Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Neue Medien Neue Protest­formen Bewegungs­for­ma­tion in Echtzeit

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 74ff

Es ist noch nicht lange her, da galten Protestbewegungen als klinisch tot. Die Protagonisten der neuen sozialen Bewegungen, die sich seit den 1970er Jahren um die Themen Frieden, Umwelt und Abrüstung herum gruppiert hatten und in den 1980er Jahren in das Stadium der bewussten Selbstreflektion eintraten (vgl. Andersen 2000), sahen nach sich nur noch die konsensuale Sintflut. Eine Generation von unpolitischen, saturierten Medienkonsumenten folgte nach, der weder Wertschätzung für die von den Eltern betriebene Kulturrevolution noch der Wille zur Fortführung dieses Werkes attestiert wurde. Im klagenden Tonfall hieß es in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre: „Die utopischen Energien der neuen sozialen Bewegungen, die Leidenschaften des Kampfes für eine radikal andere Gesellschaft scheinen allmählich zu versiegen” (Brandt 1986: 267). Dieser Abgesang auf das Engagement der jungen Generation basiert auf bekannten Symptomen: nachlassendes Interesse an der traditionell organisierten Politik in Parteien und Verbänden, sinkende Wahlbeteiligung und verstärkter Zulauf zu populistisch agieren-den Politikformen bereiten den „Protesteltern” zunehmend Nachwuchssorgen.
. Vor diesem Hintergrund erschien die Entwicklung der elektronischen Medien als ein Silberstreif am Horizont. Das Internet gilt seit einiger Zeit als neu entdeckter Raum für politische Aktivitäten, als virtueller Ort für die Demokratie und schillernder Hort der Gegenöffentlichkeit. Unter dem Stichwort E-Democracy (elektronische Demokratie) werden die Möglichkeiten der verbesserten Partizipation durch Neue Medien seit einigen Jahren theoretisch diskutiert und teilweise auch praktisch erprobt.l
Für die sozialen Bewegungen der Gegenwart spielen die elektronischen Medien mittlerweile eine entscheidende Rolle bei der Selbstorganisation und Außenkommunikation. Für die Verbreitung und Erreichbarkeit von Inhalten bedeuten das Internet und darauf basierende Technologien gerade für Akteure mit begrenzten finanziellen Ressourcen eine signifikante Verbesserung ihrer Möglichkeiten. Auch die transnationale Vernetzung mit anderen Organisationen wird vereinfacht, die Binnenkommunikation innerhalb von NGOs und anderen Zusammenschlüssen intensiviert.
Ob mit der Ausweitung der Protestzone in die virtuelle Welt des Internet auch eine Repolitisierung im Sinne der klassischen Bewegungsformation einhergeht, traditionelle soziale Bewegungen also durch das Netz revitalisiert werden, muss freilich dahin gestellt bleiben. Vieles spricht dafür, dass mit den Neuen Medien auch neuartige politische Partizipationsformen entstehen, die sich auf andere Ziele richten, andere Aktions-formen bevorzugen und andere Formen der Kommunikation praktizieren. Es geht also um die Frage, ob die demokratische Partizipation im Medienzeitalter einen Transformationsprozess durchlaufen wird, an dessen Ende eine neue Kultur des Protest und der Einmischung steht. Einiges spricht dafür, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Die digitale Revolution

Internet, E-Mail und Mobilfunk spielen seit Mitte der 1990er Jahre eine entscheidende Rolle bei der Entstehung eines neuen, andersartigen Protestmilieus. Allerdings greift ein rein auf Medientechnologie konzentrierter Erklärungsversuch dieses Milieus zu kurz und läuft zudem Gefahr, die Mediennutzung der in diesem Bereich engagierten Aktivisten auf ein stilistisches Muster zu verkürzen. Trotzdem trifft die etwa im Zusammenhang mit Attac viel beachtete Grunderkenntnis definitiv zu: „Neue digitale Bewegungen” sind diese Gruppen, weil sie das Internet als zentralen Kommunikationskanal nutzen. In einigen Fällen prägt die bevorzugte Kommunikationsform auch die Organisation selbst. Function follows form. Die Entwicklung der Medien ist ein wichtiger Bestandteil eines gesellschaftlichen Strukturwandels, der auch und zuerst die Protestavantgarde er-fasst hat, und somit im Sinne McLuhans Teil der Botschaft geworden ist.
Neben der Weiterentwicklung der Medientechnik spielen vor allem die wirtschaftlichen und politischen Trends des letzten Jahrzehnts eine entscheidende Rolle für die Transformation des Protests in die virtuelle Welt, letztlich bedingen und beeinflussen sich die Entwicklungsstränge gegenseitig. Mit der Auflösung des Ostblocks ist die kapitalistische Marktwirtschaft weltweit zum dominierenden Prinzip geworden: Überall geht es notfalls auch ohne Demokratie, aber keinesfalls ohne Markt. Zudem ist die Weltwirtschaft durch eine tief greifende Deregulierung und Globalisierung der Märkte instabil geworden und offenbart zunehmend ihre Anfälligkeit für Krisen. Die Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte ist dadurch stark in die Kritik geraten. Gleich-zeitig wurde der staatlich-politische Handlungsradius durch diese internationalen Verflechtungen eingeschränkt, politische Themen gewinnen an Komplexität und verlangen ein hohes Maß an Expertenwissen, was die Zugangsschwellen für Aktivisten erhöht (vgl. Hirsch 2001: 17). Parallel dazu sind Formen des gesellschaftlichen Engagements in NGOs und anderen Zusammenschlüssen aber enorm aufgewertet worden; seit rund zehn Jahren sind sie eindeutig en vogue. Gerade angesichts des Staatsversagens in vielen Bereichen konzentrieren sich Hoffnungen auf eine demokratischere und fairere Welt auf die Nichtregierungsorganisationen und andere Protestakteure, die somit eine kompensatorische Rolle übernehmen. Die Entwicklung eines neuen Protestmilieus ist also nicht nur der Medienevolution geschuldet, sondern auch durch den umfassenden Strukturwandel bedingt. In diesem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und digitalen Möglichkeiten bewegen sich beinahe alle Nichtregierungsorganisationen. Die Spanne der hier betrachteten Protestorganisationen ist bewusst weit gewählt und reicht von den etablierten Akteuren aus dem Lager der NGOs bis zu neuen und sehr flüchtigen Phänomenen, wie sie die Smart- und Flash Mobs darstellen. Gemein ist ihnen allen die intensive Nutzung der elektronischen Medien.’` Zunächst soll jedoch grundsätzlich geklärt werden, welche neuen Protestformen gegenwärtig zu beobachten sind.

Protest im, über und durch das Netz

Die Frühphase des netzgestützten Protestes Mitte der 1990er Jahre war von einer starken Ästhetisierung geprägt und oft direkt mit Themen verknüpft, die das Internet selbst, seine Nutzung und Regulierung betrafen. „Hacktivism” (Bieber 2001: 124-142) — beispielsweise die Blockade von Servern durch massenhaft versandte Emails, die von eigens für diesen Zweck konzipierten Programmen geschrieben wurden – lotete die Möglichkeiten neuer Protestformen aus und löste eine Debatte über die Gefahren des Cyberkrieges und der Information warfare aus. Ende der 1990er Jahre protestierte beispielsweise das Electronic Disturbance Theatre gemeinsam mit der indianischen zapatistischen Bewegung in Mexiko durch elektronische Sit-ins gegen die Regierung, kurz da-rauf entbrannte im Internet der „Toywar” zwischen der Künstlergruppe etoy und dem damaligen Börsenliebling eToys um die Internetdomain der Künstlergruppe. Die Aktivisten von etoy legten zur Weihnachtszeit durch Massen-Mailings die Server des Internethändlers lahm, da dieser zuvor versucht hatte, durch Klagen in den Besitz der Domain des Künstlerkonsortiums zu gelangen (vgl. Grether 2001).
Auch die Lufthansa geriet im Sommer 2001 im Zuge des Protestes gegen ihre Beteiligung an der Abschiebung von Flüchtlingen unter Online-Beschuss, die Buchungsserver wurden durch ein virtuelles Sit-in für zehn Minuten blockiert (vgl. Zaneta 2001). Weniger militant, aber durchaus effektiv bedienen sich auch lang etablierte NGOs des Internets, um sich Gehör zu verschaffen. Greenpeace hat beispielsweise ein Cybercenter eingerichtet, in dem Protestaktionen online koordiniert werden: per E-Mail kann der Aktivist bequem vom heimischen Schreibtisch aus gegen die isländischen Walfänger protestieren.
Diese Virtualisierung des Protestes erreichte ihren Höhepunkt zeitgleich mit dem Zenit der New Economy und teilte in mancher Hinsicht deren spielerischen, selbstverliebten Charakter. Neben dem Protest im Internet, der sich oft gegen die E-Commerce-Praxis von global agierenden Unternehmen richtete, aber aufgrund neuer Sicherheitsmaßnahmen mittlerweile an Wirkung eingebüßt hat, werden in letzter Zeit die Neuen Medien stärker zur Vorbereitung von realen Demonstrationen durch mehr oder weniger organisierte Gruppen eingesetzt. Prominentes Beispiel für diese effiziente, netzgestützte Protestform sind die Globalisierungskritiker, die sich beispielsweise bei Attac sammeln. Über Mailinglisten und zunehmend auch über mobile Anwendungen wie SMS können sich die Aktivsten in kurzer Zeit über größere Distanzen hinweg von der Polizei oder Öffentlichkeit unbemerkt koordinieren, Sammlungsorte festlegen oder Strategien ab-sprechen. Für eine Organisation wie Attac, die ihre wachsende Mitgliederschar vor allem über zwanzig verschiedene thematische Mailinglisten einbindet, sind Mitglieder ohne Internetzugang problematisch, weil diese nicht der dominierenden Kommunikationslogik folgen können. Wie gut die Knoten dieses kommunikativen Netzwerkes mit-einander verbunden sind, nahm die Welt erstmals im Zuge der Demonstrationen in Genua im Sommer 2001 wahr.3
Das momentan wohl spektakulärste Phänomen im Protestmilieu sind die so genannten Smart – oder Flashmobs: Gruppen, die plötzlich an einem öffentlichen Ort auftauchen, eine Aktion ausführen und unmittelbar danach wieder spurlos verschwinden. Sie sind geprägt von einer äußerst losen Organisation sowie fast gänzlich fehlenden Hierarchien und operieren, wie der Name Mob (Meute, Horde) andeutet, auf der Basis scheinbar völlig spontaner Massenerscheinungen. Der amerikanische Medientheoretiker Howard Rheingold schreibt über diese neue Bewegung: „Smart mobs emerge when communication and computing technologies amplify human talents for cooperation.” (Rheingold 2002: 17) Die Mobs verabreden sich über Mobiltelefone, Pager oder Handheld-PCs kurzfristig für Aktionen, die zeitlich ebenso begrenzt sind wie der Zusammenhalt der Protestierenden. Im Jahr 2001 demonstrierten auf den Philippinen Hunderttausende in einer Art Pager Revolution gegen den damaligen Präsidenten Estrada, zu der sie sich über SMS verabredet hatten. Bisher eher unpolitisch, aber mit einem großen Protestpotenzial ausgestattet, sind die Flash-Mobs, die sich virtuell verabreden, um an gut besuchten Plätzen gleichzeitig in die Hände zu klatschen oder Vogelstimmen zu imitieren. Ob der Flash-Mob die spaßversessene Wohlstandsvariante des Smart-Mobs ist oder ob sich in dieser anarchistischen Variante der Ad-hoc-Organisation auch politische Brisanz verbirgt, bleibt abzuwarten (vgl. Kümmel 2003: 45).
Die skizzierten Beispiele zeigen das organisatorische Potenzial der elektronischen Medien für Protestbewegungen. Durch die Aufhebung räumlicher Barrieren wird der Kreis der Aktivisten ausgedehnt und der Zugang zu Informationen erleichtert, was eine Egalisierung der in allen Organisationen bestehenden Hierarchien zur Folge hat: die „Gipfel-Kommunikation selbsternannter Kommunikationseliten wird ausgebremst” (Leggewie 1998: 25). Dort, wo auf Grund der kostengünstigen Online-Kommunikation finanzielle Ressourcen und räumliche Distanzen keine Rolle mehr spielen, bilden sich neue thematische Allianzen, die von sporadischen Zusammenschlüssen bis zu fest gefügten Organisationen reichen. Die Schwelle der Beteiligung für den Einzelnen sinkt durch die Unverbindlichkeit des Engagements, die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen werden
durch Online-Volunteering, beispielsweise das Führen von Petitionen im Netz, vermehrt.
Schließlich werden die Kooperations- und Austauschmöglichkeiten zwischen verschiedenen Protestmilieus verbessert und somit der Wirkungsgrad einzelner Aktionen erhöht. All diese Faktoren verändern die traditionelle Arbeitsweise neuer sozialer Bewegungen, viel-fach kommt es zu einer Professionalisierung bislang nur unzureichend organisierter und koordinierter Strukturen. Ein neues Verhältnis zu politischen Inhalten, verstärkte Bemühungen um Partizipationsmöglichkeiten und ein Spannungsverhältnis zwischen Globalisierung und Lokalisierung des Protestes sind die Kennzeichen dieser neuen Akteursgruppen. Zu beobachten ist aber auch eine Tendenz zur Ökonomisierung des Protestmilieus, was sich vor allem an der Übernahme moderner Marketingkonzepte festmacht.

Protest als Marke

Ohne ein durchdachtes Marketingkonzept wagt sich keine NGO mehr auf die Straße, geschweige denn ins Internet. Die Kreation einer wahrnehmbaren Marke, die mit einem positiven Image verknüpft ist, schien aus Sicht der Protestierenden lange das anrüchige Vorrecht der Wirtschaft zu sein und nicht in den Non-Profit-Sektor zu gehören. Mittlerweile ist selbst das Pamphlet, mit dem Naomi Klein gegen die Markenmacht mobil machte, zu einer echten Marke geworden: „No logo” als Logo. Auch Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace oder der World Wildlife Fund arbeiten gezielt auf ein unverwechselbares Image hin, das ihnen thematischen Einfluss und Spendengelder sichert. Der World Wildlife Fund führt regelmäßige Marktforschungen durch und die Tierschützer sind stolz darauf, dass siebzig Prozent der Bundesbürger das Logo mit dem Pandabären wieder erkennen.
Nicht nur die Entwicklung der Marke rückt für immer mehr NGOs auf die Agenda — auch das professionelle Management von Kundenbeziehungen und damit ein inhaltlich getriebener Marketing-Ansatz gewinnen an Bedeutung. Wissen über die „Kunden”, „kundengerechte” Angebote und die Interaktion mit ihnen sollen helfen, die Fühlung zur Basis zu behalten und die Wirksamkeit der eigenen Aktionen zu erhöhen. Möglich wurde diese Form des CRM (Customer Relationsship Managements) erst durch die kostengünstige Kommunikation im Internet. Organisationen wie Greenpeace sind hier strategisch aktiv: „Wir arbeiten ständig daran, unsere Fundraising-Methoden zu verbessern und erforschen dazu die Profile der potenziellen Online-Mitglieder, um in den kommen-den Jahren unser Angebot in diesem Bereich an die Bedürfnisse angepasst zu entwickeln”, erklärt Justine Earthrowl von Greenpeace UK (zit. n. Welzel/Scheffler 2002: 261). Dazu werden Umfragen auf der Website gestartet, aber auch Daten gesammelt und das Online-Verhalten der Besucher auf der Website durch Cookies4 erforscht. Interessanter als die Tatsache, dass die Akteure der Zivilgesellschaft sich des kommerziellen Marketinginstrumentariums bedienen, ist die weit verbreitete Akzeptanz dieser Ausrichtung innerhalb der Organisationen und bei ihren Anhängern. Auch wenn mitunter gegen den E – Commerce und seinen Umgang mit personenbezogenen Daten protestiert wird, machen sich doch zahlreiche NGOs genau diese Praxis ebenfalls zu Nutze.
Nichtregierungsorganisationen werden seit einiger Zeit von den staatlichen und supranationalen Stellen nicht nur als Gesprächspartner sehr viel ernster genommen, auch die früher ideologisch geprägten Auseinandersetzungen sind einem oft kooperativen Pragmatismus gewichen. Zurückzuführen ist dies auch auf den veränderten Kommunikationsstil, der mit dem Internet bei den NGOs Einzug hielt.
Zwei auf den ersten Blick gegenläufige Phänomene finden sich bezüglich der inhaltlichen Arbeit in den Protestgruppierungen des Online-Zeitalters: Eine thematische Heterogenität steht häufig einem hoch spezialisierten Expertentum gegenüber. Die „epistemischen Gemeinschaften” – Netzwerke von Experten mit „autoritativen Ansprüchen auf politikrelevantes Wissen” (Roth 2001: 59) für bestimmte Politikfelder – prägen immer mehr die NGO-Landschaft. Bezogen auf das Internet bedeutet dies, dass auch die Entwicklung und Gestaltung des Netzes als öffentlicher Raum von einer Gruppe spezialisierter Organisationen thematisiert und verteidigt wird. Der Verbraucherschutz im Netz beispielsweise ist das zentrale Anliegen von Foebud (Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e.V.), der unter anderem die jährlichen Big Brother Awards für besonders grobe Verletzungen des Datenschutzes ins Leben gerufen hat. Dieser Spezialisierung auf hochkomplexe Politikfelder steht der inhaltliche Schwebezustand von modernen NGOs wie Attac diametral entgegen. Die globalisierte Informationsgesellschaft zugleich prägend und kritisierend, versteht Attac sich als „breites gesellschaftliches Bündnis” für soziale Gerechtigkeit. Ein Sammelbecken des latenten Protests, das ehemalige Mitglieder traditioneller linker Protestmilieus mit christlichen Organisationen, prominenten (Ex-)Politkern wie Oskar Lafontaine und die desillusionierte Generation der New Economy vereint.
Aus dieser Heterogenität erklären sich auch die inneren Widersprüche des Protest-Milieus im Internet-Zeitalter. Flüchtigkeit und Spontaneität auf der einen, Professionalisierung und Institutionalisierung auf der anderen Seite prägen die Protestszene. Beide Tendenzen werden durch die Online-Medien ermöglicht. Der bereits beschriebene spontane Aktionismus wäre ohne mobile Netzwerke nicht denkbar. Aber auch die Verfestigung von Strukturen ist zu beobachten, und auch hierbei spielt das Internet eine zentrale Rolle. Die systematische Koordinierung der Unterstützerszene und die strategische Platzierung von Themen ist für viele NGOs durch die Neuen Medien überhaupt erst möglich geworden. Auf diese Weise wächst die Einflusssphäre der Protestakteure und gleichzeitig nimmt ihre Ähnlichkeit mit professionell gemanagten Wirtschaftsunter-nehmen oder staatlichen Institutionen zu. Das Ergebnis ist eine NGO-Elite, die weniger durch eine Protesthaltung als durch Kooperationsbereitschaft gekennzeichnet ist und als Gesprächspartner für Wirtschaft und Politik akzeptabel geworden ist.
Auch auf einer anderen Ebene trägt das Internet zur Institutionalisierung des Protests bei, nämlich in Form von Arbeitsplätzen, die durch die professionelle Präsenz im Internet notwendig geworden sind. Der erste Angestellte von Attac Deutschland war der Webmaster, der für den Erfolg der Arbeit von Attac eine zentrale strategische Rolle besitzt (vgl. Welzel / Scheffler 2002: 272).
Noch haben sich durch diesen kommunikativen Strukturwandel keine institutionalisierten Kommunikationskanäle zwischen den digitalen Protestakteuren und Regierungsinstitutionen herausgebildet. Allerdings ist dies unter den gegenwärtigen Vorzeichen der zunehmenden Kooperation und Verflechtung zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren, Wirtschaft und Politik für die Zukunft durchaus denkbar. Erste Ansätze zur gemeinsamen Netzwerkbildung sind hier bereits zu beobachten. Am Ende könnte – analog zu den roten Telefonen des Kalten Krieges – ein ständiger Verbindungsfaden zwischen Kanzleramt und Attac in Form einer E-Mail-Standleitung stehen.

Globalisierung, Virtualisierung und Demokratie

Sowohl auf dem Medium Internet als auch auf den NGOs im Digital-Zeitalter ruhen große demokratische Hoffnungen. Verbesserte Informations- und Partizipationsmöglichkeiten soll das Internet bieten und das alte Sender-Empfänger-Schema auch für die politische Kommunikation auflösen (vgl. Siedschlag 2002: 86ff.) Nichtregierungsorganisationen gelten vielfach als organisiertes Gewissen der Bürgergesellschaft in der globalisierten Ökonomie und sollen den Protest ihrer Mitglieder gezielt an die richtigen Stellen im Machtapparat dirigieren. Der Einzug der extensiven Internetnutzung bei den NGOs könnte demnach einen Quantensprung in der politischen Kultur bedeuten.
Diese Identifikation von Nichtregierungsorganisationen mit demokratischer Einflussnahme ist allerdings prekär: Gesellschaftliche Gegenentwürfe können nur durch themenbezogene öffentliche Zustimmung Legitimität erlangen und so auf die „Kompatibilität ihrer Anliegen mit den Interessen der weiteren Gesellschaft rückschließen” (Welzel/Scheffler 2002: 272). Zwar ist das Internet ein zusätzlicher Kanal, über den Zustimmung und Spenden abgefragt und auch generiert werden können, über eine demokratische Legitimation verfügt es allerdings nicht. Viele NGOs lassen schon im Hinblick auf ihre eigenen Finanzlage und Mittelverwendung jede Transparenz vermissen (vgl. Kovach 2003: 2). Aus Sorge, Zielorientierung und Handlungsfähigkeit könnten durch zu viel Mitgliederpartizipation verwässert werden, schrecken NGOs oft von der Anwendung E-demokratischer Methoden (etwa Urabstimmungen im Netz) zurück. Kleinere und weniger institutionalisierte Protestakteure sind hier wagemutiger als die NGO-Multis. Möglichkeiten, die Protestagenda durch Online-Voten verbindlich mitzugestalten, findet man beispielsweise bei Attac, keinesfalls aber bei Greenpeace. Diese demokratische Experimentierfreude bezahlt Attac mit der beschriebenen inhaltlichen Heterogenität und einem unscharfen Profil. Wirklich basisdemokratisch agieren die weiter oben beschriebenen Mobs – hier kann prinzipiell jedes Mitglied auf dem Verteiler Ziel und Form der nächsten Aktion bestimmen. Durch den niedrigen Organisationsgrad ist jedoch bisher die konkrete Einflussnahme dieser Akteure sehr gering.
Als letztes Phänomen des Protests im Informationszeitalter ist das Verhältnis zum Raum zu nennen. Ausgehend von der Existenz eines auf Kommunikation basierenden virtuellen Raumes (vgl. Faßler 1994: 24), haben sich Organisationen, die aus dem Zeitalter vor Durchsetzung des Internet stammen, oft eine Art virtuelle Alias-Organisation zugelegt. Dem Beispiel von Greenpeace, das bereits 2001 ein Cybercenter für die internationale Greenpeace -Community aufbaute, sind andere NGOs gefolgt. Die so erzeugte transnationale Struktur entspricht der Denationalisierung von Politik und sichert die Zukunftsfähigkeit der NGO (vgl. Roth 2001: 58). Gleichzeitig werden durch die Möglichkeiten der Neuen Medien die lokalen Strukturen als Ausgangsbasis gestärkt: Attac ist nicht nur in verschiedene nationale Chapter unterteilt, sondern fußt auf einer großen Anzahl von Ortsgruppen, deren Arbeit und Präsenz ebenfalls stark durch das Internet beeinflusst wird. Die Notwendigkeit, einen globalen Aktionsrahmen durch Vernetzung zu schaffen und gleichzeitig ein lokales Identifikationsangebot zu machen, haben alle großen NGOs erkannt und
in ihren Online-Strukturen abgebildet. Wirklich virtuell sind diese Organisationen damit aber noch nicht. Andere Zusammenschlüsse gehen da weiter: radikale Formen des Online-Protests wie der Hacktivism oder die Aktionen der Mobs lösen sich weitgehend von jeder räumlichen Dimension; der digitale Protest ist nur in den Netzwelten erfahrbar.

Die Zukunft des Protests

Durch die Neuen Medien erhalten Protest-Akteure nicht nur einen neuen Distributionskanal, sondern auch einen neuen kommunikativen Kern, um den sich alle Aktivitäten gruppieren und der durch seine Existenz zur Veränderung der Akteure selbst beiträgt. Ebenso prägend wie der Einfluss des Netzes sind aber auch die reale ökonomische Machtverteilung und die Governance-Strukturen, gegen die sich zunehmend der Protest richtet.
Die Verlagerung von Protest ins Netz bewirkt eine gewisse Entformalisierung im Umgang zwischen Protestierenden und Regierenden; man steht sich nicht mehr unmittelbar auf beiden Seiten des Zaunes gegenüber (vgl. Hirsch 2001: 22; Sassen 1996: 40). Demokratischer im eigentlichen Sinne wird die politische Sphäre dadurch aber nicht. Vielmehr ist innerhalb des Protest-Milieus eine Professionalisierung sowie eine Tendenz zur Elitenbildung zu beobachten. Dieser Trend wird durch die elektronischen Medien sogar noch verstärkt: Die digitale Spaltung zwischen Informationswohlstand und Informationsarmut gilt auch und besonders für die Akteure im Protestmilieu. Einfluss haben diejenigen, die medienkompetent und vernetzt sind.
Künftige Protestgenerationen werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr in der Tradition der neuen sozialen Bewegungen stehen: weder das Attribut sozial noch die Kategorie Bewegung scheinen für diese neuen Akteure relevant zu sein. Im Informationszeitalter tritt, wie etwa am Beispiel der Mobs deutlich wird, die Protesterscheinung an Stelle der Bewegung. Die alten Themen sozialer Bewegungen – Frieden, Dritte Welt, Ökologie – sind durch eine makroökonomische Orientierung auf Fragen der weltweiten Gerechtigkeit und der internationalen Handelsbedingungen abgelöst worden. Durch Digitalisierung und Vernetzung sind viele NGOs schlagkräftiger und effizienter geworden. Damit einher ging allerdings auch eine schleichende Kommerzialisierung, die letztlich auch zur Veränderung der Akteure selbst beiträgt: sie verstehen sich heute vielfach nicht mehr als Kämpfer für ein anderes System, sondern als Protest-Manager, fast immer bereit zur Kooperation mit der etablierten Politik.

1 Neben einer inzwischen recht umfassenden wissenschaftlichen Diskussion zum Thema (vgl. z.B. Siedschlag 2002; Holznagel 2001; Friedrichs 2002) hat es auch immer wieder Experimente staatlicher Stellen mit E – Democracy gegeben: auf kommunaler Ebene beispielsweise in der Stadtteilplanung in Bremen Horn Lehe, auf Bundesebene im Zuge der Diskussion um ein Informationsfreiheitsgesetz. Bisher konnte keines der Versuchsprojekte die Erwartungen auf mehr Partizipation und Engagement dauerhaft erfiillen.
2 Definitionsgrundlage für alle gewählten Beispiele ist die Eigenschaft „innovative, kreative und moralische Herausforderungen an die etablierte institutionelle Politik zu richten”. Die Tatsache, dass nicht alle NGQs den neuen sozialen Bewegungen zuzuordnen sind (vgl. Roth 2001), wurde in der vorliegenden Darstellung nur implizit berücksichtigt.
3 Dies ist auf der Website http://www.attac.de/genua/index.php noch nachvollziehbar.
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Literatur
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Bieber, Christoph 2001: Protestkommunikation im Netz; in: Holznagel, Bernd u.a. (Hg.): Elektronische Demokratie. Bürgerbeteiligung im Internet zwischen Wissenschaft und Praxis, München, S. 124-142 Bieber, Christoph 1999: Politische Projekte im Internet, Frankfurt/M./New York
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Grether, Reinhold 2001: eCulture takes over eCommerce; in: http://www.politik-digital.de/archiv/-edemocracy/etoy.shtml
Hirsch, Joachim 2001: Des Staates neue Kleider; in: Brand, Ulrich u.a. (Hg.): Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, Münster, S. 13-42
Faßer, Manfred/Halbach, Wulf 1994: CyberModerne. Digitale Ferne und die Renaissance der Nahwelt; in: Diess. (Hg.): Cyberspace. Gemeinschaft, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten, München, S. 21-94
Kümmel, Peter 2003: Der kurze Sommer der Anarchie; in: Die Zeit v. 11. 9. 2003
Kovach, Hetty et al. 2003: The Global Accountability Report, hg. v. Houses of Parliament, London Leggewie, Claus 1998: Demokratie auf der Datenautobahn; in: Ders./Maar, Christa (Hg.): Internet und Politik — von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie?, Köln, S. 15-54
Medosch, Arnim 1999: Hacktivsm; in: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/glosse/5570/l.html Rheingold, Howard 2002: Smart Mobs — The next social revolution, New York
Roth, Roland 2001: NGO und transnationale soziale Bewegungen: Akteure einer Weltzivilgesellschaft?; in: Brand, Ulrich u.a. (Hg.): Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, Münster, S. 43-63
Sassen, Saskia 1996: Loosing Control? Sovereignity in the Age of Globalisiation, New York Siedschlag, Alexander et al. 2002: Digitale Demokratie. Willensbildung und Partizipation per Internet, Opladen, S. 86 ff.
Welzel, Carolin/Scheffler, Jan 2002: Dem Staat einen Mausklick voraus? Web-Strategien von Nicht-Regierungsorganisationen; in: Friedrichs, Stefan u.a. (Hg.): E-Government, Effizient verwalten — demokratisch regieren, Gütersloh, S. 233-279
Zaneta, Fani 2001: Wenn e Commerce, dann e Protest; in: http://www.politik-digital.de/edemocracy/ netzkamp agnen/images/lufthans a. shtml

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