Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Der Unsinn eines sozialen Pflicht­dienstes

Eine Erwiderung auf Michael Opielka (vorgänge 164)

In: vorgänge 165 (1-2004) S. 133-135

Die Idee eines verpflichtenden staatlichen Sozialdienstes gehört zu den periodisch immer wieder auftauchenden Konzepten, denen eine Lösung für alle möglichen gesellschaftlichen Missstände der Gegenwart zugeschrieben wird. In der letzten Ausgabe der vorginge versucht nun Michael Opielka, einen solchen Sozialdienst theoretisch zu begründen (Opielka 2003). Er trifft damit eine Stimmung, die von Politikern wie den Ministerpräsidenten Koch, Steinbrück, Böhmer und früher Gabriel aufgegriffen wurde und wird. Leider offenbaren derartige Gedanken einen erstaunlichen Mangel an Sachkenntnis. Als Praktiker – ich bin seit 30 Jahren Vorstandsmitglied des Sozialen Friedensdienstes Bremen mit derzeit 70 Zivis und 70 FSJ-Freiwilligen und ebenso lange Mitglied im Beirat für den Zivildienst in Bonn – möchte ich die Frage eines Pflichtdienstes deshalb nüchtern zurecht rücken.
Praktisch nicht organisierbar
Zur Zeit gibt es in Deutschland ca. 95.000 wehrpflichtige Soldaten und ebenso viele wehrpflichtige Kriegsdienstverweigerer, die Zivil-dienst leisten, außerdem ca. 10.000 junge Männer, die andere Ersatzdienste leisten, vor allem
im Katastrophenschutz. Rechtsgrundlage ist die nach Art. l 2a GG mögliche, im Wehrpflicht-und Zivildienstgesetz geregelte Wehrpflicht. Wollte man einen von der Wehrpflicht unabhängigen sozialen Pflichtdienst einführen, könnte man nicht mehr nach den Kriterien militärischer Tauglichkeit nur die auswählen, die einberufen werden sollen. Vielmehr müsste man außer den 5-10% ernsthaft behinderten jungen Menschen jeweils den ganzen Geburtsjahrgang dienen lassen – und zwar wegen Art. 3 GG so-wohl junge Männer und als auch junge Frauen. Das wären derzeit ca. 800.000 junge Menschen; d.h. ohne die, die zum Militär einberufen wer-den, wären es immer noch fast siebenmal mehr als heute. Wer soll das organisieren? Wer soll das bezahlen? Was sollen die dann überhaupt tun? Schon einfache praktische Überlegungen zeigen, wie weltfremd die Überlegungen zu einem Pflichtsozialdienst sind.
Wer etwas besser Bescheid weiß, denkt dann – Opielka zitiert dafür Warnfried Dettling (ebd.: 114) – an einen Pflichtdienst nur für Männer und einen freiwilligen Dienst für junge Frauen. Doch so einfach ist das nicht. Entweder bleibt man bei der Rechtsgrundlage Wehrpflicht – dann ist es das, was wir derzeit haben und was mangels Wehrgerechtigkeit sowieso nicht -nehr
haltbar ist. Oder man will alle jungen Männer verpflichten, dann stößt man an die Grenzen von Art. 3 GG und muss den Pflichtdienst auch für junge Frauen einführen mit den gerade geschilderten Schwierigkeiten der nicht zu bewältigenden Größenordnung.
Dazu gehören dann auch die Kosten. Der Zivildienst mit 95.000 Zivis kostet im Jahr 850 Millionen Euro ohne die im Zivildienstetat nicht enthaltenen Kosten für Erfassung, Musterung und Repression, um die Dienstleistung durchzusetzen. Diese Kosten des Bundes müssten bei einem allgemeinen Pflichtdienst vervielfacht werden. Hinzu kämen hohe Investitionen für neue Unterkünfte, Schulen und Ämter. So billig, wie manche Milchmädchenrechnungen vortäuschen, ist der Zivildienst nämlich nicht. Zwar zahlt eine Einsatzstelle, die ihren Zivi korrekt behandelt, im Durch-schnitt nur ca. 7.000 Euro im Jahr. Aber dazu kommen eben die staatlichen Ausgaben von ca. 8.000 Euro je Zivi, die um der Wehrpflicht willen vom Bund aufgebracht werden. Volks-wirtschaftlich sind die ständig wechselnden Zivis wenig billiger als kontinuierlich tätige ungelernte Kräfte, die Steuern und Sozialabgaben zahlen. Aber die Dienstpflicht schadet vielfach durch Zeit- und Motivationsverlust den jungen Menschen, die in Deutschland so-wieso zu spät in den Beruf kommen.
Das Recht setzt die Grenzen
Schwer verständlich ist Opielkas Rückgriff auf Luchterhand, der das Überleben des Pflichtgedankens in Deutschland trotz des NS-Missbrauchs feststellt (ebd.: 118): Was hat da über alle politischen Umwälzungen hinweg überlebt und noch einmal seine tiefe Verwurzelung gezeigt? Die Leibeigenschaft des Mittelalters, als der Fürst der Staat war? Oder die Knechtschaft der Menschen in den Kolonien, deren Menschen die Pflicht mit der Nilpferdpeitsche ein-gebläut werden sollte? Oder der NS-Arbeitsdienst? KZs werden ja schwerlich gemeint sein können. Und die vielen pseudofreiwilligen
Dienste in der DDR dürften auch nicht als Beleg für die tiefe Verwurzelung des Pflichtgedankens taugen. Ich sehe keinen überlieferten Pflichtgedanken, der noch so schön geschmückte Arbeitsdienste rechtfertigen könnte, sondern nur fatale Überreste obrigkeitsstaatlichen Denkens.
Opielka beruft sich schließlich auf die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die Pflichten in das Grundgesetz aufnehmen wollten. Sie wollten das nicht nur, sondern haben das getan. Es ist im heutigen Art. 12 GG nachzulesen. Ich empfehle das, denn der Zusammenhang ist entscheidend. Garantiert wird das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Verpflichtet werden darf nur im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen Dienstleistungspflicht. Da geht es in der Tat um die Notfälle, die Opielka meint, wenn es brennt, wenn ein Deich gefährdet ist oder ähnliches anliegt. Aber das rechtfertigt keinen umfassenden Pflichtdienst.
Von den praktischen Fragen ausgehend bin ich damit immer mehr zu den rechtlichen gekommen. Mit Art. 12 GG ist ein allgemeiner verpflichtender Sozialdienst nicht vereinbar. Aber selbst wenn man das Grundgesetz ändern wollte, bliebe ein Pflichtdienst unzulässig. Die Kommission zur Zukunft der Zivilgesellschaft hat gerade darauf hingewiesen, dass Pflichtdienste auch durch Völkerrecht verboten sind. Da Opielka den Verweis von Lutz auf das ILO-Abkommen zitiert (ebd.: 117), müsste er die internationale Rechtslage kennen. Er kümmert sich aber nicht darum. Deshalb möchte ich ergänzen: Nicht nur Art. 12 GG und Art. 2 des Übereinkommens über Zwangs- und
Pflichtarbeit der International Labor Organ i-
sation verbieten Zwangsdienste. Ebenso stehen insbesondere dagegen: Art. 23 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (10. Dezember 1948); Art. 8 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (19. Dezember 1966); Art. 6 und 7 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (19. Dezember 1966); Art. 4 Konvention zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats (4. November 1950); Art. 1 Europäische Sozialcharta (18. Oktober 1961).
Mit den internationalen Schutzrechten können wir Deutschen nicht beliebig umspringen. Sie sind vereinbart worden gegen Kolonialismus, Stalinismus und Nationalsozialismus/Faschismus. Das einzige Land, das an allen drei Formen der Unterdrückung beteiligt war, ist Deutschland: Kolonialismus bis zum 1. Welt-krieg, Nationalsozialismus und in der DDR zusätzlich noch Stalinismus. Dass ausgerechnet wir diese internationalen Abkommen brechen, ist undenkbar. Mehrfach habe ich erlebt, dass Politiker ihre forschen Sprüche für eine Dienstpflicht sofort beendeten, wenn sie genauer in Kenntnis gesetzt wurden. Dass die Diskussion trotzdem immer wieder aufkommt, zeigt, wie politisch, historisch und rechtlich unbedarft viele daherreden, die eigentlich alle Möglichkeiten haben, sich umfassend zu in-formieren. Gerade in einer Zeitschrift, die den Bürgerrechtsgedanken in ihren Mittelpunkt stellt, muss der Dienstpflicht daher entschieden widersprochen werden. Dabei hat Opielka natürlich Recht, wenn er in den Reden vom aktivierenden Staat einen Schritt in Richtung Dienstpflichten sieht – auch hier wäre eine kritische Auseinandersetzung dringend geboten.
Freiwilligkeit statt Zwang
Es bleibt die berechtigte Frage, wie soziale Verantwortung als moralische Verpflichtung
gefördert werden kann. Die Antwort ist ganz einfach: durch Vorbild. Diejenigen aber, die heute von Wehrpflicht und anderen Pflichten reden, denen sich zu unterziehen die jungen Menschen lernen müssten, sind nicht mit entsprechendem Vorbild voran gegangen. Meines Wissens haben weder der Bundespräsident noch sein Vorgänger, weder der Bundeskanzler noch sein Vorgänger, noch die meisten Minister und Abgeordneten Wehr- oder Ersatz-dienst geleistet.
Daher mein Vorschlag: Wer mehr Sozial-dienst will, sollte einmal in seinem Beruf ein Jahr aussetzen und freiwillig nur gegen Verpflegung und Taschengeld gemeinnützig irgendwo mithelfen. Das gute Beispiel wird sich auswirken. Und bis es so weit ist, sollten wenigstens die Möglichkeiten der Freiwilligendienste so ausgebaut werden, dass alle mitmachen können, die das wollen, Zur Zeit suchen viele vergeblich nach einer Möglichkeit, ein Freiwilliges Soziales Jahr, ein Freiwilliges Ökologisches Jahr oder europäischen Freiwilligendienst zu leisten. Junge Menschen wollen sich durchaus mehr engagieren, als viele Ältere denken – und sie tun dabei in der Regel mehr aIs die meisten Älteren.
Literatur
Opielka, Michael 2003: Aktivierung durch Ver-
pflichtung? Von der Pflicht zur Erwerbsarbeit
zur ldee eines Sozialdienstes; in: vorgänge 164 (H. 4/2003 — Dezember), S. 113-120

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