Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Unser Adorno

Ein Wegweiser durch die Publikationsflut im 100. Geburtsjahr des Philosophen

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 128ff

Nun ist er endgültig einer von uns geworden: ein geheiligtes Kulturgut, Dauer-Aspirant je-der Hitparade der hundert berühmtesten Deutschen; gleichzeitig entrückt, der tagesaktuellen Auseinandersetzung enthoben und in den Erinnerungen der Zeitgenossen seltsam verklärt – so steht es zum hundertsten Geburtstag des Multitalents und „letzten Genies” Theodor W. Adorno. Die Stadt Frankfurt am Main, die noch vor einigen Jahrzehnten den organisatorisch begabteren, philosophisch aber blasseren Max Horkheimer mit der Ehrenbürgerwürde auszeichnete, in der Annahme, in ihm das Haupt jener Schule zu ehren, die dem Namen Frankfurts international intellektuelle Anerkennung verschaffte, weiß es heute besser und hatte für 2003 das Adorno-Jahr ausgerufen. Begangen wurde es mit einer nicht abreißen wollenden Fülle von Konferenzen, Lesungen, Diskussionen, Ausstellungen und Vorführungen. Vergangen waren die Auseinandersetzungen der sechziger Jahre, vergessen die christdemokratischen Invektiven der siebziger. Unser Adorno wurde jetzt historisiert, seltsam fern schienen die Emotionen, welche die Auseinandersetzungen um Werk und Wirkung des Meisters einmal begleiteten, und nur unterschwellig machte sich der Reflex zum Nachtreten noch bemerkbar. Die Domestizierung des einstmals kritischen Impulses erlaubt die Verwaltung des Erbes; allenfalls am Rande wird die Frage abgehandelt, was bleibt. Die Diskussion der Nachwirkung oder Aktualität Adornos, die doch überhaupt erst Begründung dessen sein kann, was jenseits bloßer Historisierung zum Gedenken und Nachdenken gereicht, wird eher am Rande geführt (vgl. Honneth 2003; Fischer/Ottow 2002).
Die drei biographischen Versuche von Lorenz Jäger, Stefan Müller-Doohm und Detlev Claussen haben – bei aller Unterschiedlichkeit – denn auch eines gemeinsam: sie verlieren kaum ein Wort über die Aktualität Adornos und sind eher Elemente einer Historisierung als Befragungen des Bleibenden. Bei Müller-Doohm und Claussen ist das Bleibende die eigene Biographie; beide haben in jungen Jahren bei Adorno studiert, und die biographischen Annäherungen an Adorno sind gleichzeitig autobiographische Aufarbeitungen erlebter Faszination in den späten sechziger Jahren. Für beider intellektuelle Entwicklung mag Adorno wegweisend gewesen sein, und in beiden Werken ist, bei aller Unterschiedlichkeit der Ausrichtung und des Stils, ein wenig von der Prägekraft zu spüren, die der Lehrer auf seine Studenten ausübte.
Von dieser Pose des leisen Danks ist Jäger, der jüngste der drei Autoren, in keiner Weise eingenommen.

Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie, Deutsche Verlags-Anstalt: München 2003, 319 5., ISBN 3-421-05493-2; 22,90 Euro

Der FAZ-Redakteur Jäger geht unprätentiös an Adorno heran, auch mit dem Mut zur Lücke, die mit dem Verweis auf die „politische Biographie” durchaus Rechtfertigung finden mag. Seiner Darstellung wird man, trotz eines gewissen Respekts vor der Lebensleistung und dem Denken Adornos, eine Vorliebe für das Zitieren pejorativer Bemerkungen Dritter über Adorno nicht absprechen können, auch nicht einen Hang zu flotter Kritik und schnellem Verdikt, beides eher hemdsärmelig vorgetragen. Es ist diese Attitüde, die das Buch für Adorno-Neulinge attraktiv macht, die aber andere Leser genervt auf der Palme wohlfeiler Entrüstung zurücklässt (vgl. z.B. Sezgin 2003). Und doch: War man bislang bei der Frage, wo man einen einführenden und verständlichen Überblick über Leben und Werk Adornos finden könne, angesichts der Qualität der bis dato kursierenden „Einführungen” (Wiggershaus 1987; Scheible 1989; Schweppenhäuser 1996) zu verlegenem Schweigen verurteilt, kann jetzt mit halbwegs gutem Gewissen auf Jäger verwiesen werden. Seine Respektlosigkeiten und sein unablässiges Bemühen, Adorno auf Normalmaß zu stutzen, stören zwar ein wenig und man wird den Verdacht nicht los, als handle Jäger in Notwehr. Auch die Grundthese des Buches, Adorno habe sich zeitlebens mit der Welt und der geistigen Konstellation seines Geburtsjahres auseinandergesetzt, vermag nicht vollends zu überzeugen. Jäger hat als Titelbild jene berühmte Photographie verwendet, die Adorno mit dem Selbstauslöser vor einem Spiegel sieht. Dem Buch wäre es gut bekommen, hätte der Autor auch einmal „hinter den Spiegel” (Minima Moralia) geschaut.
Von Unbotmäßigkeiten gegenüber Adorno ist Müller-Doohms Biografie weit entfernt.

Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie, Suhrkamp Verlag: Frankfurt/M. 2003, 1032 S., ISBN 3-518-58378-6; 29,90 Euro

Uber die abgründigeren Seiten Adornos geht der Autor gnädig hinweg, etwa wenn er die in einem Schreiben an Horkheimer 1937 enthal-
tenen Invektiven gegen Marcuse unerwähnt lässt, die ein schlechtes Bild auf Adorno eher denn als auf Marcuse werfen. Müller-Doohms Werk ist gewichtig, umfangreich, es ist eine „offizielle” Adorno-Biographie: faktenreich und meinungsarm (bei Jäger war es umgekehrt) bietet Müller-Doohm eine erschöpfende Dokumentation von Leben und Werk des Frankfurter Denkers. Es ist linear geschrieben, offiziös, zurückhaltend; beinahe gravitätisch schreitet der Erzählstrom voran, gründlich – allein auf 175 Seiten wird in Endnoten belegt, annotiert, verwiesen –, ausgreifend, quellengesättigt, stetig und zuverlässig: ein monumentales Werk das Maßstäbe setzt, an denen die Beschäftigung mit Adorno sich wird messen lassen müssen.
Wieder eine andere Perspektive erscheint bei Detlev Claussen.

Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, S. Fischer Verlag: Frankfurt/M. 2003, 479 S., ISBN 3-10-010813-2; 26,90 Euro

Claussen interessiert nicht das biographische Detail, sondern der Text, den er zum Sprechen bringen will. Er umkreist Adorno, stellt ihn und sein Denken in immer neuen Konstellationen vor; beinahe absichtslos mäandert seine Darstellung aus, überschneidet und wiederholt sich, ein gewaltiger Essay, eine Hommage an das Denken Adornos in der eleganten Demonstration der Schwierigkeit identifizierenden Denkens: eine anregende Lektüre für Fortgeschrittene, durchaus auch mit Aspekten, die bei Müller-Doohm so nicht nachzulesen sind (etwa die gründliche Recherche zum Verhältnis von Adorno zu Fritz Lang).
So erscheinen die drei Biographien als komplementär, Adorno für alle Gelegenheiten, gewissermaßen. Und sie können auch gegen-einander gelesen werden. Warum etwa hat Adorno in der amerikanischen Emigration seinen Vaternamen Wiesengrund abgelegt und wurde zu dem Markenzeichen Theodor W. Adorno? Eine Frage, drei Antworten: Jäger zitiert den bissigen Soma Morgenstern, der sich auslässt über den „rücksichtslos wuchernden
Ehrgeiz“ Adornos, der ihn bewogen hätte, „dem Namen seines Vaters den guten Wiesengrund abzumähen” (S. 61), und lässt es dabei bewenden. Müller-Doohm bringt dagegen den Namenswechsel mit der amerikanischen Einbürgerung Adornos in Zusammenhang und stellt sie in den Kontext des amerikanischen Misstrauens gegen das Deutsche im Zweiten Weltkrieg (S. 451), erwähnt an anderer Stelle darüber hinaus, dass diese Entscheidung auch einen romantisch inspirierten Hintergrund in der Vorliebe Adornos für Adelsfamilien und den von ihm gehegten Verdacht habe, mütterlicherseits selbst genovesischem Adel zu entstammen (S. 34). Claussen wiederum ist der Namenswechsel neben dem Argument der amerikanischen Frontstellung gegen Deutschland Anlass zur philosophischen Spekulation: ihm wird der Name Adorno zum Signum des Nicht-Identischen, hinter dem sich allerdings die Geschichte einer Individualisierung erahnen lasse (S. 173). Ähnlich bei anderen Ereignissen. Wie erklärt sich zum Beispiel das Verhältnis Adornos zu den Studenten in den unruhigen Jahren der Außerparlamentarischen Opposition? Jäger beschwört das Bild das Zauberlehrlings, der die Geister selbst rief, die ihn dann bedrängten (S. 252); Müller-Doohm spricht von einem „Vatermord mit Galgenfrist” (S. 692ff.), und Claussen interpretiert die „aufgeladenen Beziehungen zwischen Adorno und seinen Studenten” vor dem Hintergrund des Endes eines bürgerlichen Subjekts (S. 23). Solcherart könnten die Bei-spiele fortgeführt werden, die auf unterschiedliche Erzähl- und Reflexionstemperamente, auf differierende Zugänge zum Thema deuten.

Eine zweite Gruppe von Neuerscheinungen zielt nicht auf den ganzen Adorno, sondern nähert sich Leben und Werk ausschnittsweise, perspektivisch:

Theodor W. Adorno. Kindheit in Amorbach. Bilder und Erinnerungen, hg. v. Reinhard Pabst, Insel Taschenbuch Verlag: Frankfurt/M.! Leipzig 2003, 227 S., ISBN 3-458-34623-6; 9,50 Euro

Amorbach? Dem kleinen. Städtchen im Odenwald hatte Adorno 1966 eine Reihe kleiner autobiographischer Miniaturen gewidmet, die Staunen machten. Zu wenig wusste man bisher um die innige Beziehung, die Adorno mit Amorbach verband, dem Ort, in dem er in seiner Jugend häufig die Ferien verbrachte. Hier fühlte er sich zu Hause, an mancher Stelle finden sich in seinem Werk Anklänge an hier Erlebtes. All dies wird von Herausgeber Pabst akribisch dokumentiert und mit Bildern versehen. So entsteht eine biographisch-literarische Spurensuche mit erstaunlichen Resultaten, die auch immer wieder zum Schmunzeln anregt.
Eigentlich aber war Adorno Frankfurter, hatte – wie Ludwig von Friedeburg betont – „zu keiner anderen Stadt in seinem Leben eine so enge Beziehung wie zu Frankfurt” (Schütte, S. 186). Hier wuchs er auf, studierte, schrieb seine ersten Kompositionen, seine Dissertation, seine Habilitation; hier lernte er Siegfried Kracauer kennen, der ihm ein Mentor wurde, aber auch Walter Benjamin und Max Horkheimer. Unzweifelhaft hat der Geist der Stadt ihn früh geprägt, wie er selbst auch schon in den zwanziger und dreißiger Jahren durch sei-ne Kompositionen und Musikkritiken eine öffentliche Figur im Frankfurter Kulturleben war. Umso mehr gilt dies natürlich für die „zweite Frankfurter Zeit” nach 1949.

Adorno in Frankfurt. Ein Kaleidoskop mit Texten und Bildern, hg. v. Wolfram Schütte, Suhrkamp Verlag: Frankfurt/M. 2003, 423 S., ISBN 3-518-58379-4; 29,90 Euro

Wolfram Schütte, vormals Redakteur bei der Frankfurter Rundschau, hat viele Dokumente und Erinnerungsstücke gesammelt, Reminiszenzen, Substrate von Adornos Wirken in der Presse; aber auch frühe Musikkritiken, Spie-gelungen Frankfurts in Adornos Werk, Zeitdokumente, polemische Auseinandersetzungen. Schließlich hat er auch einen Blick auf die Texte der Neuen Frankfurter Schule (Eckhard Henscheid, Robert Gernhardt, F. W. Bern-stein) geworfen; dies alles mit dem Vorsatz,
„bei allen lokalen Bezüglichkeiten, die ins Auge zu fassen waren, die Physiognomie von Adornos eingreifend-kritischem Denken, das noch im Ephemersten sich gleich nahe zu seinen innersten Intentionen befindet, nicht aus dem Auge zu verIieren” (S. 409). Ein Frankfurter Antäus war Adorno sicherlich nicht, auch wenn er (was natürlich nur in kleinem Kreis vorgeführt wurde) das lokale Idiom perfekt zu beherrschen wusste; aber eine symbiotische Beziehung zwischen Adorno und Frankfurt wird in Schüttes Kaleidoskop von Texten und Bildern schon deutlich. Zaghaft hatte schon Claussen gefragt, ob man von Frankfurt als einer „geistigen Lebensform” sprechen könne (Claussen, S. 29); nach der Lektüre von Schüttes Buch weiß man: man kann.
Zur geistigen Lebensform Frankfurt gehört auch die von George Steiner einmal als solche apostrophierte „Suhrkamp-Kultur”, zu der Adorno nicht unwesentlich beigetragen hat. Diese beginnt mit einer „produktiven Komplizenschaft” (S. 708) von Adorno und Peter Suhrkamp, die nach Suhrkamps Tod von Siegfried Unseld fortgesetzt wurde. Ausführlich dokumentiert wird diese jetzt in:

„So müsste ich ein Engel und kein Autor sein”. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, hg. v. Wolfgang Schopf, Suhrkamp Verlag: Frankfurt/M. 2003, 767 S., ISBN 3-518-58375-1; 39,90 Euro

Im bei der Lektüre entstehenden Bild mischt sich Geschäftliches (Abrechnungen, Honorare) mit Verlegerischem (Publikationspläne, Korrekturen), Persönliches und Öffentliches, An-fragen an Adornos Expertise finden sich eben-so wie Invektiven Adornos z.B. gegen seinen einstigen Konkurrenten H.H. Stuckenschmidt. Der Ton der Briefe Adornos ist häufig business-like, aber auch herzlich und verbindlich: nichts ist zu spüren von der Angestrengtheit des Stils, die zuweilen in seinen akademischen Briefwechseln hervbrtritt. Hier arbeitet jemand an Ruhm und Nachruhm mit zwei kongenialen
Partnern, hier wird Publikationspolitik gemacht und ein Kapitel der politischen Kulturgeschichte der Bundesrepublik geschrieben. Und hier präsentiert sich ein Adorno, der sehr genau seinen Stellenwert im Verlag, also seinen Marktwert, kennt.
Ein kleines Schatzkästchen für den fortgeschrittenen Adorniten ist die vom Adorno-Archiv besorgte Bildmonographie. Neben vielen unbekannten Fotos enthält der Band eine Reihe von bislang unveröffentlichten Texten, Tagebücher, Aufsätze, Briefe von, an und über Adorno.

Adorno. Eine Bildmonographie, hg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Suhrkamp Verlag: Frankfurt/M. 2003, 309 S., ISBN 3-518-58382-4; 24,90 Euro

Die Lektüre des Bandes ist – anders als bei Schütte und Pabst – nicht voraussetzungslos, zeigt Adorno mitunter auch sehr privat; die wenigen „Traumprotokolle” (weitere finden sich bei Schütte) lassen sicherlich einen ebenso in-diskreten Blick in das Innenleben Adornos zu, wie die der Dokumentation sexueller Abenteuer gewidmeten Tagebucheinträge. Beinahe staunend berichten die Herausgeber, dass die Aufgabe, ein Leben in (größtenteils unveröffentlichten) Texten und Photographien nachzuzeichnen, nicht schwer fiel: „Ein dem Anschein nach ereignisloses Leben nachstellend, wurden die Herausgeber einer Fülle von Dokumenten gewahr, die allen Reichtum eines abenteuerlichen Lebens in den Schatten stellen können.” (S. 299) Unwillkürlich fragt man sich, wie viele sonstige Schätze noch im Adorno-Archiv (oder sonst wo) schlummern mögen?
Haben sich die bislang vorgestellten Werke vornehmlich mit dem Leben Adornos und seinen biographischen Verästelungen beschäftigt, greift man neugierig zu Roger Behrens‘ Adorno-ABC, um Adorno inhaltlich durchbuchstabieren lernen zu können.

Roger Behrens: Adorno-ABC, Reclam Verlag: Leipzig 2003, 248 S., ISBN 3-379-20064-6; 11,90 Euro

Ein Buch zum „Hineinlesen und Abschweifen” (S. 17) soll es sein, nicht mit dem Anspruch (und das klugerweise so), das Denken Adornos lexikalisch zu erfassen, sondern als Aufforderung zum Weiterlesen an der Original-quelle. Insofern tut es seinen Dienst, auch wenn es bisweilen ratsam erscheint, Zitate nicht ungeprüft zu übernehmen. An dieser an sich verdienstvollen kleinen Einführung in wesentliche Motive von Adornos Denken ist aber eines betrüblich: die Neigung von Behrens, immer wie-der die Popkultur unbefragt einfließen zu lassen, so dass am Ende die Vermutung steht, des Autors Plattensammlung sei mindestens genauso wichtig wie die Erläuterung der Begriffe und Konstellationen. Das Buch wirkt hybrid: seriös einerseits dort, wo es um die Sache geht, die Behrens auch kurzweilig zu präsentieren versteht; befremdlich dort, wo entweder Stichworte überflüssig sind (wie „ICE Theodor W. Adorno”; „Adorno-Ähnlichkeitswettbewerb` ; „TWA-Archiv” etc.) oder nur wegen ungewöhnlicher Querverbindungen zum Zwecke der Erheiterung aufgenommen worden sind (z.B. „Klopapier”, „Zwutsch”, „Mückenkuchen“). Eine klarere Konzeption wäre dem Buch zugute gekommen.
Was bleibt also vom Adorno-Jahr? Zu-nächst die Erkenntnis, dass das Leben von Adorno gründlich ausgeleuchtet worden ist, und dies aus mehreren Perspektiven. Mehr zu erfahren, dürfte die Erkenntnis nur noch bedingt befördern – schon wird sich darüber mokiert, dass sich das Augurium zum Familienalbum mäßige (Holbein 2003). Adorno wird gedreht und gewendet, mal erscheint er als der große Mystiker der Weltliteratur, mal als der „wahre Konservative” (Assheuer 2003). Und in der Tat: hat er nicht selbst in einem Brief an Peter Suhrkamp geschrieben, er habe Freude an der Herstellung „heiliger Texte”? (Schopf, S. 201) Unbarmherzig erscheinen die Verdikte hinsichtlich seiner Aktualität: dass er in der heutigen Philosophie keine Rolle mehr spiele (Bolz 2003), dass Adorno kein Zeitgenosse mehr sei und es eine Befreiung war, sich von
Adornos Philosophie zu loszulösen (Assheuer 2003). Ohne Zweifel: die Generation der direkten Schüler Adornos ist in die Jahre gekommen, auch die der Gegner; andere Projekte überlagern die Auseinandersetzung mit Adorno. Doch in der Anstrengung, Adorno als erledigt zu erklären, schwingt auch die Befürchtung mit, er könne es nicht sein. Jedenfalls erscheint Jägers Behauptung, mit Adornos Tod sei auch „das normative Potential seiner Theorie er-schöpft” (S. 291) doch vorschnell. Adorno ist sicherlich heute nicht mehr der „Impulsgeber für die Prozesse öffentlicher Meinungsbildung” (Müller-Doohm, S. 587) der er in den fünfziger und sechziger Jahren war. Aber eine erneute Lektüre Adornos, jenseits aller vorschnellen Vereinnahmung oder Historisierung, kann produktive Ansätze für diejenigen Fragen liefern, die uns augenblicklich beschäftigen: Globalisierung, Erosion des Sozialstaats, Verzweckung von sozialen Verhältnissen in der und durch die Kulturindustrie – bis zu Fragen der Bioethik. Vielleicht kann er uns aber auch wieder ins Gedächtnis rufen, dass das Materielle, das rein Rationale, nicht alles ist, das es jenseits unseres systematisierenden, rationalistischen Denkens Kategorien der Erfahrung gibt, die erst dem Humanum Substanz und Bedeutung zu geben vermögen. Vielleicht kann die Auseinandersetzung mit Adorno aber auch das Bewusstsein wach halten, das aus der schlechten Wirklichkeit eine bessere Möglichkeit auf-scheint. Insofern bleibt Adorno modern, weil er ein Philosoph der Moderne ist, deren stahl-hartes Gehäuse uns nach wie vor umfängt.
Die Stadt Frankfurt am Main hat Adorno unmittelbar vor seinem hundertsten Geburtstag ein neues Denkmal gesetzt. Auf dem Adorno-Platz im Westend, nahe der Universität, steht nun ein Glaskubus, darin ein Schreibtisch, ein Stuhl; auf dem Schreibtisch liegt eine Manuskriptseite und ein beschriebenes Notenblatt, daneben eine Ausgabe der Negativen Dialektik, darauf, ein wenig gekippelt, ein tickendes Metronom. Denken und Erfahrung sind unter Glas gesetzt. Um den Kubus herum in Stein gemeißelte Sentenzen Adornos, die eines signalisieren: das Wort, es ist erstarrt, es lebt nicht mehr. Die einzige Hoffnung bietet der aus technischen Gründen notwendige Schacht, der unter dem Schreibtisch nach außen führt. Plastischer und ungewollter konnte weder das Anliegen Adornos noch die Aporie von Technik dargestellt werden. Das Denken ist unter Glas, der Autor durch den Notausgang verschwunden. An der Oberfläche ist er unser geworden; doch darunter, vielleicht im Dunkel der Kanalisation, könnte er die Flaschenpost verborgen haben, die noch immer auf ihren Empfänger wartet.

Literatur

Assheuer, Thomas 2003: Der wahre Konservative; in: Die Zeit v. 4. September
Bolz, Norbert 2003: Der Pyrrhus-Sieger; in: Literaturen, Heft 6, S. 34f.
Fischer, Karsten/Ottow, Raimund 2002: Das
„Godesberg” der Kritischen Theorie. Theorie und Politik im Generationenwechsel von Horkheimer/Adorno zu Habermas; in: Politi-
sche Vierteljahresschrift, 43. Jg, Heft 3, S. 508-523; Heft 4, S. 653-669
Holbein, Ulrich 2003: Weltgeist zwischen Kanapee, Äppelwoi und Eistüte; in: Frankfurter Rundschau v. 10. September
Honneth, Axel 2003: Kapriolen der Wirkungsgeschichte. Tendenzen zu einer Reaktualisierung Adornos; in: Forschung Frankfurt, Heft
3-4, S. 32-36
Scheible, Hartmut 1989: Theodor W. Adorno,
Reinbek
Schweppenhäuser, Gerhard 1996: Theodor W.
Adorno zur Einführung, Hamburg
Sezgin, Hilal 2003: Ein Wunderkind wird er-wachsen; in: Frankfurter Rundschau v. 20.
August
Wiggershaus, Rolf 1987: Theodor W. Adorno, München

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