Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Bewegungs­for­schung: Quo vadis?

Ein Überblick zu Entstehung, Ausprägung und

Forschungsstand

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 12ff

Der folgende Überblick zur Bewegungsforschung geht in drei Schritten vor. Zunächst gilt es fachwissenschaftliche Erfolge zu konstatieren: Die Bewegungsforschung hat Konzepte und Instrumente hervorgebracht, die mittlerweile zum festen Repertoire der politischen Soziologie gehören (1.). In einem zweiten Schritt sind neue Herausforderungen zu analysieren: Gesellschaftliche und politische Entwicklungen konfrontieren die Bewegungsforschung mit neuen Fragestellungen und Aufgaben und machen künftig eine stärkere Kooperation mit anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch mit Kultur- und Geisteswissenschaften erforderlich (2.). Der dritte Schritt besteht in einer unvermeidbaren Problemanzeige: Der geringe Institutionalisierungsgrad der Bewegungsforschung in der deutschen Forschungslandschaft gibt Anlass zur Skepsis, ob die skizzierten Herausforderungen hierzulande bewältigt werden können (3.).

1. Entstehung und Entwicklung der Bewegungsforschung

Die Voraussetzung für soziale Bewegungen liegt begrifflich zunächst in der mit der Aufklärung verbundenen Vorstellung, dass die Menschen die Gesellschaft und ihre sozialen Bedingungen selber gestalten können und sollen. Prägend für das politische Denken im 19. Jahrhundert ist die doppelte Erfahrung zum einen der Französischen Revolution, zum anderen der von England ausgehenden Industrialisierung: An die Stelle einer berufsständisch oder durch ererbte Privilegien vorgegebenen Hierarchie tritt ein durch Besitz, Stellung im Produktionsprozess und Bildungsniveau definiertes, prinzipiell durchlässiges soziales Gefüge. An die Stelle überkommener korporativer Bindungen tritt der Individualismus als maßgebendes Prinzip sozialer Beziehungen. Die charakteristische Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft ist der freie Zusammenschluss in Vereinen, Assoziationen und Gesellschaften. Mit der Dekorporierung sind für die Individuen neue, durchgängige Orientierungen erforderlich. Sie finden sich in gesamtgesellschaftlich auf-tretenden politischen und sozialen Bewegungen mit ihren Ideen und Ideologien (Göhler/Klein 1991: 261).
Das politische Leben des 19. Jahrhunderts wird in einem bis dahin unbekannten Maße von politischen und sozialen Bewegungen bestimmt, die aus ihrer Interessenlage heraus gesamtgesellschaftliche Ordnungsvorstellungen durchzusetzen suchen. Die Reflexion der Erfahrung des Wandels von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft macht es überhaupt erst möglich, die Mobilisierung von kollektiven Akteuren mit dem Ziel eines sozialen Wandels (oder seiner Verhinderung) mit dem Begriff der sozialen Bewegung zu verbinden. Vor diesem Hintergrund kommt der Bewegungsbegriff in den Schriften von Henri de Saint-Simon, Charles Fourier oder August Comte auf. Über deren Rezeption bei Lorenz von Stein und schließlich – in besonders einflussreicher Weise – bei Karl Marx findet er dann Eingang auch in die deutschsprachige Diskussion. Jenseits seiner geschichtsphilosophische Deutung sozialer Klassenkämpfe hat Marx für die europäische Bewegungsforschung folgenreich auf die Bedeutung gesellschaftlicher Zentralkonflikte für das Entstehen sozialer Bewegungen, auf soziostrukturelle Hintergründe sozialer Bewegungen und auf Probleme der Formierung kollektiver Akteure hingewiesen.
Antidemokratische und totalitäre Konsequenzen sozialer Bewegungen haben die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Die Voraussetzungen der Bewegungsforschung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg waren denn auch durch diese Hypothek bestimmt. Mit dem Begriff der sozialen Bewegungen verband sich vor allem die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Es dominierten hier negative Begriffskonnotationen – etwa die der Verführbarkeit irrationaler Massen (Le Bon 1973 [1895]; Kornhauser 1959) und einer durch sie erfolgenden Gefährdung der Demokratie. In der DDR wurde die Arbeiterbewegung als Bestandteil• der Staatsideologie ebenso instrumentalisiert wie etwa die so genannten antiimperialistischen nationalen Bewegungen im Rahmen der Blockkonfrontation: Die ideologische Funktion des Bewegungsbegriffs entzog ihn dort einer selbständigen wissenschaftlichen Diskussion. So waren es in den Wissenschaften zunächst vor allem Geschichtswissenschaft, Totalitarismustheorie (Hannah Arendt) und die Forschungen zu Nationalismus und Nationalsozialismus, die sich des Bewegungsbegriffs bedienten.
Erst mit einer Abgrenzung „alter” von den so genannten „neuen” sozialen Bewegungen, die als „Produktivkräfte der Demokratie” (Rucht 1997) verstanden werden konnten, vermochte sich die Bewegungsforschung von den Hypotheken zu lösen, die den Bewegungsbegriff bis in die 1960er Jahre belasteten. Zu einer weitergehenden Verwendung des Bewegungsbegriffs und einer Entwicklung der damit verbundenen Forschungskonzepte in der politischen Soziologie kam es in den angelsächsischen Ländern seit den 1970er Jahren, in der Bundesrepublik verspätet seit den 1980er Jahren. Politisch angestoßen wurde diese Entwicklung durch die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre und die anschließende Entstehung der neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren. US-amerikanische und europäische Forschungen zu sozialen Bewegungen wurden nach getrennten Anfängen seit den 1990er Jahren zunehmend aufeinander bezogen und werden seitdem im internationalen Austausch fortentwickelt (vgl. Rucht 1991). In den letzten Jahren rücken zunehmend Fragestellungen zur grenzüberschreitenden, transnationalen Protestmobilisierung in den Vordergrund (vgl. Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen (NSB) 2002; Smith 2001; Smith/Pagnucco/Lopez 1998; Smith/Chatfield/Pagnucco 1997).
An dieser Stelle muss ein kurzer Überblick über die Forschungsansätze der neueren Bewegungsforschung genügen. Dabei wird deutlich, dass die Entwicklung der Bewegungsforschung als ein „kollektiver Lernprozess” verstanden werden kann, in dem erweiterte Fragestellungen auf bestehende Mängel älterer Forschungsansätze reagierten (ausführlicher dazu Hellmann/Koopmans 1998: 12ff.). Der europäische Strang der Bewegungsforschung mit seinen Forschungen zu den „neuen sozialen Bewegungen” war in den 1980er Jahren stark von der Analyse gesellschaftlicher Strukturentwicklungen (structural strains) geprägt. Sozialer Wandel, Modernisierungsschübe und darauf reagierende Verunsicherungen oder Verlusterfahrungen als Ausgangspunkt von Protestmobilisierung stehen hier im Zentrum. Entsprechend spielen der gesellschaftliche Wertewandel (vgl. die Arbeiten von Inglehart und Klages) und das Entstehen neuer Mittelschichten mit postmaterialistischer Orientierung (Kriesi 1987; Brand/Büsser/Rucht 1986) eine zentrale Rolle bei der Analyse sozialer Bewegungen. Schließlich haben insbesondere die Studien von Alberto Melucci (1988; 1996) deutlich gemacht, dass soziale Bewegungen einer kollektiven Identität bedürfen und die Prozesse der Identitätsbildung bis hin zu deren sozialen Milieubezügen rekonstruiert.
In der US-amerikanischen Diskussion bestimmte bis in die 1960er Jahre der Collective Behavior-Ansatz (Turner/Killian 1957; Smelser 1962) das Verständnis sozialer Bewegungen – kollektiver Protest war aus dieser Sicht ein zumeist irrationales Verhalten. Konzepte der relativen Deprivation (Gurr 1970; Morrison 1973; Muller 1980) machten seit den 1970er Jahren jedoch bereits auf rationale Protestmotive aufmerksam. Sie speisen sich aus der Unzufriedenheit angesichts der bestehenden Kluft zwischen gesellschaftlichen Werteerwartungen und einer davon abweichenden Realität. 1977 rückte das Konzept der Ressourcen-Mobilisierung (McCarthy/Zald 1977) das rationale Handeln von Bewegungsorganisationen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Protestaktivitäten sind demzufolge politische, strategische und zweckrational begründete Unternehmungen von Bewegungsorganisationen, die für ihre Mobilisierungsanstrengungen auf Ressourcen angewiesen sind (Geld, Zeit, Personal) und diese systematisch beschaffen müssen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Protest und sozialen Bewegungen wurden jedoch in diesem Ansatz ausgeblendet.
Fragen nach diesen Kontextbedingungen stehen dagegen im Mittelpunkt des Konzepts der politischen Gelegenheitsstrukturen (Political Opportunitiy Structures), das seit Mitte der 1980er Jahre nicht nur in den USA, sondern auch in Europa entwickelt wird (Eisinger 1973; Brand 1985; Kitschelt 1986; Tarrow 1988 und 1991; Kriesi 1991; Koopmans 1995). Dieser Ansatz macht darauf aufmerksam, dass die Rahmenbedingungen des politischen Systems (etwa die Offenheit oder Verschlossenheit seines Zentrums für Protestanliegen oder die Kooperationsbereitschaft von Teilen der politischen Elite mit Bewegungsakteuren) den Erfolg von sozialen Bewegungen maßgeblich bestimmen. Schließlich ist auf den Framing-Ansatz (Snow/Benford 1988 u. 1992) hinzuweisen. Hier wird deutlich, dass die Rahmung eines Problems durch einen so genannten „master-frame”,
der die zur Debatte stehende Frage mit anderen Problemdeutungsmustern verknüpft sowie Lösungs- und Anschlussmöglichkeiten für ein Problem aufzeigt, eine wesentliche Rolle für das Zustandekommen sowie für die Dynamik und die Erfolgschancen sozialer Bewegungen spielt. Framing-Konzepte analysieren den Außenbezug sozialer Bewegungen, während Konzepte kollektiver Identität ihren Innenbezug und ihre Abgrenzungsbemühungen in den Vordergrund rücken. Die skizzierten Paradigmen der Bewegungsforschung leuchten ihren Gegenstandsbereich aus verschiedenen Perspektiven empirisch aus und können sich oftmals auch sinnvoll ergänzen. Seit den 1990er Jahren bewegen sich die Diskussionen der Bewegungsforschung in einem internationalen Rahmen, werden die dargestellten Forschungsansätze geteilt und in gemeinsamen Diskussionen konzeptionell fortentwickelt.

2. Zur Weiterentwicklung der Bewegungsforschung

Die Bewegungsforschung ist mittlerweile zu einem integralen Bestandteil der politischen Soziologie geworden (vgl. Rucht 1994). Sie untersucht politische Prozesse und ihre Akteure, aber auch die sozialen Voraussetzungen sowie die organisatorische Verfasstheit und die gesellschaftlichen Auswirkungen des Handelns politischer Akteure. Perspektivverschiebungen in den Untersuchungsfeldern der politischen Soziologie (also Parteien, Verbände, Vereine, politische Eliten, Wähler und Wahlverhalten, aber eben auch soziale Bewegungen) tragen jedoch dazu bei, dass die Abgrenzungen etwa der Organisationsformen von Parteien, Verbänden und Bewegungen unscharf werden und neue Handlungszusammenhänge (etwa NGOs, public interest groups) an Bedeutung gewinnen. Die Querverbindungen, Übergangsformen und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Formen politischen Handelns, aber auch ihre durch den Vergleich deutlich werdenden Stärken und Schwächen erlangen daher eine größere Aufmerksamkeit in der Forschung. Die Bewegungsforschung ist zudem – vor allem angesichts der steigenden Bedeutung transnationaler Vernetzungen und Protestmobilisierungen – darauf angewiesen, die Kooperation mit Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften zu vertiefen und ihre Arbeit in einem multidisziplinären Forschungsfeld fortzuentwickeln.
Zu den neueren Herausforderungen der Bewegungsforschung, die an dieser Stelle nur angerissen werden können, gehören u.a. die folgenden Entwicklungen, Problem-kreise und emergierenden Forschungsfelder:
Die neuen sozialen Bewegungen haben seit den 1980er Jahren einen Institutionalisierungsprozess durchlaufen (vgl. Roth 1994; Rucht/Blattert/Rink 1997; Klein/Legrand/Leif 1999). Die Organisationen des Bewegungssektors entfalten ihre spezifische Stärke jedoch nach wie vor in der öffentlichen Problemartikulation, passen ihr Handlungsrepertoire den Anforderungen der Mediendemokratie an und greifen bei Bedarf auch auf die Ressource der Protestmobilisierung zurück. Der Bewegungssektor verfügt zwar auch über institutionalisierte Organisationen, doch geht er nicht in ihnen auf. Jr bietet so weiterhin attraktive Betätigungsfelder für ein politisches Engagement, das sich nicht organisatorisch vereinnahmen lassen möchte. Die Bewegungsforschung kann vor diesem Hintergrund von den Forschungen zu Verbänden und public interest groups sowie der NG®-Forschung (s.u.) profitieren.
Das Handlungsinstrumentarium sozialer Bewegungen wandelt sich. Absehbar ist der Bedeutungsrückgang der Mobilisierung größerer Versammlungsöffentlichkeiten. Statt dessen werden professionelle Kampagnen und Aktionsformen an Gewicht gewinnen, die durch Inszenierung auf die Wahrnehmungsfilter der Medien ausgerichtet sind (vgl. Hasse 2000). Die Bewegungsforschung muss daher verstärkt mit der Kommunikationswissenschaft kooperieren.
Die Institutionalisierung der neuen sozialen Bewegungen und der Wandel ihres Handlungsinstrumentarium legt es nahe, die Bewegungsforschung systematisch im Diskussionskontext der Forschungen zu bürgerschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft zu verankern (Enquete-Kommission 2002; Klein 2001). Protest tritt dann in ein Kontinuum von Handlungsformen, zu dem auch die ehrenamtliche oder berufliche Übernahme von Funktionen in Bewegungsorganisationen, die Spendenakquise und die professionelle Durchführung einer Kampagne gehören können.
Die so genannte Dritte-Sektor-Forschung (vgl. Priller/Zimmer 2001) untersucht den Bereich der Nonprofit-Organisationen; der institutionalisierte Bewegungssektor mit seinen Organisations- und Rechtsformen ist Teil dieses Forschungsgebiets. Die Entwicklung einer Anzahl von Verbänden (gut untersucht ist dies etwa für die Umweltverbände: vgl. Roose/Rucht 2002) wird von Bewegungen stark beeinflusst; Verbände können durchaus auch die Funktion von Bewegungsorganisationen über-nehmen und Protestmobilisierungen koordinieren. Verbände und Bewegungsforschung müssen enger zusammenarbeiten.
Zwar sind Versuche der neuen sozialen Bewegungen, mit Bündnis 90/Die Grünen ei-ne eigene „Bewegungspartei” auszubilden, aufgrund der Anforderungen des Parteiensystems gescheitert, doch bleiben soziale Bewegungen durchaus ernst zu nehmende Herausforderer der politischen Parteien – ihre besonderen Vorteile bei der öffentlichen Problemartikulation schlagen derzeit insbesondere auf der Ebene grenzüberschreitender Protestmobilisierung zu Buche (Leggewie 2003). Das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Parteien dürfte daher keineswegs ein Thema der Vergangenheit sein.
Die nach 1989 intensivierten Bemühungen der Transformationsforschung haben deutlich gemacht, dass soziale Bewegungen und Zivilgesellschaften in Übergangsphasen von Gesellschaften zur Demokratie eine bedeutende positive Rolle spielen können (vgl. Forschungsjournal NSB 1997). Nachdem sich die Euphorie in den 1990er Jahren gelegt hat, treten Probleme „defekter” und gefährdeter Demokratien, aber auch die Einflüsse transnationaler Normen und der sie stützenden Akteursnetzwerke auf die Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten (Risse/Jetschke/ Schmit 2002) wieder in den Vordergrund. Im Rahmen vergleichender Politikwissenschaft und insbesondere der Transformationsforschung dürfte die Bewegungsforschung auch künftig eine wichtige Rolle spielen.
Soziale Bewegungen sind – wie auch Zivilgesellschaften (vgl. Roth 2003) – keineswegs per se normativ „gute” politische Akteure. Rechte oder fundamentalistische,
populistische oder religiöse Bewegungen dürften künftig einen zentralen Gegen-stand der Bewegungsforschung darstellen.
Bewegungsorganisationen mit grenzüberschreitendem Handlungsradius haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich unter dem Kürzel „NGO” mittlerweile ein eigenes Feld der politischen Soziologie ausgebildet hat (vgl. Anheier/Glasius/Kaldor 2001; Brunnengräber/Klein/Walk 2001), das die verstärkte Kooperation von Bewegungsforschung, Verbändeforschung (vgl. Frantz/Zimmer 2002), aber auch die Rezeption der Theorien internationaler Beziehungen erfordert. Die von der Verbändeforschung adressierten Problemkreise der „schwachen” oder auch der „moralischen” Interessen (vgl. Willems 2002), der public interest groups und des Lobbyismus (vgl. Forschungsjournal NSB 2003) sind längst auch zu Themen im Rahmen der Bewegungsforschung geworden.
Die Untersuchung transnationaler Protestmobilisierungen erfordert komplexere Forschungsdesigns als jene von Protestmobilisierungen im nationalstaatlichen Rahmen – vor allem in Hinblick auf den Deutungsrahmen, die Identitätsbildung der Träger-schichten und der politischen Gelegenheitsstrukturen. Die Bewegungsforschung bedarf hier des engen Austauschs und der verstärkten Kooperation mit den Forschungen zu internationalen Beziehungen, aber auch zur Demokratietheorie, in der die einschlägigen Diskussionen in der Reichweite von Konzepten der „kosmopolitischen Demokratie” (vgl. Archibugi/Held 1995) bis hin zu „governance” (vgI. Brand /Brunnengräbe/Schrader/Stock/Wahl 2000) geführt werden. Von der Medienforschung sind konzeptionelle wie empirische Hinweise über Voraussetzungen und Effekte öffentlichkeitswirksamer Kampagnen transnationaler Bewegungsnetze zu er-warten (vgl. Baringhorst 1998).
Transnationale Netzwerke sozialer Bewegungen stellen nicht nur besondere organisatorische Herausforderungen für die Akteure dar, sondern sind auch Schauplätze des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Werthorizonte (vgl. Bohmann 1997). Menschenrechtliche Rahmungen von Problemstellungen und die Debatte über universelle versus partikulare Wertvorstellungen erfordern die enge Kooperation der Bewegungsforschung mit Kulturwissenschaften und Philosophie.
Soziale Bewegungen und Protest verlieren keineswegs an gesellschaftlicher Bedeutung und sind beileibe nicht zu einem bloß historischen Thema abgesunken (damit soll nicht bestritten werden, dass die historische Bewegungsforschung beeindruckende Resultate erzielt). Vielmehr scheinen sich die ausdifferenzierten Formen politischen Handelns den Aktionsformen sozialer Bewegungen insgesamt stärker anzunähern – mit durchaus ambivalenten Folgen für die Stabilität von Demokratie. Die Bewegungsforschung hat mit ihren Fragestellungen und Paradigmen, mit ihren Untersuchungsergebnissen zu einzelnen Bewegungen, Bewegungsfamilien und -sektoren, die mittlerweile qualitativ wie quantitativ mehr als bemerkenswert sind, wichtige Beiträge für die Sozialwissenschaften geleistet. Transnationale Protestnetzwerke und das Verhältnis von Bewegungen und NGOs stellen die Forschung in den nächsten Jahren ebenso vor große Aufgaben wie die
zunehmende Mobilisierung religiöser, fundamentalistischer oder populistischer Bewegungen. Doch die Entwicklung von Demokratie, Menschenrechten und Zivilgesellschaft auf nationaler wie internationaler Ebene erfordert künftig eine stärkere Öffnung der Bewegungsforschung für interdisziplinäre Kooperationen. Hier liegt die Zukunft der Bewegungsforschung. Zu fragen ist allerdings, ob sie diesen Anforderungen überhaupt gewachsen ist?

3. Die deutsche Bewegungsforschung krankt an mangelnder Institutionalisierung

Anders als der Frauenforschung ist es der Bewegungsforschung in Deutschland nicht gelungen, sich über eine größere Zahl von Lehrstühlen an Universitäten und Fachhoch-schulen zu etablieren. Damit unterscheidet sich der Institutionalisierungsgrad der deutschen Bewegungsforschung erheblich von dem in den angelsächsischen Ländern, aber auch in Italien oder Frankreich. In europäischen und internationalen Netzwerken mit eigenen Publikationsorganen, Buchreihen und Kongresszusammenhängen sind zwar auch Ko1legInnen aus der Bundesrepublik vertreten, doch sie können sich nicht auf entsprechende nationale Infrastrukturen in Forschung und Lehre stützen.
Einzelne Forscher haben das Gesicht der Bewegungsforschung in Deutschland stark geprägt: Zu ihnen gehören sicherlich Ute Gerhard, Helena Flam, Joachim Raschke, Karl Werner Brand, Herbert Kitschelt, Klaus Eder, Dieter Rucht, Roland Roth und Klaus-Dieter Opp. Institutionell einflussreich ist vor allem die von Friedhelm Neidhardt, Dieter Rucht und anderen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in den 1990er Jahren etablierte Bewegungsforschung geworden. Diese Richtung hat je-doch in jüngster Zeit an Gewicht verloren und droht künftig am WZB ironischerweise zu einer Marginalie in den aus guten Gründen erweiterten Forschungen zu Zivilgesellschaft und Demokratie zu werden.
Seit 1988 gibt es mit dem Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen ein Publikationsorgan der deutschen Bewegungsforschung. Die Zeitschrift ist jedoch seit ihrer Gründung ein rein ehrenamtliches Projekt — auch dies ist durchaus ein Ausdruck der bestehenden Institutionalisierungsschwäche der Bewegungsforschung in Deutschland. Das Forschungsjournal versucht die in diesem Beitrag skizzierten wissenschaftlichen Herausforderungen der Bewegungsforschung publizistisch aufzunehmen. Die Zeitschrift beschränkt sich daher nicht auf Analysen der Bewegungsforschung im engeren Sinne, sondern bezieht Fragestellungen von Zivilgesellschaft, Demokratie, Parteien-, Verbände- und NGO-Forschung, Medienforschung und Dritte-Sektor-Forschung ebenso ein wie Forschungen zur ganzen Breite des bürgerschaftlichen Engagements.
Berücksichtigt man die in den obigen Beispielen skizzierten fachlichen Bezüge der Bewegungsforschung zu anderen Bereichen der Sozialwissenschaften, so fällt die Bilanz etwas positiver aus. In Forschungen zu Verbänden und NGOs wird die Bewegungsforschung ebenso rezipiert wie in Frauenforschung, Dritte-Sektor-Forschung und den Untersuchungen zu bürgerschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft. Der Arbeitskreis „Soziale Bewegungen” der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaften (DVPW) bemüht sich seit einiger Zeit, die Kooperation der Bewegungsforschung mit anderen Bereichen der politischen Soziologie, allen voran der Verbändeforschung, zu intensivieren. Künftig soll auch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie stärker einbezogen werden. In regelmäßigen Fachkongressen, insbesondere zu Fragen der transnationalen Vernetzung und Protestmobilisierung, werden vor allem die Interaktionen von Bewegungen, NGOs, Verbänden und Gewerkschaften einerseits, die institutionellen und demokratietheoretischen Rahmenbedingungen der (verstärkt transnationalen) Protestmobilisierung andererseits ausgeleuchtet. Trotz der deutlich werdenden, verstärkten Integration der Bewegungsforschung in die Forschungspraxis der politischen Soziologie besteht jedoch angesichts einer unzureichenden eigenständigen Institutionalisierung der Bewegungsforschung in Deutschland Anlass zur Befürchtung, dass diese den künftigen Herausforderungen nicht gewachsen sein könnte.

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