Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Massen­me­dien und soziale Bewegungen

Die Entwicklung der Medienstrategie von Attac 2000

bis 2002

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 65ff

Der Aufgabe, die Entstehung und den Verlauf sozialer Bewegungen zu erklären, hat sich die Bewegungsforschung bisher am intensivsten gewidmet. Dabei wurde die Rolle von Massenmedien bisher nur unzureichend und zudem meist unsystematisch in die zentralen Erklärungsansätze integriert (vgl. Rucht 1994). Dieser Mangel überrascht, denn spätestens seit der Veröffentlichung von Todd Gitlins wegweisender Studie über
das making and unmaking des amerikanischen SDS ist die zentrale Rolle der Massen-
medien für die Entwicklung sozialer Bewegungen bekannt (1980). Da die globalisierungskritische Organisation Attac, wie Albrecht von Lucke provozierend formulierte, vor allem ein Produkt für und durch die Massenmedien ist (2002), kann ihr schneller Aufstieg als Folie für die Ergründung dieses vernachlässigten Verhältnisses dienen. An anderer Stelle wurde bereits ausführlich dokumentiert, dass Attac Deutschland seinen öffentlichen Durchbruch im Sommer 2001 der plötzlich einsetzenden Medienberichterstattung zu verdanken hatte (Kolb 2003a). Im Folgenden soll die Analyse der Bewegungsmobilisierung durch Massenmedien vertieft werden; daher stehen Entwicklung und Inhalt der Medienstrategie von Attac im Mittelpunkt.

Medienstrategien sozialer Bewegungen: das Beispiel Attac

Bei jedem Versuch, die Medienstrategie einer Bewegungsorganisation in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, werden die Schwierigkeiten, die aus dem fehlenden systematischen Wissen über die Interaktion von Massenmedien und sozialen Bewegungen resultieren, durch das ebenso lückenhafte Wissen über die Rolle von Strategie in Bewegungen verschärft. Dieter Rucht hat einen wichtigen Beitrag zur Schließung dieser doppelten Lücke geleistet, indem er eine grundlegende Typologie der Medienstrategien sozialer Bewegungen vorgestellt hat (Rucht i.E.). Er unterscheidet dabei zwischen Apathie, Angriff, Anpassung und Alternativen.
Apathie ist die Reaktion auf das Desinteresse, dass die Massenmedien manchen sozialen Bewegungen entgegenbringen und führt zur Beschränkung auf nach innen gerichtete Kommunikation.
Angriff meint die explizite Kritik der Massenmedien, die als Teil der herrschenden Verhältnisse begriffen und deshalb im Extremfall auch mit gewalttätigen Aktionen angegangen werden.
Anpassung bedeutet den Versuch, durch das aktive Eingehen auf die Spielregeln der Massenmedien die Berichterstattung derselben zu beeinflussen und zu nutzen. Alternativen meint den Versuch sozialer Bewegungen, ihre Abhängigkeit von den Massenmedien durch den Aufbau eigener Medien zu reduzieren.
Attac Deutschland lässt sich, wie noch ausführlich dargestellt werden wird, eindeutig als Bewegungsorganisation charakterisieren, die auf anfängliche Misserfolge in der Medienresonanz nicht mit Apathie, Angriff oder Alternativen, sondern mit Anpassung reagiert hat. Warum und wie kam es zu dieser Reaktion? Welche Bestandteile hatte die Anpassungsstrategie von Attac? Warum war die Strategie so erfolgreich? Wie hat sich die Medienstrategie über die Zeit hinweg verändert? Um Fragen wie diese zu beantworten, wird im Folgenden die Entwicklung und Veränderungen der Medienstrategie von Attac Deutschland in vier Phasen unterteilt.‘

Phase I: Medienarbeit ohne Strategie (1/2000-1/2001)

Im Januar 2000 wurde Attac Deutschland auf Initiative verschiedener entwicklungspolitischer Organisationen unter dem Namen Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte in Frankfurt am Main gegründet; erst im November 2000 erfolgte die offizielle Umbenennung in Attac. Die Gründungsversammlung richtete per Akklamation einen bundesweiten Koordinierungskreis als Arbeits- und Leitungsgremium ein, und beauftragte ihn mit der Erarbeitung einer inhaltlichen Plattform für die zu-künftige Arbeit des Netzwerkes. Am 3 1. Mai stellte das Netzwerk die Erklärung zur Kontrolle der internationalen Finanzmärkte auf einer Pressekonferenz in Berlin der Öffentlichkeit vor. Bis dahin war diese von ca. 50 kleineren Organisationen und Einzelpersonen unterzeichnet worden. Das Medienecho war enttäuschend – selbst die taz handelte das Ereignis mit 72 Worten ab. Wie in Tabelle 1 dargestellt, blieb mit nur neun Artikeln in der taz das Presseecho auf die Aktivitäten von Attac während des gesamten Jahres 2000 minimal.

Tab. 1. Berichterstattung über Attac in der taz, 2000-2002 2

               2000                                2001                           2002 
          Anzahl Prozent                Anzahl Prozent             Anzahl Prozent
1.Quartal 2          0,9                        4       1,9                   36     16,9
2.Quartal 4          1,9                        7       3,3                   37     17,4
3.Quartal 1          0,5                      36       16,9                  28    13,1
4.Quartal 2          0,9                      31       14,6                  25    11,7
Summe:  9          4,2                      78       36,7                  126   59,1

Diese bescheidene Berichterstattung über Attac im ersten Halbjahr 2000 ist durch den Mangel an mediengerechten Ereignissen zu erklären. Die ersten kampagnenartigen und somit medientauglichen Aktivitäten entwickelte das Netzwerk erst in der zweiten Jahreshälfte im Zusammenhang mit der damals aktuellen Debatte um die Teilprivatisierung der Altersversorgung – der sogenannten Riester-Rente. Aber weder die inhaltlich fundierten Presseinformationen noch die anderen Aktivitäten fanden ein Medienecho, von drei kurzen Erwähnungen in der taz einmal abgesehen. Ähnlich schleppend und frustrierend verlief die Suche nach weiteren Unterzeichnern der Erklärung – Ende des Jahres belief sich deren Zahl auf nur 250. Mit mindestens drei Faktoren lässt sich das verschwindend geringe Medieninteresse im Jahr 2000 erklären (vgl. Ryan 1991). Erstens: Die An-zahl der medientauglichen Aktivitäten von Attac war sehr gering. Zweitens: Attac wurde weder von Journalisten noch von Politikern eine inhaltliche Kompetenz zugestanden. Drittens: Der Mangel an einer bewussten Medienstrategie machte sich bemerkbar. Das Fehlen eines Pressesprechers und unzureichendes Wissen über die Arbeitsweise von Journalisten führte dazu, dass insgesamt sehr wenig zielgerichtete Medienarbeit durch-geführt wurde.

Phase II: Anfänge einer Medienstrategie (1/2001-5/2001)

Die zunehmende Frustration über die ausbleibende öffentliche Resonanz und die ebenso schleppende Mitgliederentwicklung führten im Januar 2001 schließlich zu Änderungen, die die Entwicklung einer Medienstrategie möglich machten und einleiteten. Der Koordinierungskreis nahm das Angebot der sechs Mitarbeiter von Share, einer der Gründungsorganisationen, an, sich zukünftig in ihrer Arbeitszeit ausschließlich dem Aufbau von Attac zu widmen. Innerhalb des so entstandenen Büro-Teams wurde ein Pressesprecher bestimmt; zudem wurden zwei Mitglieder des Koordinierungskreises als ständige Ansprechpartner benannt. Ihre Tätigkeit bestand in der Unterstützung der Arbeit des Sprechers und in der Autorisierung von Pressemeldungen. Die Grundzüge einer Medienstrategie wurden auf einem Treffen mit einem sympathisierenden Journalisten entwickelt. So sollten zukünftig journalistische Standards wie die Länge und das Format von Presseinformationen eingehalten sowie der Rhythmus der Nachrichtenproduktion berücksichtigt werden. Auch der Aufbau eines umfassenden Presseverteilers wurde beschlossen. Außerdem sollte durch die bewusste Inszenierung von Protestaktionen das Interesse der Medien an Attac geweckt werden, um hiermit eine Grundlage für die zu-künftige Berücksichtigung der inhaltlichen Positionen von Attac zu schaffen. Diese Maßnahmen wurden in den folgenden Wochen und Monaten umgesetzt. Im April pro-testierten Attac-Aktivisten beispielsweise in der Bundespressekonferenz gegen die Steuerpolitik der Bundesregierung und im Mai eröffnete Attac Hamburgs erste Steueroase auf der Alster. Diese und weitere Aktionen erzeugten trotz guter Vorbereitung und intensiver Pressearbeit kaum öffentliche Resonanz (vgl. Tab. 1). Das (vorläufige) Scheitern der Medienstrategie lässt sich damit erklären, dass die Berücksichtigung des Nachrichtenrhythmus und die Inszenierung von medientauglichen Ereignissen nicht ausreicht, um das Interesse der Medien zu wecken. Ebenso zentral für die Auswahl von Nachrichten ist der sogenannte Medienaufmerksamkeitszyklus, der beeinflusst, welche Themen und Akteure gerade als aktuell und berichtenswert eingestuft werden (Oliver und Maney 2000). Dazu zählte damals die Globalisierungskritik trotz der Proteste in Seattle im Dezember 1999 nicht.

Phase IIL• Die mediale Aneignung von transnationalen Protesten (6/2001-8/2001)

Nur wenige Wochen nach den oben skizzierten erfolglosen Versuchen, journalistisches Interesse zu wecken, änderte sich der Medienaufmerksamkeitszyklus. Ereignisse außer-halb Deutschlands katapultierten die globalisierungskritische Bewegung in das Bewusstsein der deutschen Massenmedien. Im Juni 2001 fand in Göteborg ein EU-Gipfel statt, der wie schon zuvor in Nizza von Protesten der globalisierungskritischen Bewegung begleitet wurde. Während die Proteste überwiegend friedlich verliefen, kam es zu einzelnen Ausschreitungen, in deren Rahmen die hoffnungslos überforderte schwedische Polizei scharfe Munition einsetzte und mehrere Demonstranten verletzte. Zahlreiche Festnahmen und der Überfall auf ein Schlafquartier der Protestler folgten. Die Schockwellen dieser Ereignisse erreichten Deutschland, weil sich unter den Festgenommenen auch viele Deutsche befanden. Plötzlich sahen sich Journalisten mit der Aufgabe konfrontiert, ihrem Publikum erklären zu müssen, um wen es sich bei diesen Globalisierungskritikern eigentlich handelt. Und als sie sich in ihrer Suche auf Antworten an Attac wandten und bereitwillig Auskunft erhielten, begann sich die Medienarbeit der vergangenen Monate doch noch auszuzahlen.3
Bereits im Frühjahr 2001 hatte Attac entschieden, sich am sogenannten Kasseler Bündnis zu beteiligen, das die Mobilisierung zu den Protesten gegen den Weltwirtschaftsgipfel koordinierte, der im Juli 2001 in Genua stattfinden sollte (vgl. Andretta et al. 2003). Durch die Ereignisse und Erfahrungen von Göteborg nahm die Strategie, durch die geplanten Proteste in Genua die Aufmerksamkeit der Medien auf Attac zu lenken und hierdurch eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, Gestalt an. Das vom Büro erarbeitete Pressekonzept hatte folgenden Kern:
Journalisten wurde angeboten, in den von Attac organisierten Bussen mit nach Genua zu fahren und ca. 15 Journalisten machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Attac richtete einen speziellen Email-Verteiler und einen SMS-Verteiler ein, um Journalisten zeitnah über alle Entwicklungen in Genua informieren zu können. Vom Bundesbüro in Verden aus vermittelte Attac während der Proteste kontinuierlich mediengerechte Interviewpartner für Rundfunk, Presse und Fernsehen.
Die friedlichen Massenproteste von Hunderttausenden, Ausschreitungen kleiner Gruppen von Demonstranten und das extrem gewalttätige Verhalten der Polizei, das in der Erschießung eines Demonstranten gipfelte, machten Genua in ganz Europa zum politischen Großereignis des Sommers 2001. Damit erreichte die Existenz der globalisierungskritischen Bewegung über den Umweg Italien• auch endlich die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Die Strategie von Attac ging in einem Maße auf, wie es sich selbst die Aktivisten nicht hätten träumen lassen. Wie in Tabelle 1 zu sehen, schnellte der Umfang
der Berichterstattung über Attac im 3. Quartal 2001 in die Höhe. Dies war ausschließlich eine Folgeerscheinung der Proteste in Genua und der sich daran anschließenden Debatte über die globalisierungskritische Bewegung, die fälschlicherweise bald mit Attac gleichgesetzt wurde. Doch nicht nur die taz berichtete – auch in anderen Zeitungen und mit etwas Verzögerung im Rundfunk erlangte Attac große Aufmerksamkeit. Diese enorme Medienpräsenz ließ Mitgliederzahlen und lokale Gruppengründungen in die Höhe schnellen (Kolb 2003a).4 Die sich daraus ergebenden Aktivitäten, die vor wenigen Wochen und Monaten keine Zeile wert gewesen wären, konnten sich jetzt journalistischer Aufmerksamkeit sicher sein.

Phase IV.• Erfolgreiche und gescheiterte Adaptionen der Medienstrategie (9/2001-12/2002)

Die Ereignisse des 11. September 2001 durchbrachen jäh die oben skizzierte Entwicklung und von mancher Seite wurde vorschnell das Ende der globalisierungskritischen Bewegung verkündet. Attac ließ sich jedoch nicht in die Defensive drängen, sondern verstand es, das Ende globaler ökonomischer Ungerechtigkeiten als wichtigen Bestandteil jeder wirkungsvollen Strategie der Terrorismusbekämpfung in den öffentlichen Diskurs zu integrieren (Kolb 2003b). Zudem beteiligte sich Attac aktiv an der Friedensbewegung und gehörte zu den profilierten Gegnern des Afghanistan-Krieges. Dass diese inhaltliche Anpassung erfolgreich war, lässt sich u.a. daran erkennen, dass die Berichterstattung über Attac im 4. Quartal nur geringfügig abgenommen hat (vgl. Tabelle 1).
Während Attac und die gesamte globalisierungskritische Bewegung durch den 11. September ein weiteres Thema bedienen mussten, bestand im Koordinierungskreis von Attac der Konsens, die alten Themen dabei nicht übermäßig zu vernachlässigen. Attac Deutschland versuchte deshalb systematisch, das Genua-Erfolgsmodell bei weiteren internationalen Gipfeltreffen zu wiederholen, darunter die EU-Ministerpräsidententreffen in Brüssel im Dezember 2001 und der EU-Gipfel in Sevilla im Juni 2002. Während an den entsprechenden Demonstrationen jeweils weit über 100.000 Menschen teil-nahmen, war die öffentliche Resonanz jedoch enttäuschend gering. Hierfür lassen sich einige Gründe anführen. Attac verfügte zu den Themen beider Gipfel über keine originären inhaltlichen Positionen. Hinzu kam das eigentlich erfreuliche Faktum, dass die Proteste, sowohl von Seiten der Demonstranten als auch von Seiten der Polizei, bis auf kleinste Zwischenfälle friedlich verliefen. Außerdem wurde die Möglichkeit, Gipfel-Treffen zu öffentlichkeitswirksamen Protesten zu nutzen, von den Regierungen der Industrieländer aktiv unter minimiert. Das 3. WTO-Ministertreffen fand in Quatar und damit buchstäblich in der Wüste statt, und der Weltwirtschaftsgipfel flüchtete sich 2002 in die kanadischen Rocky Mountains. Attac war zu diesem Zeitpunkt (vgl. Tabelle 2) jedoch schon nicht mehr auf transnationale Proteste angewiesen, um Medienaufmerksamkeit zu erregen. Das Konzept, auf dem dieser Erfolg beruhte, lässt sich in den Worten der taz-Redakteurin Katharina Koufen zusammenfassen, also einer Adressatin der Attac-Medienstrategie:
„Die Presseleute von Attac wissen, wie man Pressemitteilungen verschickt und wie man sich in Szene setzt. Sie wissen, dass Pressemitteilungen nie am Nachmittag ver-
schickt werden dürfen, dass sie nie zu lang und vor allem nie zu klein gedruckt sein dürfen, sonst liest sie niemand. […] Gute PR-Leute wissen, dass man Gehör findet, wenn man seine Forderungen passend zu solchen Anlässen lanciert, die Medienmenschen wichtig finden. […] Die Medien mögen Attac, weil sie hinter kritischen 0-Tönen ihre eigene Meinung verstecken können. Weil Attac so kurz und griffig klingt und außerdem wie ,Attacke!`. Und weil Attac greifbare Forderungen stellt.“ (taz vom 28. September 2002)
Doch auch die Einhaltung dieser Prinzipien garantieren keinen Erfolg, wie Attac im Frühsommer 2002 mit seiner Kampagne zur Reform der Gesundheitsversicherung fest-stellen musste. Egal, ob die Kampagne Gesundheit ist keine Ware es mit Positionspapieren, Aktionskonferenzen, Anzeigenaktionen oder einem bundesweiten Aktionstag versuchte, das Medienecho war mit Ausnahme der taz (was allein der zuständigen Redakteurin zu verdanken war) vernichtend gering. In Zeitungen wie der Zeit, der Frankfurter Rundschau oder der Süddeutschen Zeitung, in der über die Positionen und Aktivitäten von Attac zu Finanzmärkten, Steueroasen und Welthandel ausführlich berichtet wurde, fand sich kaum ein Wort hinsichtlich der Aktionen und Positionen von Attac in Sachen Gesundheitspolitik. Die Ursache für dieses Schweigen im Blätterwald beruht auf verschiedenen Faktoren. Die gewohnten Ansprechpartner für Attac in den Medien sind für Gesundheitspolitik nicht zuständig und waren deshalb für die Kampagne weitgehend nutzlos. Der Versuch, relativ kurzfristig entsprechende Kontakte zu den Gesundheitsjournalisten aufzubauen, scheiterte weitgehend, weil Attac in diesem etablierten Politikfeld nicht als legitimer und kompetenter Akteur anerkannt wurde. Erschwerend kam hinzu, dass Attac es versäumte, das Bündel seiner Reformvorschläge mit einem eingängigen Label zu versehen, obwohl die Forderungen im Kern einer „Bürgerversicherung” entsprachen. Die gewohnten Ansprechpartner dagegen kommentierten den Schwenk von Attac zur Innenpolitik teilweise spöttisch: Ihnen war die Verbindung zur Globalisierung nicht plausibel; sie erschien weit hergeholt. Und sogar innerhalb von Attac gelang es der Kampagne nicht, viel Begeisterung und Unterstützung für das Thema Gesundheitspolitik zu mobilisieren.

Tab. 2: Anlässe der Berichterstattung über Attac in der taz in Prozent; in Klammern die Artikelanzahl

                         1/2000   2/2000  1/2001  2/2001   1/2002   2/2002
Attac-Aktivitäten 50,0 (3) 66,7 (2) 27,3 (3) 20,9 (14) 38,4 (28) 24,5 (13)
Politisches Zeitgeschehen 50,0 (3) 33,3 (1) 36,4 (4) 44,8 (30) 34,2 (25) 49,1 (26) 36,4 (4) 23,9 (16) 17,8 (13) 15,1 (8) Transnationaler Protest       Nationaler Protest    10,4(7) 9,6(7) 11,3(6) Summe: 100, 0(6) 100,0 (3) 100, 0(11) 100, 0(67) 100, 0(73) 100, 0(53) Quo vadis Attac?

Die Entwicklung der Medienstrategie von Attac kann als exemplarisch für das ambivalente Verhältnis von sozialen Bewegungen und Massenmedien gelten. Zwar kann es Bewegungsorganisationen durch eine professionelle und flexible Pressearbeit gelingen, die Massenmedien für ihre Ziele zu nutzen, indem sie ihnen das Material für spannende
Nachrichten liefern. Aber das Abhängigkeitsverhältnis zwischen sozialen Bewegungen und Massenmedien ist trotzdem asymmetrisch: Letztere können soziale Bewegungen ohne nennenswerte Kosten ignorieren, während Bewegungen, die politische Veränderung wollen, auf Öffentlichkeit angewiesen sind (Gamson und Wolfsfeld 1993).
In jüngster Zeit lassen sich drei Trends in der Berichterstattung über Attac erkennen. Erstens hat sich die Häufigkeit und der Umfang der Berichterstattung insgesamt reduziert, verblieb aber, verglichen mit anderen Bewegungsorganisationen, weiter auf ho-hem Niveau. Da Attac mittlerweile seinen Neuigkeitswert weitgehend verloren hat, handelt es sich dabei gewissermaßen um eine Normalisierung der Berichterstattung. Zweitens gibt es eine relevante Anzahl von Berichten, die sich kritisch mit Attac auseinandersetzen. Exemplarisch dafür ist das Interesse, mit dem die in Attac geführte Antisemitismus-Debatte begleitet wurde.b Da Journalismus aber von Negativnachrichten lebt und zudem das Innenverhältnis von Organisationen grundsätzlich auch einen Nachrichtenwert hat, ist dies ein weiterer Beleg für die Normalisierung der Berichterstattung und zugleich für die politische Bedeutung, der Attac beigemessen wird. Drittens scheint es Attac in einem erneuten Anlauf geschafft zu haben, mit einem innenpolitischen Thema als Akteur wahr- und ernst genommen zu werden: Im Herbst 2003 startete Attac eine Kampagne gegen die Agenda 2010. Während die ersten Aktionen weitgehend unbeachtet blieben, wurde über den Ratschlag zum Thema Sozialabbau und über einen bundesweiten Aktionstag am 20. Oktober gegen die Umsetzung der Agenda 2010 in Presse und Fernsehen berichtet. Allerdings ist es noch zu früh, um zu beurteilen, ob es sich da-bei um einen „Ausrutscher” handelte, oder um einen wirklichen Durchbruch für Attac.
* Dieser Text basiert auf einem Forschungsprojekt, das ich während eines Aufenthaltes am Institute for European Studies der Cornell University, Ithaca, NY durchgeführt habe. Für hilfreiche Kommentare zu früheren Versionen des Textes möchte ich mich bei Corinna Blanck, Marianne Koch, Malte Kreutzfeldt und Jörg Rohwedder bedanken.
1 Meine Analyse basiert auf internen Dokumenten, einer quantitativen Analyse der Berichterstattung in der taz und auf meinem Hintergrundwissen als Gründungsmitglied und Pressesprecher (1/2001-7/2002) von Attac Deutschland.
2 Anzahl bezeichnet alle im Untersuchungszeitraum in der taz erschienenen Texte, die die Geschichte, die Positionen oder die Aktivitäten von Attac behandeln oder in denen Attac als politischer Akteur Erwähnung findet. Prozent verweist auf den Anteil der im jeweiligen Quartal erschienenen Attac-Artikel an allen 213 im Untersuchungszeitraum erschienen Artikeln.
3 Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Medienstrategie, auf die ich hier nicht näher ein-gehen kann, war die Positionierung von Attac in der durch Göteborg ausgelösten Gewaltdebatte. Attac gelang es, in der Öffentlichkeit glaubhaft seinen gewaltfreien Charakter zu kommunizieren, ohne sich direkt von anderen Gruppen zu distanzieren.
4 Auch andere Gruppen der globalisierungskritischen Bewegung bekamen durch die von den Protesten hervorgerufene Öffentlichkeit neuen Zulauf. Aber obwohl viele zum Zeitpunkt der Proteste wesentlich größer waren, konnten weder die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) noch Peoples‘ Global Action (PGA) im gleichen Masse von dem Boom in Genua profitieren, weil sie in der Medienberichterstattung wenn überhaupt, dann nur am Rande erwähnt wurden.
5 Die Rubrik Attac-Aktivitäten bezeichnet Artikel, die ausschließlich über Attac und seine Aktivitäten berichten. Politisches Zeitgeschehen bezeichnet Artikel, die über internationale Institutionen, politische Parteien, Regierungen etc. berichten und in denen die Positionen und Forderungen von Attac zitiert werden.

nach oben