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Am liebsten tot umfallen

vorgängevorgänge 13806/1997Seite 90-91

Anmerkungen eines Seelsorgers

Aus: vorgänge Nr. 138 (Heft 2/1997), S. 90-91

Mit dem 90. Psalm wird auch heute noch bei christlichen Gottesdiensten – vor allem bei Trauerfeiern – regelmäßig gebetet: „Herr lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen.“

Christliche Gebetsformulare verbinden das Wort häufig mit der Bitte, jederzeit vor Gottes Gericht treten zu können. Darin spiegelt sich die Tradition, die uns schon in den vielen Darstellungen des Jüngsten Gerichtes in mittelalterlichen Kirchen begegnet. Der Tod wird als Einschnitt verstanden, der das irdische Leben nicht nur beendet, sondern als abgeschlossenes nunmehr dem göttlichen Gericht ausliefert. Wer diese Vorstellung ernst nahm, mußte darum bitten, sich in Ruhe auf den Tod vorbereiten zu können. Ein schneller Tod war eine Gefahr. Der mittelalterliche Christ konnte geradezu beten: „Bewahr‘ mich, Herr, vor schnellem Tod!“

Wer heute über den Tod nachdenkt, wird schnell feststellen, wie fern den meisten Menschen solche Vorstellungen sind. Ich habe als Pfarrer jedenfalls regelmäßig erlebt, daß mir gesagt wurde: Über Gestorbene: „Er, sie hat wenigstens keine schmerzen gehabt“. Oder: „Er, sie hat nicht gewußt, wie ernst die Krankheit war.“ Oder auch: „Die Ärzte haben gegen die Schmerzen so starke Mittel gegeben, daß er, sie ganz ruhig hinübergedämmert ist.“ Manchmal auch: „Er, Sie hat wohl geahnt, daß es zu Ende geht, aber wir haben nie darüber gesprochen“.

Und über eigene Wünsche habe ich oft gehört: „Am liebsten möchte ich mal einfach tot umfallen“. Oder: „Wenn ich nur nicht lange leiden muß“. Oder: „Abends einschlafen und morgens nicht mehr aufwachen“.

Der Tod ist etwas anderes geworden als noch vor zwei, drei Generationen. Er ist einfach das Ende unseres Lebens, bedrohlich sind dabei vor allem die Schmerzen des Sterbens, das Elend langen Leidens. Natürlich stelle sich auch – entmythologisiertes Gericht -die Frage nach Sinn, Niederlagen und Erfolgen eines Lebens. Ebenso gibt es die Betroffenheit und den Schmerz des Abschieds – aber auch solches Fragen und Erleben ist heute anders als früher.

Was hat soviel verändert? Ich denke, daß geistige und gesellschaftliche Entwicklungen zusammengekommen sind. Naturwissenschaft und Aufklärung haben unser Weltbild verändert, das Industriezeitalter unseren Alltag. In der vorindustriellen Zeit war der Familienbetrieb der Normalfall. Der Bauernhof wie der Handwerksbetrieb, das Handelshaus wie das Rittergut oder das Fürstenhaus waren Familienbetriebe, deren Kontinuität über den Tod hinaus gewährleistet werden mußte. Die Erinnerung an den Tod und die rechtzeitige Vorbereitung waren nicht nur für das Jenseits, sondern auch für die Weitergabe des Betriebes wichtig. Da vor allem die Erfahrung der Älteren zählte, übergaben sie den Betrieb erst kurz vor dem Tod und segneten die Nachfolgenden zugleich.

In unserer Gesellschaft ist der Familienbetrieb nicht mehr der Normalfall, und eine Verpflichtung, ihn weiterzuführen, gibt es auch nicht mehr. Die ständigen Veränderungen durch Wissenschaft und Technik werden von den Jüngeren besser verstanden und bedeuten mehr als das Erfahrungswissen der Alten. Die meisten Menschen arbeiten in Großbetrieben und Verwaltungen. So geht man heute normalerweise lange vor dem Tod in Rente, das Sterben ist nur noch das je persönliche Lebensende. Die ärztliche Kunst kann dieses Ende weit hinausschieben, kann Schmerzen lindern, kann die Anzeichen des nahenden Todes überspielen. Dementsprechend machen wir uns vor allem Gedanken über einen sanften Tod und über ein schmerzloses Sterben. Wie sehr das unser Denken bestimmt, zeigen die Diskussionen über das Recht zum eigenen, freigewählten Tod, über aktive und passive Sterbehilfe, über Todesdefinition und Organentnahme, über Patientenrechte und die Grenzen ärztlicher Kunst.

Tod und Sterben sind heutzutage zugleich eine Frage der Versorgung der Hinterbliebenen. Ich erinnere mich noch daran, wie mir als jungem Pfarrer erstmals gesagt wurde: „Das ist wirklich traurig.“ Es ging um einen Unfall, bei dem ein junger Vater tödlich verunglückt war und seine Frau und die beiden kleinen Kinder unversorgt waren. Natürlich ist jeder Tod traurig, aber „wirklich traurig“ ist so ein Tod. Dementsprechend gehen die Gedanken im Blick auf Sterben und Tod schnell auf Krankenkasse, Lebensversicherung, Rente oder Pension, soweit man eben nicht nach dem eigenen Sterben fragt.

Wo bleibt aber die Würde des Menschen, der über seinen Tod hinweggetäuscht wird, weil vor allem seine Schmerzen bekämpft werden? Wo bleibt die Würde des Menschen, der vor allem Organspender sein soll? Wie kommen wir wieder zu einem Leben, das offen und selbstbestimmt dem Tod entgegensehen kann? Es gibt Ansätze, neu nachzudenken und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Es gibt Ärzte, die sich Zeit und Mühe nehmen, Patienten über den Ernst ihrer Krankheit aufzuklären. Es gibt die Sterbebegleitung der Hospizbewegung. Andererseits gibt es auch die Überforderung der Altersheime in einer Gesellschaft, in der so viele alte Menschen ohne helfende Angehörige leben müssen. Je mehr ambulante Hilfen ausgebaut werden, desto später gehen die Menschen ins Altersheim, in der Regel erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. Aus den Altersheimen werden so mehr und mehr Sterbehäuser, doch ohne, daß sie dafür eingerichtet und personell ausgestattet sind. Sie verstärken die Angst vor dem Alter, vor langem Leiden, vor dem Sterben, das wir gleichzeitig so vielfach verdrängen.

Wer stirbt noch daheim? Wer auch nur im Beisein von Angehörigen? Der Ort des Sterbens ist immer häufiger das Sterbezimmer in der Klinik oder im Pflegeheim und da liegt man meistens allein, sehr allein.

So bleibt es dabei: Wir fürchten nicht mehr den schnellen Tod, wir erhoffen ihn. Am liebsten möchten wir eines möglichst fernen Tages tot umfallen, aber bis dahin gesund bleiben. Und nur, wer häufig mit dem Tod zu tun hatte, wünscht sich, wenigstens einige, vorher richtig krank zu sein, damit die Angehörigen nicht zu sehr überfallen werden, sondern wenigstens etwas vorbereitet sind.

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