mittel jeweils das geeignete sei, das gesteckte Ziel zu erreichen. Das führt Herzog dazu, bei Regimen, die wirksam isoliert werden können, eine andere Strategie vorzuschlagen, als bei einem „Staat von mehreren hundert Millionen Menschen“, womit ganz offensichtlich China gemeint ist.

Zunächst sieht Herzog bei der Menschenrechtspolitik zwei Differenzierungen angebracht. Eine betrifft die Qualität der Menschenrechte, die er in Fundamentalrechte, demokratische, ökonomische und Gewissensrechte unterteilt. Die andere betrifft die Struktur der menschenrechtsverletzenden Staaten: auf dem Weg zur Demokratie befindliche einerseits, Menschenrechte grundsätzlich negierende Staaten andererseits. Bei den Fundamentalrechten, nämlich Recht auf Leben, Schutz vor Sklaverei, Folter und willkürlicher Freiheitsentziehung sowie Verbot der Diskriminierung aus rassischen, religiösen und ähnlichen Gründen, handelt es sich nach Auffassung des Bundespräsidenten um universal unbestrittene Rechte, bei denen folglich kein Kompromiß gemacht werden könne. Demgegenüber ist für ihn z.B. die Meinungsfreiheit als Teil der Gedankenfreiheit eher ein weiches Menschenrecht, auf dessen Einhaltung man angesichts der spezifischen Situation eines Landes vorübergehend weniger Nachdruck zu legen bräuchte: „Für hungrige Menschen hat Meinungsfreiheit zwangsläufig geringere Bedeutung als für satte.“ Neben diesem „pragmatischen“ Aspekt erwähnt Herzog aber auch einen – nicht ausdrücklich zu bezeichneten – „werterelativistischen“ Gesichtspunkt. In Ländern, in denen eine mehr kommunitarische Mentalität vorherrschend sei, die also weniger Wert auf individuelle Freiheiten legten als auf soziale Bindungen, müsse der internationale Menschenrechtsdialog diesen Umstand berücksichtigen.

Wohlstand und Menschen­rechte

Diese Argumentation begegnet einer Reihe grundsätzlicher Bedenken. Zunächst weicht Herzog von seiner eigenen Prämisse ab, denn auch die Meinungsfreiheit ist ein im Rahmen universeller Konventionen garantiertes Recht. Sicherlich, man könnte gleichwohl Prioritäten dahingehend aufstellen, welche Menschenrechte zuallererst durchgesetzt werden sollten. Wenn der Bundespräsident das geringere Insistieren auf die Meinungsfreiheit aber damit begründet, daß die Befriedigung der Grundbedürfnisse für eine Reihe von Staaten absoluten Vorrang vor dem individuellen Recht der Meinungsfreiheit habe, so ist bereits die damit implizierte Gegenüberstellung eine Scheinalternative. Damit wird das Argument mancher Entwicklungsländer, daß es der Einschränkung der Meinungsfreiheit bedürfe, um eine Entwicklung zum Wohlstand für alle zu ermöglichen, voreilig akzeptiert. Warum soll es aber etwa für die weitere wirtschaftliche Entwicklung Chinas nützlich sein, daß Entscheidungen weitgehend einer Clique von alten Männern überlassen bleiben, anstatt einen kritischen Dialog zwischen allen Teilen der Gesellschaft zu ermöglichen? Eine solche Öffnung muß ja – und nur insoweit mag man dem Bundespräsidenten Recht geben – nicht gleich zur Kopierung des westlichen politischen Systems führen. Untersuchungen belegen darüber hinaus, daß das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Menschenrechtsverwirklichung ein dialektisches ist und keine Einbahnstraße. Zwar läßt sich statistisch eine gewisse Tendenz feststellen, daß wirtschaftlich prosperierende Staaten eher zur Respektierung der Menschenrechte neigen; es besteht in dieser Hinsicht aber alles andere als ein Automatismus. Selbst wenn man sich indes der deterministischen Illusion hingibt, daß zunehmender Wohlstand in moralischen Fortschritt umschlage, könnte man bei dieser Feststellung kaum stehenbleiben. Man müßte sich nämlich gleichzeitig mit der Frage auseinandersetzen, ob es möglich ist, weltweit ein als Voraussetzung für die Verwirklichung der Menschenrechte wohl notwendiges Wohlstandsniveau vergleichbar dem in den westlichen Industriestaaten zu erzielen. Diese Utopie sollte uns spätestens seit dem Bericht des Club of Rome abhanden gekommen sein, auch wenn sich dessen Voraussagen glücklicherweise nicht gänzlich erfüllt haben. Menschenrechtspolitik, die ihren Namen verdient, kann sich daher nicht in bloßer Wirtschaftskooperation und Förderung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen erschöpfen. Wer sich darauf beschränkte, müßte im übrigen die Afrikaner, deren Kontinent trotz jahrzehntelanger bi- und multilateraler Entwicklungspolitik wirtschaftlich weiter zurückgefallen ist, in Sachen Gewährleistung der Menschenrechte auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertrösten.

Kultur­par­ti­ku­la­rismus als Alibi

Außerdem wird das demokratische (und damit auch kommunitarische) Element der Meinungsfreiheit vom Bundespräsidenten unterschätzt. Gewiß, Herzog räumt ein, daß auch Staaten, die in einer mehr kommunitarischen Tradition stehen, nicht als monolithisch angesehen werden sollten. Auch dort gebe es Menschen, die „zur Gedankenfreiheit fähig“ seien und sie ausüben wollten. Diese Bemerkung, die Herzog auf Staaten wie Birma und Indonesien bezieht, in denen der Ruf der Bevölkerung (und nicht nur Einzelner) nach Demokratie seit Jahrzehnten zunehmend brutaler unterdrückt wird, läßt diese Bemerkung Herzogs fast zynisch erscheinen (wobei man einräumen sollte, daß er sich vielleicht etwas mißverständlich ausgedrückt haben mag). In jedem Fall sollte der Kultur der Unterdrücker, wie Richard Herzinger gegen den Bundespräsidenten ganz richtig eingewandt hat[4] , nicht Vorrang vor der Kultur der Unterdrückten gegeben werden. Die These vom kulturellen Partikularismus entpuppt sich nur zu oft als eine wohlfeile Legitimation für Unterdrückung. Wie es der arabische Philosophieprofessor Sadik Al-Azm bemerkt, geht der Kampf um die Menschenrechte nicht zwischen, sondern in den Kulturen vonstatten.[5] In gewissem Maße reflektieren die Menschenrechte daher tatsächlich ein universales Verständnis, allerdings nicht in einer kruden kulturimperialistischen Weise, bei der der Westen dem Rest der Welt seine Werte aufgezwungen hat. Es gibt durchaus kulturelle Eigenarten. Um diese aufzuspüren, sollte man aber genauer hinsehen und sie nicht vorschnell mit der von den Unterdrückern „verordneten Wahrheit“ (Al-Azm) verwechseln.

Auch dort, wo man unterschiedliche kulturelle Ausprägungen am deutlichsten zutage treten sehen mag, bei der Stellung der Geschlechter, ist Vorsicht gegenüber dem Argument des Kulturpartikularismus angebracht. Hat die Gleichstellung der Frau nicht auch in der westlichen Kultur erst in letzter Zeit Fortschritte gemacht? Der Beispielcharakter der „universalen“ Menschenrechte könnte auch hier auf die Dauer Wirkungen zeigen. Und selbst wenn man etwa die islamische Kultur als eine maskuline; Frauen unterdrückende Kultur ansehen sollte, bedeutet dies bereits, daß wir uns aus dieser Auseinandersetzung gänzlich heraushalten sollten? Auch wenn man der algerischen Frauenrechtlerin Khalida Messaoudi nicht ganz beipflichten mag, daß der Schleier heute das für Frauen sei, was einst der gelbe Stern für die Juden war (denn ihnen steht nicht die Ausrottung bevor), so ist der Vergleich zwischen der Verbannung der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben in manchen islamischen Staaten mit dem Status der Juden als „sozial Tote“ in Nazi-Deutschland doch nicht völlig verfehlt. Vielleicht ist gerade die sich als Unterdrückung auswirkende unterschiedliche Kulturauffassung über die Stellung der Frau ein Bereich, in dem ein gewisses Maß westlichen „Kulturimperialismus“ seine Berechtigung hat, weil es sich letzten Endes nur um die Einforderung der Einhaltung des Grundprinzips der Menschenrechte handelt, nämlich der Gleichheit aller Menschen.

Grundsätzlich aber ist Zurückhaltung geboten, wo das Argument von der kulturellen Verschiedenheit zu hören ist. Stärkere soziale Bindungen sollten feinsäuberlich auseinandergehalten werden von der Unterdrückung von Dissidenten oder gar der Mehrheit des Volkes. Wenn Herzog zur Unterstützung von Dissidenten lediglich zu sagen hat, daß niemandem deren Verfolgung gleichgültig sein könne, ist dies außerordentlich vage. Vor allem bleibt unklar, ob deren Schicksal ein Faktor ist, der in die praktische (Außen- bzw. Außenwirtschafts-)Politik einfließen sollte. Aus den Sätzen des Bundespräsidenten läßt sich eher Gegenteiliges schließen, denn er verweist in diesem Zusammenhang etwas ominös auf den besonderen Wert der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, mit deren Hilfe man eine Brücke zur Gedankenfreiheit bauen könne.

„Kritischer Dialog“ oder oppor­tu­nis­ti­sche Hinnahme von Menschen­rechts­ver­let­zun­gen?

Worauf läuft die zweite Differenzierung des Bundespräsidenten hinsichtlich der Struktur der menschenrechtsverletzenden Staaten hinaus? Länder, die sich auf dem Weg zur Demokratie befinden, sollten Herzog zufolge im geduldigen Dialog zur Einhaltung der Menschenrechte animiert werden, was besonders erfolgversprechend sei, wenn diese den Anschluß an internationale Gemeinschaften wie NATO oder EU suchten. Aber auch bei Ländern, die sich bewußt ignorant gegenüber rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien erweisen, spricht sich der Bundespräsident mit Blick auf die Erfahrungen im KSZE-Prozeß gegen den Abbruch des Dialogs aus. Angesichts dieser Aussage fragt es sich aber, wie sich bei diesen Ländern die von Herzog geforderte Kompromißlosigkeit im Eintreten für fundamentale Menschenrechte ausnehmen soll. Der Hinweis auf den KSZE-Prozeß bedarf einer Qualifizierung. Entgegen heutigen, vor allem aus den Reihen der CDU/CSU zu vernehmenden Stimmen, daß die sozialliberale Bundesregierung bei ihrer Ostpolitik die Dissidentenbewegungen in Osteuropa nicht wahrgenommen hätte, war zumindest mit der KSZE ein „do ut des“ – wirtschaftliche Kooperation als Gegenleistung für Zugeständnisse im Menschenrechtsbereich (Korb III) – verbunden. Das sieht heute in der Politik gegenüber Staaten wie China oder Iran ganz anders aus. Oft werden bloße Lippenbekenntnisse als ausreichend angesehen, um den weiteren „kritischen Dialog“ zu rechtfertigen, und nicht selten wird trotz hartnäckiger Weigerung dieser Länder, Menschenrechte überhaupt zu thematisieren, der eingeschlagene Weg vor allem wirtschaftlicher Kooperation unbeirrt weiterbeschritten.

Zunehmend kommt es gar zu einem „Menschenrechtsdialog“ mit umgekehrten Vorzeichen. Staaten, die die Einhaltung der Menschenrechte, zu der sich deren „Dialogpartner“ ja völkerrechtlich verpflichtet haben, ansprechen wollen, wird von jenen recht unmißverständlich bedeutet, daß dieses Thema beim „Dialog“ auszusparen sei, wenn man nicht mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Beziehungen sanktioniert werden wolle. Die Furcht der demokratischen Staaten vor Repressalien wirtschaftsstarker Menschenrechtsverletzer-Regime wächst. Bestes Beispiel aus der jüngsten Zeit sind die Drohungen Chinas gegenüber Dänemark, das sich im Gegensatz zu den größeren EU-Staaten, die um ihre Handelsbeziehungen mit China besorgt waren, nicht scheute, eine Resolution über die Menschenrechtsverletzungen im Reich der Mitte bei der UN-Menschenrechtskommission in Genf einzubringen. Bundespräsident Herzog lehnt gegenüber „nicht zu isolierenden“ Ländern einen absoluten Konfliktkurs ab.

Heißt das aber, daß man sich von Regimen, die sich permanent weigern, selbst fundamentale Menschenrechte und internationale Rechtsnormen zu beachten, alles gefallen lassen muß? Aus Herzogs unklaren und zum Teil wenig systematischen Ausführungen ließe sich zumindest ein Argument gewinnen, daß wenigstens ein partieller Konfliktkurs möglich oder gar notwendig sein kann Ein solcher hätte zwar direkte Wirtschaftssanktionen auszusparen, müßte aber wenigstens ein irgendwie erkennbares Dringen auf die Verbesserung der Menschenrechtssituation beinhalten. Leider äußert sich Herzog nicht darüber, wie ein solcher Kurs in der Praxis aussehen könnte. Das Mindeste, was man der Bundesregierung in puncto Menschenrechte abverlangen können sollte, wenn man mit der Kompromißlosigkeit bei der Durchsetzung fundamentaler Menschenrechte ernst machen wollte, wäre aber, gegenüber dem „Dialogpartner“ unmißverständlich erkennen zu geben, daß die Menschenrechtssituation ein entscheidendes Hindernis für den weiteren Ausbau bilateraler Beziehungen bleibt. Heiner Geißler hat dies in einer Reaktion auf Herzogs Beitrag recht treffend formuliert: „Die Machthaber müssen im ständigen Zustand des schlechten Gewissens gehalten werden.“[6]

Statt dessen läßt sich der deutsche Außenminister wegen der Anmahnung der Menschenrechte von China düpieren. Zwar hat Kinkel die Meinungsverschiedenheiten in Menschenrechtsfragen nach seiner ersten Ausladung wegen der Tibet-Resolution des Deutschen Bundestags bei seinem letzten Besuch im Reich der Mitte angesprochen, allerdings nur in einer „nicht konfrontativen Art“. Ähnlich leisetreterisch verhielt sich der Bundespräsident, ein Verhalten, das durch seinen „Zeit“-Artikel gewissermaßen legitimierend vorbereitet war. Kein Wunder, daß selbst der CDU-Politiker Schwarz-Schilling davon sprach, daß die deutsche China-Politik „ohne Würde“ erscheine. Das Verhalten von Kinkel und Herzog mutete in der Tat eher wie eine Entschuldigung an, daß man das Thema – wegen innenpolitischer Vorgaben – überhaupt auf den Tisch bringen mußte, nicht aber wie pragmatisches Handeln zur Verbesserung der Menschenrechtssituation. Wie kann da der Dialogpartner den Eindruck gewinnen, daß die Menschenrechte seinem Gegenüber wirklich am Herzen liegen? Helmut Kohls Brief an Rafsandschani im November letzten Jahres anläßlich des Mykonos-Prozesses wirkte gar noch würdeloser. Anstatt selbstbewußt die iranischen Angriffe auf das Gericht als unannehmbar zurückzuweisen, versicherte der deutsche Bundeskanzler dem iranischen Staatspräsidenten damals fast entschuldigend, daß die Justiz in Deutschland unabhängig sei. Dialog – oder besser Wirtschaftskontakte – um jeden Preis!

Daß die schillernde, aber hohle Seifenblase des „kritischen Dialogs“ mit dem Iran schließlich zerplatzen mußte, war vorhersehbar. Ernüchternd ist aber, daß dies nicht einer politischen Entscheidung der Bundesregierung zu verdanken ist, sondern dem mutigen Verhalten der Berliner Justiz. Ausschlaggebend für den „Kurswechsel“ waren dabei keineswegs die andauernden schweren Menschenrechtsverletzungen im Iran, sondern der „auf die Spitze getriebenen“ Versuch des Regimes, seine fundamentalistischen Ansprüche ohne Rücksicht auf dem Boden anderer Staaten durchzusetzen. Nicht die Verletzung der Menschenrechte, sondern die der Souveränität des deutschen Staates brachte den ohnehin niemals kritischen, sondern eher beschwichtigenden Dialog vorerst zu Fall. Auch dabei bleibt erstaunlich, wie lang der Iran es mit seinem universalen Totalitätsanspruch treiben konnte, ohne daß ihm die betroffenen Staaten entgegentraten. Weder das Todesurteil gegen Salman Rushdie, noch die Ermordung des früheren iranischen Premiers Bachtiar in Paris, noch andere Mordanschläge in Österreich oder der Schweiz, bei denen außer Frage stand, daß die Strippenzieher in iranischen Regierungskreisen zu suchen waren, bewirkten irgendeine nachhaltige Trübung der Beziehungen zum Iran. Der Öffentlichkeit war es sei vielen Jahren kein Geheimnis, daß die iranische Botschaft in Bonn als logistisches Zentrum für Terroranschläge dient. Wenn der Bundesnachrichtendienst von irgendeinem Wert ist, wird der Bundesregierung dies allemal bekannt gewesen sein. Dennoch mußten erst fünf Richter dem Wissen um diese Verstrickungen ihr Siegel geben, um der offiziellen Appeasement-Politik einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ob die diplomatische Verstimmung zwischen Deutschland (einschließlich seiner europäischen Partner) und dem Iran ein dauerhaftes Umdenken bewirkt, bleibt indes abzuwarten. Zu befürchten ist, daß ähnlich wie nach den Vorfällen auf dem Tiananmen-Platz in Peking nach einer Schamfrist so weiter gemacht (gewirtschaftet) wird wie bisher.

Daß man in den USA ob des allzu offensichtlichen Schiffbruchs der Politik des „kritischen Dialogs“ der Europäischen Union gegenüber dem Iran sich nun bestätigt sieht in der Einschätzung dieses Landes als Pariah-Staat, ist verständlich. Unangebracht ist es aber, wenn selbst kritischere Stimmen der amerikanischen Haltung ein moralischeres Verhalten als den Europäern bescheinigen, weil Iran, Irak, Kuba und Nordkorea von der amerikanischen Politik schon seit Jahren – angeblich wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen – zu isolieren versucht werden. Dabei wird übersehen, daß nicht die Menschenrechtssituation, sondern Wohlverhalten oder Nützlichkeit gegenüber den USA das Kriterium für Tolerierung oder Ächtung darstellt. Der Irak wurde vor dem Kuwait-Konflikt trotz aller Menschenrechtsverletzungen aufgerüstet. China erhält Jahr für Jahr seinen Most Favored Nation-Status, und auch Regime wie Indonesien oder das türkische Militär, ganz zu schweigen von den strategisch unermeßlich wichtigen Saudis, werden von den Amerikanern im Sattel gehalten.

Die Erkenntnis, daß auf der Welt eine große Anzahl von Staaten wegen ihrer Menschenrechtssituation eigentlich eine Isolierung oder Abstrafung verdienten, führt in der konkreten Politik allerdings kaum weiter, denn es ist schier unmöglich, all diese Staaten ins Visier zu nehmen. Ein solcher Versuch würde rasch an den Realitäten einer wirtschaftlich verflochtenen, aber politisch uneinigen und unsolidarischen Welt scheitern. Von daher mag man Herzog durchaus beipflichten, wenn er fordert, daß bei der Durchsetzung der Menschenrechte nicht inflexible und unrealistische Schemata oder Theorien zugrunde gelegt werden sollten. Mit bloßer Gesinnungsethik ist noch keinem geholfen. Allerdings läßt der „Pragmatismus“ Herzogs mehr Fragen offen, als er beantwortet, und es drängt sich der Eindruck auf, daß der pragmatische Akzent seines Ansatzes nicht so sehr auf der Durchsetzung der Menschenrechte, sondern auf der Fortführung der Wirtschaftskontakte trotz Menschenrechtsverletzungen liegt. Wenn man Herzog dennoch guten Willen nicht absprechen will, so wird sein Pragmatismus aber spätestens dann Farbe bekennen müssen, wenn man daran geht, seine Grundsätze auf die praktische Politik anzuwenden. Welche Handlungsanweisungen . ergeben sich beispielsweise für die Politik gegenüber einem Land wie der Türkei? Wie erst kürzlich wieder von Amnesty International[7] und in einer umfassenden Studie von Physicians for Human Rights[8] festgestellt wurde, werden in diesem nach außen als Demokratie auftretenden Land die von Herzog explizit genannten fundamentalen Menschenrechte Folterverbot, körperliche Integrität, Schutz vor willkürlicher Verhaftung und sogar Recht auf Leben tagtäglich systematisch mit Füßen getreten.[9] Andererseits hat Staatspräsident Demirel während seines Deutschlandbesuchs im November erneut den Wunsch seines Landes wiederholt, Vollmitglied der Europäischen Union werden zu wollen. Nach Herzog müßte sich daher ein besonderer „Anreiz, den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen“, ergeben. Anders gesagt, wenn die europäischen Regierungen an der Verwirklichung der Menschenrechte in der Türkei interessiert sind, haben sie hier ein wirksames Druckmittel, das sie aber bisher – siehe die Aufnahme des Landes in die Zollunion mit der EU Ende 1995 – kaum wirksam eingesetzt haben. An der Politik gegenüber der Türkei dürfte sich aber weit eher als im Verhältnis zu China oder Iran erweisen, ob ein pragmatischer Ansatz, wie vom Bundespräsidenten gefordert, zu praktischen Konsequenzen bei der Gestaltung der Außen-und Außenwirtschaftspolitik führen kann oder doch nur die bestehende Gleichgültigkeit gegenüber der Menschenrechtsverwirklichung bzw. deren Unterordnung unter wirtschaftliche Gesichtspunkte verschleiert.

1 Siehe das aus dem Aufsatz entwickelte Buch von Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.

2 Dieser Aufsatz ist gerade ebenfalls in erweiterter Form als Buch erschienen: Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996. Siehe dazu auch Dieter Senghaas. Die fixe Idee vom Kampf der Kulturen, Blätter für deutsche und internationale Politik 1997, 215.

3 Roman Herzog, Die Rechte des Menschen, Die Zeit, Nr. 37 v. 6.9.1996.

4 Richard Herzinger, Die Moral als Sahnehäubchen, Die Zeit, Nr. 40 v. 27.9.1996.

5 Sadik Al-Azm, Das Wahrheitsregime der Verbrecher, FR v. 26.11.1996.

6 Heiner Geißler, Wir müssen uns einmischen, Die Zeit, Nr. 42 v. 11.10.1996.

7 Türkei. Unsichere Zukunft ohne Menschenrechte, Bonn 1996.

8 Torture in Turkey and Its Unwilling Accomplices. The Scope of State Persecution and the Coercion of Physicians, Boston 1996. Siehe dazu auch die in der FR v. 23.1.1997 dokumentierten Auszüge.

9 Dazu auch Manfred H. Wiegandt, Doppelstaat Türkei. Hinter einer demokratischen Fassade regieren die Sicherheitskräfte mittels Folter, Verschwindenlassen von Personen und Mord, Die Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte 5/1997.

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