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Markt­wirt­schaft als Anomie

vorgängevorgänge 13806/1997Seite 99-101

Aus: vorgänge Nr. 138 (Heft 2/1997), S. 99-101

Versuche, die Vergangenheit biographisch aufzuhellen, gelten seit längerem als altbacken. Während das Publikum nach einer Personalisierung der Zeitläufte hungert, widmen sich die Historiker vorzugsweise anonymen Bewegkräften. Solche „Orientierung auf überindividuelle Strukturen“, erläutert der Lüneburger Kulturhistoriker

Claus-Dieter Krohn: Der philosophische Ökonom. Zur intellektuellen Biographie Adolph Lowes; Marburg (Metropolis Vlg.) 1996; 239 S., DM 36,80,

werde inzwischen allerdings relativiert durch das Bemühen, „den Menschen wieder in den Analyserahmen der Geschichte zurückzuholen“.

Dieser Rechtfertigung seines Buches hätte es nicht bedurft. Denn die von Krohn vertretene Exilforschung war gedacht als Arche Noah für jene 1933 verlorengegangene Flüchtlingsgeneration mitsamt ihren geistigen Leistungen. Auch die vorliegende Arbeit über den 1893 in Stuttgart geborenen Sozialwissenschaftler Adolf Löwe oder Lowe, wie er später im Exil hieß, da englische Schreibmaschinen ohne Umlaut sind, konkretisiert ein Einzelschicksal. Die individualisierende Vorgehensweise lag in diesem Erkenntnisfeld nahe, weil erst einmal zu sichten war, wer alles aus den Zeiten der Weimarer Republik vertrieben wurde. Es klingt daher etwas spröde, wenn Lowes Werdegang als „exemplarisches Segment eines spezifischen Lebensbereichs“ behandelt werden soll.

Erfreulicherweise hält sich Krohn keineswegs an diese Vorgabe. Vielmehr hat er ein aufschlußreiches, Lebensweg und Theorieproduktion seines Zeitzeugen gleichermaßen berücksichtigendes Entwicklungspanorama verfaßt. Zwar kommt das Anekdotische etwas zu kurz. Wir erfahren wenig über den Alltag von Adolph Lowe. Dafür um so mehr über den „labyrinthisch irren Lauf“ der Zeitgenossenschaft jener Wissenschaftlergeneration, die nach der „Machtergreifung“ über Nacht aus Deutschland ausgegrenzt wurde.

Lowe wich der Existenzbedrohung auf dem Umweg über Manchester in die USA aus. Seit Anfang der 40er Jahre lehrte er mit großem Erfolg an der „New School for Social Research“ in New York. Erst in den 80er Jahren siedelte er als Witwer aus einem Altersheim in der Bronx zu seiner Tochter und damit wieder nach Deutschland über. Dort ist er 1995, im biblischen Alter von 102 Jahren, in Wolfenbüttel gestorben. Bis zuletzt war Lowe, der seine einflußreichsten Schriften ohnehin erst im Alter von 77 beziehungsweise 85 Jahren verfaßte, bei wachem Verstand.

Davon zeugt noch sein letztes Buch. Es zieht die Quersumme seiner gesellschaftswissenschaftlichen Ansichten über die sozialökonomische Verlaufsdynamik und – vor allem -ihre politische Beherrschbarkeit. Unter dem Titel „Hat Freiheit eine Zukunft?“ (1988, dt. 1990) beschäftigt sich Lowe mit der zunehmenden Regellosigkeit in einer selbstläufig wirkenden Marktmoderne. Wie ist Gemeinschaftsethik möglich, wenn der rasende Sozialwandel alle Strukturen in Bewegung hält, wenn zudem Verläßlichkeit und Zuwendungen in der Alltagssozialisation schwinden und durchgängig akzeptierte Ordnungskonzepte fehlen?

In den 80er Jahren wurde der Rückkehrer hochgeehrt. Eine Schar jüngerer Ökonomen bemühte sich um den Gebrauchswert seiner „Instrumentalanalyse“. Sie wollte das Fach von einer eher finalen, auf vorgebliche Gleichgewichtszustände festgelegten Sichtweise ökonomischer Prozesse lösen. Ziel war ein modales Verständnis der tatsächlichen Marktwelt, um die sperrigen Gegebenheiten des täglichen Konkurrenzkampfes im Blick zu behalten. Nach der Rede des Bundespräsidenten 1985 über Berlins Kriegsschuld, in der Richard von Weizsäcker hervorgehoben hatte, daß die Deutschen durch alliierte Truppen von ihrem Joch befreit worden waren, lebte Lowe mit seinem Geburtsland wieder auf vertrauterem Fuß. Laut Krohn blieb ihm einzig die Anerkennung durch seine frühere Wirkungsstätte versagt. Aus wissenschaftspolitischen Gründen mochte das „Institut für Weltwirtschaft“ in Kiel seine Verdienste nicht würdigen, obschon Lowe dort bis 1931 eine auch international beachtete realistische Konjunkturtheorie ausgearbeitet hatte. Vielleicht wirkte seine Infragestellung der Selbstregulierung der Marktkräfte noch immer unzeitgemäß? Oder schon wieder?

Krohn skizziert die intellektuelle Profilierung eines erfolgreichen Sozialökonomen, der gleichwohl Außenseiter seines Faches blieb. Dank seiner praxisnahen und folgenbezogenen Erkenntnisse über die sozialen Effekte des Wirtschaftens grenzte Lowe sich frühzeitig ab von der „Schreibtischlehre“ einer Amtsökonomie, die seit längerem den Kontakt zur gelebten Wirklichkeit verloren hatte und auf ihre Abstraktionen auch noch stolz war. Ihre Modellrechnungen fielen immer komplexer aus, was bis heute das Nobel-Kommitee zu beeindrucken pflegt, wohingegen eine ungleich wirklichkeitskompetentere Schule wie der „Ordoliberalismus“ mit seinem Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ bei der Preisverleihung leer ausgegangen ist. Zudem sah sich von der jüngeren „Neoklassik“ ein Wissenschaftsverständnis vertreten, das laut Lowe zugunsten innerer Stimmigkeit an epistemologischem Reiz verlor, wenn man denn überhaupt weiter beanspruchte, eine Erfahrungswissenschaft sein zu wollen.

„Erfahrungsnähe“ – das ist hingegen das Leitthema, unter das sich das Gesamtwerk Lowes stellen läßt. Der studierte Jurist, der 1931 als Nachfolger von Carl Grünberg an die Universität in Frankfurt am Main berufen wurde, beschäftigte sich seit seiner ersten Buchveröffentlichung über „Arbeitslosigkeit und Kriminalität“ (1914) mit Anwendungsfragen von Wissenschaft. In mehreren bildungstheoretischen Schriften verwarf er enges Spezialistentum und plädierte für eine „Kooperation der Sozialwissenschaften“, deren Auftrag er in „Economics and Sociology“ (1935) begründete. Vor allem beklagte Lowe die umsichgreifende Realitätsflucht der Wirtschafts- und Gesellschaftslehren. Unter dem Titel „On Economic Knowledge“ (1965) vertrat er eine „science of political economics“, die im Sinne eines der Wohlfahrtsstaatlichkeit verpflichteten Politikverständnisses auch die Theorie des Sozialen auf gesellschaftliche Integration- und Steuerungsaufgaben zuschneiden wollte.

Diese Bodenhaftung seiner Analysen hatte nicht nur damit zu tun, daß Lowe seine berufliche Karriere in der Verwaltung begonnen hatte. Ihn bedrängte bald die massenpädagogische Frage, wieviel Bindungsbereitschaft die Freiheit benötigt, worüber er im Exil eine Grundlagenschrift (Spontaner Kollektivismus, 1936) verfaßte, die sich bei Krohn abgedruckt findet. Überdies sahen sich seine Überlegungen mit dem Wahnwitz der Epoche konfrontiert, der allen Regelungskonzepten zuwiderlief, von denen Ökonomie oder Soziologie in ihren Lehrbüchern sprachen. Die Wirtschaftsentwicklung wollte sich nicht nach theorieunterfütterten Schemata richten. Lag es da nicht nahe, die akademische Produktivkraft auf konkrete Bedürfnisse hinzuweisen? Mit Blick auf die Unterminierung unserer Verhältnisse durch Arbeitslosigkeit, Desorientierung oder auch Anomie scheint diese Erwartung an die Wissenschaften kein absurdes Ansinnen zu sein, jedenfalls nicht im interaktiven Bereich der Kultur- und Sozialtheorien. Nicht zuletzt deswegen, arbeitet Krohn heraus, weil Lowe frühzeitig hat kommen sehen, daß die Verwilderung der Zeitläufte politische Risiken birgt als Folge von Massenarmut und Hoffnungslosigkeit. Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht. Aber es wird nirgendwo verbrieft, daß die Menschen die Verdüsterung ihrer Lebensperspektive klaglos hinnehmen. Und wenn die zur Information der Zeitläufte eingerichteten Disziplinen keine Erklärungen bereitstellen, wie der Fehlversorgung und Regellosigkeit zu begegnen sei, weil sie mehr auf die Anerkennung durch ihre peer group schielen als daß sie das Glätten gesellschaftspolitischer Wogen im Sinne hätten, dann werden eben minder geistreiche Kräfte der Mitwelt zurufen, wie es weitergehen soll.

Eine Lehre läßt sich aus jener Umbruchs-zeit in den späten 20er Jahren ziehen, als Adolph Lowe dem ökonomisch beförderten Abmarsch der Epoche in die politische Panik mit dem Konzept einer aktiven Konjunkturpolitik entgegentreten wollte: Die Sozialbeziehungen ertragen auf Dauer kein Chaos in der Lebenswelt, diese Erfahrung ist weiterhin von Belang.

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