Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Politische Demon­s­tra­tion im Theater

Zur Ästhetik des Demonstrativen bei Bertolt Brecht und

Peter Weiss

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 83ff

Die Ereignisse der Proteste anlässlich des G8-Gipfels in Genua im Juli 2001 benötigten gerade einmal zwei Jahre, um den Bühnenraum eines der renommiertesten Theater Berlins, der Schaubühne am Lehniner Platz, zu erobern. Die Geschwindigkeit, mit der dies geschah, steht für die verbreitete Empfindung, wie wichtig soziale Protestbewegungen fair das Theater sein können, damit es nicht in Bedeutungslosigkeit versinkt. Dies gilt umso mehr, als die Demonstration als Form multimedialer Selbstinszenierung von Körpern zum Theater in Idealkonkurrenz steht. Beide, Theater und Demonstration, haben einen gemeinsamen Ursprung: die Straße. Ihre Verwandtschafts-, aber auch Wechselbeziehung lässt sich unter medientheoretischen Gesichtspunkten dadurch erklären, dass „ein Medium sich der Mittel und Verfahren bedient, die ein anderes Medium entwickelt hat, dass es versucht, die Möglichkeiten nachzuahmen oder zu simulieren, die sich aus der spezifischen Medialität eines anderen ergeben.” (Fischer-Lichte 2001: 17) Es verwundert kaum, dass dieses Austauschverhältnis verstärkt in jenen Zeiten hervortrat, in denen politische Demonstrationen einen besonders nachhaltigen Einfluss auf das Zeitgeschehen auszuüben vermochten, etwa die Arbeiterproteste der 1920er Jahre, die Studentenunruhen der 1960er Jahre und eine sich seit einigen Jahren abzeichnende internationale globalisierungskritische Bewegung. Bezeichnenderweise verzichtete jene Aufführung des Stücks Genua 01 von Fausto Paravidino, in der Regie von Wulf Twiehaus an der Schaubühne, konsequent auf die theatrale Darstellung demonstrierender Gruppen und unternahm stattdessen eine Rekonstruktion der Ereignisse mittels Live-Kamera, Schrift- und Straßenkartenprojektionen, Megaphon und Dokumentarfilm. Insbesondere der anhand von Fotografien geführte Indizienbeweis zur Aufklärung des Todes des Demonstranten Carlo Giuliani übersetzte den Duktus der politischen Proteste in eine Ästhetik des Demonstrativen, die Bertolt Brecht mit seinem epischen Theater in den 1920er Jahren entwickelt hatte und Peter Weiss in seinem Dokumentartheater in den 1960er Jahren weiterführte und radikalisierte.

Zweierlei Demonstration bei Brecht

Der „Demonstrationscharakter” der Brechtschen Dramen ist bisher recht einseitig diskutiert worden: innerhalb des von Brecht wiederholt vorgegebenen Anspruchs, ein Theater für den „kritischen Zuschauer” des „wissenschaftlichen Zeitalters” konzipieren zu wollen. Entgegen der seit dem 16. Jahrhundert entstandenen, spezifischen Semantik des Begriffs „Demonstration” als einer „Beweisführung, anschaulichen Darlegung” verharrte die Diskussion in gewollter Nähe zum vermeintlich offeneren, naturwissenschaftlichen Experiment (zuerst Knopf 1980: 406ff.). Kaum Beachtung hingegen erfuhr die zweite Bedeutung des auch von Brecht vielfach gebrauchten Begriffs der „Demonstration” (bes. GBA 22: 370ff., 387): die seit dem 19. Jahrhundert entstandene Bedeutung einer „öffentliche Kundgebung” in Form der politischen Demonstration. Dies überrascht umso mehr, als Brechts Interesse an Straßenprotesten, etwa in dem Zeugnis seines Freundes und ,Lehrers` Fritz Sternberg, ausdrücklich verbürgt ist. Die von beiden beobachteten Geschehnisse des „Berliner Blutmai” am 1. Mai 1929, bei dem 31 Menschen bei Zusammenstößen mit der Polizei getötet wurden, wertet Sternberg gar als den Wendepunkt innerhalb der politischen Biographie Brechts:
„Als Brecht die Schüsse hörte und sah, dass Menschen getroffen wurden, wurde er so weiß im Gesicht, wie ich ihn nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Ich glaube, es war nicht zuletzt dieses Erlebnis, was ihn dann immer stärker zu den Kommunisten trieb.” (Sternberg 1963: 25)
Dieser Tag endete mit einer gemeinsamen Autofahrt durch die vielfach polizeilich abgesperrten Straßen Berlins, einer bizarren Suche nach weiteren demonstrierenden Gruppen, die zwischen Anteilnahme und Neugier eine geradezu außergewöhnliche Faszination Brechts an politischen Demonstrationen zu erkennen gibt. Motivische Rückgriffe auf Protestzüge finden sich in Brechts Lyrik, Prosa, dem unzensierten Drehbuch seines Films Kuhle Wampe, besonders aber in seinen Theaterarbeiten. Letztere weisen darüber hinaus zahlreiche dramaturgische Anleihen von politischen Demonstrationen auf, etwa Sprechchöre, Gruppenformationen und Transparente. Bereits in dem ersten jemals auf die Bühne gelangten (und vermutlich von der großen Münchner Demonstration vom 6. Dezember 1918 inspirierten) Stück Brechts wurde das Publikum u.a. mit einem Plakat konfrontiert, auf dem stand: „glotzt nicht so romantisch!” (GBA 1: 550, 554). Die wohl beeindruckendste Demonstrationsszene, die zugleich Brechts dynamische Verortung disziplinierten Protests innerhalb der Triade Demonstration — Generalstreik — Revolution andeutet, gestaltete Brecht als Traumvision der Titelheldin seines Dramas Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1932), an dem er seit 1929 arbeitete:
„Nun sah ich Züge, Straßen, auch bekannte, Chicago! Euch!/Sah euch marschieren und nun sah ich mich./An eurer Spitze sah ich stumm mich schreiten/Mit kriegerischem Schritt, die Stirne blutig/Und Wärter rufend kriegerischen Klangs in/Mir selber unbekannter Sprache, und da gleichzeitig/Von vielen Seiten viele Züge zogen/Schritt ich in vielfacher Gestalt vor vielen Zügen/Jung und alt, schluchzend und fluchend/Außer mir endlich! Tugend und Schrecken!/Alles verändernd, was mein Fuß berührte/Unmäßige Zerstörung bewirkend, den Lauf der Gestir-
ne/Sichtbar beeinflussend, doch auch die nächsten Straßen/Uns allen bekannt, von Grund auf ändernd/So zog der Zug und mit ihm ich […]“ (GBA 3: 186).
Die zentrale Funktion dieser Demonstrationssequenz erklärt sich aus Johannas Vision „Wörter rufend kriegerischen Klangs”, wodurch sie das Ergebnis der parabelgleichen Argumentation des gesamten Dramas antizipiert, das sie dem Publikum gegen Ende des Stücks unmissverständlich verkünden wird: „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht” (GBA 3, 224). Durch die doppelte Kodierung – einerseits innerhalb der Logik eines demonstrativen, „wissenschaftlichen” Theaterkonzepts, andererseits durch den expliziten Kontext einer politischen Demonstration – entzieht sich Johannas schockierende Einsicht einer diskursiven Beweisführung und falsifizierbarer Objektivität: Schließlich handelt es sich zugleich um ihre prophezeite Äußerung als Demonstrantin. En miniature wiederholt sich dieses semantisch oszillierende Demonstrationsmodell in Johannas Entgegnung auf den Versuch des Maklers Slift, ihr die „Schlechtigkeit der Armen” zu beweisen. Johanna formuliert hier die Erkenntnis:
„Nicht der Armen Schlechtigkeit/Hast du mir gezeigt, sondern/Der Armen Armut/[…] Sei widerlegt durch ihr elend Gesicht!” (GBA 3: 154)
Indem Johannas Argumentationslogik einerseits an eine konjunktivische und imperative Sprache rückgebunden ist, diese Logik andererseits an die Evidenz eines tautologischen ,Zeigens als Aufzeigen‘ („Der Armen Armut“) und an eine zugleich stellvertretende wie für sich sprechende körperlichen Präsenz („elend Gesicht“) gekoppelt ist, gleitet sie geradezu prototypisch in die Rhetorik politischer Demonstrationen hinüber.‘ Wahrheit wird zugleich argumentierend wie performativ, aufzeigend wie setzend generiert, ein Verfahren, das Brecht und Walter Benjamin etwa zeitgleich als eine ,juristisch-physikalische Schreibweise“ diskutierten: „sie muss die realität weniger aufsuchen als für die beweisend sie zurechtkonstruieren“.2
Mehr noch als Die heilige Johanna der Schlachthöfe dürfte Brechts Stück Die Mutter (1933) von den Erlebnissen des 1. Mai 1929 angeregt worden sein (vgl. Mittenzwei 1986: 369). Hier steuert die diskursive Argumentation des Dramas tatsächlich auf eine finale Demonstration zu. Diese liefert dann in ihrer historischen Verankerung innerhalb der russischen Oktoberrevolution den eindringlichsten Beweis der zu erlernenden Quintessenz dieses „Höhepunkt(s) aller Lehrstücke” (Mayer 1996: 188): Eine andere Welt ist möglich, wenn erst die Dynamik disziplinierter Proteste zum Generalstreik und zur Revolution fort-schnellt. Die zweite zentrale Demonstrationsszene des Stücks, die im Russland des Jahres 1905 angesiedelt ist, dient ebenfalls als Exempel: Der friedliche Protest eskaliert durch Polizeigewalt und zeigt somit innerhalb der Beweisführung des Dramas, dass der reformistische Weg der Verhandlungen weder möglich noch hinreichend ist. So resümiert der Gewerkschaftler Smilgin, als die vordere Reihe der Demonstranten schon durch Schüsse zu Boden geworfen ist:
„Wenn wir unsere Macht vermehrten, dachte ich, würden wir mitzubestimmen haben. Das war wohl falsch. Jetzt stehe ich hier, hinter mir sind es schon viele Tausende, aber vor uns steht wie-der die Gewalt.” (GBA 3: 283)
Diese etwas eigentümliche Erkenntnis wird während einer Demonstration vorgetragen und ist somit – wie im Fall der Heiligen Johanna – gleichsam Teil der Protestbekundungen und dadurch geschützt vor dem Wahrheitsanspruch diskursiver Rationalität, die ansonsten Brechts Terminus „wissenschaftliches Theater” nahe legt. Der Charakter einer argumentativ vorgetragenen Anklage wurde 1932 in der Uraufführung des Stücks zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die Demonstrationsszene durch die Schauspieler so gesprochen wurde, „als stünden die Betreffenden vor Gericht” (GBA 24: 119). Anders als Maxim Gorki, dessen gleichnamiger Roman aus dem Jahre 1906 dem Drama als Vorlage diente, und anders auch als dessen Dramatisierung durch Günther Weisenborn und Günther Stark, auf die Brecht zurückgriff, verzichtet Brecht auf eine möglichst unmittelbare, einfühlende Darstellung der Demonstration und sucht in der epischen Rückschau (etwa durch Einführung einer Figurenrede mit „Er sagte:”) die berichtende Distanz (vgl. Knopf 2001: 302). Der Erlebniswert und die Ereignishaftigkeit der politischen Demonstration wird sekundär gegenüber ihrem zweiten Charakterzug: dem „gedanklich gegliederte(n)” Protest (Pross 1992: 150), der für die demonstrative Rhetorik des gesamten Stücks bezeichnend ist. Die episch durchgestaltete Demonstrationsszene erzwingt den Akt des Zeigens schon allein durch die Figurensprache und avanciert so zu einem Musterbeispiel der von Brecht eingeforderten neuen, weder einfühlenden noch illusionistischen Schauspielkunst, sodass die Schauspieler in dieser Szene kaum einen Fehler machen konnten (vgl. GBA 24: 172f.). Dies, wie überhaupt die Logik politischer Demonstration, mag Brecht veranlasst haben, sein Konzept epischer Schauspielkunst in den Anmerkungen zur Mutter (1933) entscheidend zu radikalisieren. Wie selten zuvor insistiert er hier auf das „Sich-Bemerkbar-Machen” der Schauspieler: Ihnen wird da-durch, wie Brecht am Beispiel der Darstellerin der Protagonistin ausführt, in propria persona die Möglichkeit gegeben, die gezeigte dramatis figura individuell zu kommentieren und politisch zu kritisieren (GBA 24: 119). In der Adaption des Konzepts der Selbstvertretung werden die Schauspieler seines Theaters damit, über die Ansprüche eines zeigenden, „wissenschaftlichen Theaters” hinaus, zu veritablen politischen Demonstranten. Auch wenn Brecht die strukturelle Prägung durch das Modell politischer Straßenproteste an keiner Stelle thematisiert, bewegt sich seine Ästhetik des Demonstrativen fortwährend im Schnittfeld wissenschaftlicher wie politischer Demonstration. Diese semantische Unschärferelation hat sich der Wortkünstler Brecht gekonnt, wenn auch stillschweigend, zu eigen gemacht.

Die Demonstration und ihre Rhetorik bei Peter Weiss

In der „Vorstudie” zu seinem Dokumentarstück Viet Nam Diskurs vermerkt Peter Weiss: „Der Spielstil ist der einer Demonstration.” (NB 2, 530) Vor dem Hintergrund der Bühnenwerke über Kolonialismus und Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt” gerät der in Weiss‘ Notizbüchern mehrfach wiederholte Begriff „Demonstration” in eine ähnliche Zone wie bei Brecht: Er changiert zwischen seiner wissenschaftlichen und seiner politischen Kodierung.
Peter Weiss‘ 1968 uraufgeführter Viet Nam Diskurs ist eine Zuspitzung all jener Tendenzen, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die künstlerische Produktion und die politische Biographie des Autors markierten. Das Stück ist häufig als politisches Manifest rezipiert worden, das in erster Linie Weiss‘ Solidaritätsbekundung mit den Befreiungskämpfen in der Dritten Welt inszeniere. Bereits ein flüchtiger Blick auf den Paratext (der explizit genannte ,wissenschaftliche` Beirat, der epische Titel der an eine theoretische Abhandlung erinnert) verdeutlicht, dass das Vietnam-Stück in ein diskursives Umfeld gehört, das sich nach den Regelsystemen historischer, politischer und sozioökonomischer Analyse gestaltet. Ähnlich der Brechtschen Dramengestaltung, tritt auch hier der demonstrative Charakter in Form einer thetischen Beweisführung3 hervor. Diese will bei Weiss — durch den diskursiven Einsatz von Argumenten in einer dokumentierenden Zitatmontage — die ,objektiven` Mechanismen von Herrschaft und Unterdrückung als strukturelle Gewalt freilegen. Zusätzlich hervorgehoben wird das wissenschaftliche, zeigende Verfahren durch seine mediale Disposition, etwa durch die auf die Bühne projizierten Leuchtbilder, den bereits in früheren Stücken eingesetzten Zeigestab, die Karten und Statistiken. Auch die expliziten Quellenangaben des verwendeten Datenmaterials, vor allem im zweiten Teil des Stückes, sowie dessen Gliederung in verschiedene Stadien heben nachdrücklich den wissenschaftlichen Aspekt hervor (vgl. Cohen 1992: 183).
Darüber hinaus ist der Dramentext in knappen, auf anonyme und durchnummerierte Bühnenfiguren verteilten Sentenzen angeordnet und in seiner Argumentationsstruktur logisch-kausal verknüpft. Die in Thesen und Antithesen gegliederte Diskursbewegung vollzieht sich dabei vom konkreten historischen Beispiel Indochina zum verallgemeinerten Modell: Geschichte als Geschichte von Kraftfeldern und Klassenantagonismen. Damit wird nicht nur das Spannungsfeld der „wissenschaftlichen Erörterung” (Peter Weiss zit. nach Gerlach 1986: 137) zwischen Demonstration am Exemplarischen und anschließender Abstraktionsleistung aufgezeigt, sondern auch geschichtsphilosophische Konsequenzen impliziert. Diese sollen in die Erkenntnis der Notwendigkeit der Veränderung münden, wie es der Schlusschor des Dramas politpädagogisch verlautbart: „Wir zeigten/den Anfang/der Kampf geht weiter” (St II.1: 264).
Das betont Aufklärerische — das Aufdecken des „Netz[esJ der ökonomischen Interessen” (Weiss 1968: 168) — und das Rationale der „demonstrierenden Reihen-Technik” (Karnick 1984: 229) auf der informierenden Ebene des Dramentextes werden indes unterminiert von einer tiefer liegenden Struktur. Augenfällig ist die dramaturgische Verarbeitung einer Ikonographie und medialer Techniken, die auf das Zeichenarsenal politischer Demonstrationen verweisen. Die dem wissenschaftlichen Duktus folgende Textökonomie der knappen „Spruchbandsentenzen” (Durzak 1972: 311) wird szenisch vielfach durch Spruchbänder, Transparente und Sprechchöre artikuliert. Dem Handlungsmuster politischer Demonstrationszüge vergleichbar, präsentiert sich die Figurenrede rhythmisiert und skandiert, gelegentlich verstärkt durch ein Megaphon. Jeweils zu Beginn der Szenen ;,Stadium V“ und „VI” prozessiert der die ,Unterdrückten` repräsentierende Chor in Reihenformation Richtung Bühnenmitte und erzeugt förmlich den Eindruck eines Demonstrationszuges. Nicht zuletzt durch die kollektive Vorwärtsbewegung wird choreographisch eine Forrn der Vergemeinschaftung inszeniert, wie sie ansonsten politische Straßenproteste erzeugen (vgl. Warneken 1991: 104); ebenso wird die Solidarität zwischen Ausgebeuteten „chorisch” verkörpert (vgl. Horn/Warstat 2003: 411).4 Zu keinem Zeitpunkt jedoch kommt es in der Weiss’schen „Bewegungsdramaturgie” zu einer abbildhaften Darstellung ,realer` Demonstrationsszenen. Auf sie verweist lediglich die kartographische „Versuchsanordnung” (Howald 1999: 189) des nach Himmelsrichtungen gegliederten, ,eingekerbten` Bühnenraums.
Die beiden aufgezeigten Varianten demonstrativer Dramatik – die Demonstration des ,objektiven` Funktionszusammenhangs von Klassenherrschaft (und -kampf) und die dramaturgischen Übernahmen der Medialität politischer Demonstrationen – stehen da-bei in einem Spannungsverhältnis, das die diskursiv-rationale Wahrheitsdemonstration verschiebt: hin zu einer tiefer liegenden Ebene des bloßen Zeigens. Hier entfaltet der dramatische Text eine wahrheitspolitische Dimension von Evidenz, die von einer Rhetorik generiert wird, die präziser als eine Rhetorik der Persuasion auszuweisen wäre. Inmitten der Skizzen zu einem geplanten globalen Theater in der Tradition der Danteschen Divina Commedia hatte Weiss folgenden Eintrag notiert: „Alles überdeutlich konkret Demonstration.” (NB 2: 501) Die nicht zuletzt durch den Kontext der Antivietnamkriegsbewegung und des Engagements für die Dritte Welt merkwürdig schillernde Konnotation des Begriffes „Demonstration” lässt hier seine doppelte – politische und ästhetisch-formale – Färbung durchscheinen. Es ist dieses obsessive Moment des Auf-Zeigens, des plakativ „Überdeutlichen”, das sich vor die diskursive Aussage schiebt und diese in eine formelhafte Parole umwandelt. Die agitatorische Qualität (und damit die operative Wirkung) des Stückes resultiert – entgegen der Auffassung vieler Kritiker – nicht aus der Überzeugungsarbeit der Argumentation, sondern wird als ein Produkt der Rhetorik demonstrativen Zeigens inszeniert. Das auffälligste rhetorische Verfahren dafür ist die imperative Endlos-schleife der Tautologie. Die Parole steht für die Parole. Der Demonstrations-Slogan verweist auf sein Skandiert-Sein. In Weiss‘ demonstrativer Dramatik unterliegt die diskursive Argumentation somit einer performativen Wendung, indem sie gleichsam im Vollzug ausgestellt wird: Ohne ausgeprägte Figuration, Fabel und referentielle Darstellungsleistung vollzieht der Viel Nam Diskurs die Abwicklung einer Demonstration im – wie eine zeitgenössische Rezension konstatierte –„Stil von Vollzugsmeldungen“ (zit. n. Best 1971: 163). Hatte Brecht noch seine argumentative Beweisführung einer Fabel unterlegt, radikalisiert Weiss die Brechtsche Demonstrationsästhetik, indem der Argumentationsvollzug selbst zum zentralen Spielgeschehen wird. Das Argument erhält also seinen ursprünglichen Status als „kleines Schauspiel” (lat. argumentum) (vgl. Barthes 1977) zurück; die Rhetorik der Demonstration avanciert somit zum eigentlichen Thema des Stückes.

Ein unspektakulares Theater

In ihrer Konzentration auf die Textebene grenzt sich Weiss‘ dokumentarische Dramenkonzeption deutlich von der zeitgleichen Happening- und Aktionskunst der späten 1960er
Jahre ab (vgl. Schilling 1978). Dort ist Performativität – wie neuerdings gezeigt werden konnte – weniger an Textualität gebunden, als an Körperempfinden, Zeiterlebnis, Raumwahrnehmung und Materialität der Aufführung (vgl. Fischer-Lichte et al. 1998: 11). Das Selbstverständnis vieler politischer performances als direkter Eingriff in die Wirklichkeit sozialer Verhältnisse – die neoavantgardistische Wunschphantasie der „Überführung von Kunst in Lebenspraxis” (Bürger 1974: 72) – drängte oftmals nach einer ,Unmittelbarkeit`, der das Theater nur schwerlich entsprechen konnte. Vergegenwärtigt man sich diesen kulturrevolutionären Impetus einer regelrechten Ereignisfixiertheit, von Erlebnis-und Erfahrungshunger, wo – in der Terminologie Adornos –„Reflexionszeit“ in „Aktionszeit” umschlug (vgl. Scherpe 2002: 276, 285) und künstlerische Praxis sich im spontanen Hier und Jetzt, im Herstellen von „Situationen” verausgabte, dann erscheinen auch die teils polemisch geführten Theaterdebatten im Umkreis der sich radikalisieren-den Studentenbewegung (Peter Handkes Ausspielen der „Theatralisierung der Wirklichkeit” gegen das „Theatertheater”) in einem neuen Licht.
Auch die Demonstrations- und Protestkultur der „antiautoritären” Bewegung war besonders fasziniert von der ,Straße`, die, von den Möglichkeiten einer „Gegenöffentlichkeit” bis zur Herbeiführung einer unendlichen Vielfalt von Ereignissen, einen Raum der radikalen Öffnung innerhalb einer „formierten Gesellschaft” (Ludwig Erhard) suggerierte. „Für die 68er war die Demonstration der Schauplatz, auf dem die Wahrheit sich konkret zeigte.” (Bolz 1998: 93) Die durch körperliche Präsenz hergestellte Authentizität in den Massendemonstrationen gegen den Krieg im Vietnam verschaffte den Teilnehmern eine Erfahrungswirklichkeit, die als performative Medienkonkurrenz den Happenings gewissermaßen die Brisanz entzog (vgl. Jappe 1993: 19).
Peter Weiss‘ kurz nach der Uraufführung seines Vietnam-Stückes veröffentlichten Notizen zum dokumentarischen Theater lesen sich vor diesem Hintergrund weniger als produktionsästhetische Richtlinien, denn als ein dem Viet Nam Diskurs nachgeschobener Werkstattbericht über die Versuche einer ,Rettung` des Theaters vor der konkurrierenden Happeningkultur und Demonstrationspraxis. Nicht ohne Faszination – und mit einer medienanalytischen Sensibilität für die Performativität von Straßendemonstrationen – schreibt er:
„Die Kundgebung auf offener Straße, das Verteilen von Flugblättern, das Vorgehen in Reihen, das Eindringen in ein breites Publikum, dies sind konkrete Aktionen von direkter Wirksamkeit. In ihrer Improvisation sind sie von starker Dramatik, ihr Verlauf ist nicht abzusehen, in jedem Augenblick können sie sich verschärfen im Zusammenstoß mit den Ordnungsmächten, und somit den gewaltsamen Widerspruch in den gesellschaftlichen Verhältnissen kennzeichnen.” (NdT: 95)
Analog zur politischen Versammlung im Freien, so wird bereits kurz zuvor argumentiert, reagiert auch das dokumentarische Theater auf die Gegenwart mit der Intention diese zu „klären”. Allerdings sei dem Theater als Kunstmedium ein Sekundäres eigen, das den „Wirklichkeitsgehalt einer authentischen politischen Manifestation” (NdT: 95) weder kopieren (daher auch die Unmöglichkeit einer theatralen Darstellung von Demonstrationsereignissen), noch zur Authentizität der Straße in ein Konkurrenzverhältnis treten kann. Insofern wird hier ein Theater angestrebt, das nicht im „Zentrum des Ereignisses“ (NdT: 97) steht, sondern die Position des Beobachters etabliert. Damit versperrt es sich der Verführungskraft des diffusen Erfahrungsrausches, der „emotionalen Anteilnahme” eines „politisch gefärbten Happenings” (ebd.), dem Weiss im Übrigen eine besondere Affinität zur Straßenkundgebung zuerkennt. Die Gegenstrategie des Dokumentartheaters entfaltet das Vietnamstück in der äußersten Verknappung des Demonstrationsgeschehens auf seine Sprachlogik, auf sein rhetorisches Grundgerüst, das auf die Theaterbühne gebracht wird. So gelingt es dem Viet Nam Diskurs durch die Zurschaustellung der Rhetorik der Demonstration, ein distanzierendes Moment einzubringen, das die Realität der Demonstration in ihrer „Ausdrucksform” (NdT: 95) aufzeigt. Damit wird nicht — wie etwa bei Brecht vorstellbar — die ,kämpferische` Haltung der Demonstranten gestisch auf Distanz gebracht, sondern das Theater wird zur präzisen Beobachtungsinstanz der Sprache selbst, die auf der demonstrativen „Bühne der Öffentlichkeit” gesprochen wird (NdT: 95). Gerade dadurch aber bietet Peter Weiss der politischen Demonstration auf der Theaterbühne ein Refugium.
In der Konsequenz wird also nicht nur die ästhetische Institution des Theaters vor der restlosen Vereinnahmung durch die auf Unmittelbarkeit abzielende direkte politische Aktion verteidigt. Weiss‘ dokumentarische Theaterarbeit bewahrt zugleich die Demonstration vor ihrer kulturindustriellen Vereinnahmung durch die ,bürgerlichen` Massenmedien, die lediglich das Sensationsbild des Augenblicks, wie Weiss an anderer Stelle generalisierend vermerkt, aus ihr herausreißen (vgl. NB 1: 417). Somit richtet sich das Weiss’sche Dokumentartheater auch insgesamt gegen eine Ordnung der Repräsentation, die — beispielsweise in der Pressefotografie und medialen Logik der Fernsehbilder — die Ikonizität von politischem Rebellentum und die Ereignishaftigkeit politischer und ästhetischer Militanz ausschlachtet und den Widerstand in marktkonforme Formate einbettet und entkräftet. Auch das globalisierungskritische Theaterstück Genua 01 von 2002 inszeniert eine kritische Perspektive auf die spätmoderne „Gesellschaft des Spektakels” (Guy Debord). Im Unterschied zu Weiss jedoch werden jene Medienformate selbst auf der Bühne zitiert und der organisatorische Aufbau medialer Ereignisproduktion dekonstruiert — eine Ästhetik des Demonstrativen in der dritten Generation.
1 Vgl. den Definitionsversuch politischer Demonstration von Harry Pross: „Indem sie [die Protestierer – C.H/P.R.] eines der beiden streitenden Prinzipien, Protest oder Demonstration, deren physischer Träger sie sind, oder beide intensiv bezeugen, verlassen sie das bloß Vorgestellte und realisieren es. Sie sind das Bild, das sie sich für eine Sache vorstellen. […] Was als Veranschaulichung begann und aussah wie ein anderes visuelles Medium, erweist sich am Ende, indem der Mensch selber Signal wird, als eine mystische Verwirklichung.” (Pross 1992: 196)
2 Nach Hinweis Erdmut Wizislas. Auszug aus einem Gespräch zwischen Benjamin, Brecht und Ihering, um 1930. Bertolt-Brecht-Archiv 217/07f. Vollständiger Abdruck in: Wizisla 2003 (i.E.).
3 Es wäre zu zeigen, dass es sich hier nicht um eine vielfach von Kritikern bemängelte ,behauptete‘ Beweisführung handelt, sondern um ein demonstratives Verfahren des Indizienbeweises und der Dokumentation des Faktischen, das einer bestimmten diskursiven Logik folgt, einer Nachahmung historiographischer, sozialwissenschaftlicher und politologischer Texte. Aus Platzgründen kann diese Analyse im Detail hier nicht geleistet werden.
4 Wir folgen hierin dem Interpretationsansatz Stefan Howalds, der den Viel Nam Diskurs theatergeschichtlich als „theatertechnischen Versuch [liest,] eine neue Form für ein altes Thema zu entwickeln, nämlich soziale Massenaktionen typisierend auf die Bühne zu bringen.” (Howald 1999: 176, 188ff.)

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