Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Aktivierung durch Verpflich­tung?

Von der Pflicht zur Erwerbsarbeit zur Idee eines Sozialdienstes

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 113ff

In den 1990er Jahren wurde die Metapher der „Aktivierung” zu einem zentralen Leitbild der Transformation der westlichen Wohlfahrtsstaaten. Ziel von Aktivierungsmaßnahmen soll es sein, die Menschen zu mehr Eigeninitiative, aber auch mehr Eigenvorsorge in der Gesellschaft zu motivieren. Dahinter steht ein Politikkonzept, das Umfang und Reichweite öffentlicher Güter zurückschrauben und klassische Verteilungsmechanismen zugunsten einer als überlegen betrachteten Marktsteuerung einschränken will (vgl. Gilbert 2002). Diese Transformation beinhaltet zwar durchaus Sozialabbau als Reduzierung von Wohlfahrtsausgaben und Umverteilung. Bedeutender erscheint freilich ein spezifischer „Sozialumbau”, in dessen Mittelpunkt die Selbstverpflichtung des Bürgers auf eine marktkonforme Lebensorientierung steht (vgl. Lessenich 2003). Vor allem sollen mit der ldee der „Aktivierung” Ansprüche auf soziale Grundrechte delegitimiert, zumindest aber deutlich beschränkt werden. In Deutschland fand diese Politikstrategie ihren jüngsten Niederschlag in den Vorschlägen der „Hartz-Kommission” und der „Agenda 2010” der rot grünen Bundesregierung (vgl. Opielka 2003b). Durch populistische Äußerungen aus der Politik (Schröder: „Es gibt kein Recht auf Faulheit”) wird ein politisches Klima erzeugt, in dem „Sozialschmarotzertum” und „Hängemattenmentalität” zu Ursachen der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit umgedeutet werden. Leistungskürzungen und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe stellen die Drohkulisse dar, mittels der man möglichst viele Arbeitslose in auch niedrig bezahlte Jobs einsteuern will. Die Teilnahme am Arbeitsmarkt wird in diesem Diskurs für jeden, der sich nicht anders (etwa aus Renten, ererbtem Vermögen oder durch familiären Unterhalt) finanzieren kann, zur staatsbürgerlichen Pflicht.
Einige Implikationen dieses neuen Pflichtendiskurses stehen im Mittelpunkt der folgen-den Überlegungen. Die Ausgangshypothese dieses Beitrags ist, dass statt einer faktischen Arbeitspflicht für Arbeitslose auch Formen zeitlich beschränkter Arbeitspflichten unabhängig vom Arbeitsmarkt vorstellbar sind. Diese andere Form der Arbeitspflicht in Ergänzung und Ausweitung der bestehenden Wehr- und Zivildienstpflicht ließe sich durchaus produktiv ausgestalten. Es entstünde ein zusätzlicher, staatlich verwalteter Erwerbssektor. Dies steht hinter den Vorschlägen, für junge Erwachsene einen obligatorischen Sozialdienst einzuführen, womit die „Aktivierung” zumindest des jüngeren Teils der Bevölkerung gesichert wäre. Denn auch ein Zwangsdienst ist eine Form der „Aktivierung”, allerdings die direktive ordungsstaatliche Variante, die zudem massiv in negative (Abwehr-)Grundrechte eingreift – während sich die „Aktivierung” durch Entzug von Transferleistungen mit der Beschränkung positiver (sozialer) Grundrechte zu begnügen scheint. Es erscheint überfällig, beide staatliche Aktivierungen durch Verpflichtung genauer zu untersuchen und zu vergleichen.
Hinter dem neuen Pflichtendiskurs steht ein gewandeltes Bild von Rechten und Pflichten der Bürger. Neuerdings rücken die Pflichten in den Vordergrund. Aber warum ist das so und welche Hoffnungen werden daran geknüpft? Während die Diskussion um die Erwerbsarbeitspflicht über die Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingungen bei Arbeitslosigkeit relativ breit geführt wird, wurde die Idee eines obligatorischen Sozialdienstes in Deutschland stets nur höchst vage thematisiert. Zunächst soll deshalb die Diskussion um einen Sozialdienst kurz skizziert und mit vergleichbaren Debatten in den USA in Bezug gesetzt werden. Im zweiten Schritt wird die Idee der „Aktivierung” der Bürger durch staatliche Politik kritisch reflektiert. Die Vorstellung eines „aktivierenden” oder „aktiven” Staates ist nämlich noch älter als die der „Aktivierung” und keineswegs ohne Widerspruch geblieben. Drittens folgt eine Erinnerung an die deutsche Verfassungstradition von „Grundpflichten”. Diese sind weitaus älter als allgemein angenommen wird und für das Gemeinwesen konstitutiv. Schließlich werden im Lichte dieser Überlegungen die Vorstellungen einer sozialpolitisch induzierten Arbeitspflicht qua faktischer Verpflichtung zur Erwerbsarbeit verworfen und die Hoffnungen auf eine sozial-pädagogisch begründete Verpflichtung mittels eines Sozialdienstes relativiert.

1. Die Diskussion um eine Sozialdienst-Verpflichtung

Für einen obligatorischen Sozialdienst, den alle jungen Leute nach Abschluss der Schule oder der Lehre für eine begrenzte Zeit leisten müssten, setzten sich seit Bestehen der Bundesrepublik einzelne Wissenschaftler, Publizisten und Politiker periodisch ein, allerdings mit bislang geringer öffentlicher Resonanz. Die Frage, ob die Wehrpflicht zugunsten einer Freiwilligenarmee abgeschafft werden soll – und damit auch die Grundlage des Zivildienstes entfällt –, hat die Frage nach einer sozialen Dienstpflicht neu belebt. So schlägt beispielsweise der konservative Publizist Warnfried Dettling einen obligatorischen Sozialen Dienst für junge Männer vor, „wie bisher Wehr- oder Zivildienst, für junge Frauen einen freiwilligen Dienst außerhalb oder innerhalb der Bundeswehr” (Dettling 2000: 173). Damit würde sich – anders als bei Vorschlägen, auch die Frauen vollständig dienstzuverpflichten – faktisch (mit Ausnahme von mehr Wehrgerechtigkeit) nicht viel ändern. Allerdings wäre die soziale Dienstpflicht originär begründet, als eigene Bürger- oder Grundpflicht und nicht mehr nur als Ersatz für die Wehrpflicht. An Verfassungsfragen hält sich der frühere Abteilungsleiter eines CDU-geführten Bundessozialministeriums nicht auf. Dettlings Begründung ist sozial- und moralpolitisch: der Sozialdienst führe zu einer „sozialen Alphabetisierung der jungen Männer” und trage dazu bei, die Jugend nicht mehr zu „unterfordern”. Dem-gegenüber wird vor allem von den Grünen massiv für eine Abschaffung von Wehr- und Zivil-dienst und gegen jede Art von Dienstverpflichtung argumentiert (vgl. Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion 2000). Die grüne Position scheint den Zeitlauf auf ihrer Seite zu haben: Bei der Umstellung der Bundeswehr auf eine international aktionsfähige Eingriffstruppe scheint eine Wehrpflichtarmee überfordert.
Politiker aus dem nicht-konservativen Lager wie der frühere SPD-Ministerpräsident Sigmar Gabriel haben – gegen die grüne Gegnerschaft zur Wehrpflicht – die republikanische Tradition der Wehrpflicht im Sinn, wenn sie die Einführung eines einjährigen „Gemeinschaftsdienstes” (Die Zeit v. 23.7.2003) fordern. Im Kontext der liberalen Naumann-Stiftung argumentiert Holger Hinte für ein obligatorisches „Bürgerjahr” und verspricht dadurch eine „Brücke zwischen Freiheit und Gemeinsinn“ (Hinte 1999: 46). Wichtig ist ihm, dass ein Sozial-dienst sowohl zur Gleichstellung von Frauen und Männern wie zur Integration ausländischer Jugendlicher beiträgt. Wissenschaftliche Reflexionen dieses Themas sind in Deutschland bislang rar, wie auch in der ersten größeren Untersuchung über den Zivildienst und seine Alternativen im Fall einer Abschaffung der Wehrpflicht beobachtet wurde (vgl. Beher u.a. 2002: 226ff.). Ein Blick in die deutsche Geschichte ist zudem eher beunruhigend. Die Ausweitung der Dienstpflichten im Nationalsozialismus war Bestandteil einer umfassenden Militarisierungsstrategie (vgl. Götz 1997). Die Idee der „Volksgemeinschaft” schloss Nicht-Arbeit aus, so kategorisch der Oberfeldmeister des Arbeitsdienstes im Jahr 1934: „Wer nicht arbeitet, gehört nicht zur deutschen Volksgemeinschaft.” (zit. in ebd.: 3). Doch wäre es wenig historisch, mit dem Verweis auf den Reichsarbeitsdienst und seine Verästelungen die Diskussion um einen Sozialdienst zu tabuisieren.
Von der NS-Vergangenheit nicht direkt berührt wird in den USA die Diskussion um einen „National Service” weitaus ergebnisoffener geführt. Dort wird deutlich, welche unterschiedlichen Konzeptionen von Staat, öffentlichen Gütern und Demokratie existieren. Der Politologie Benjamin R. Barber plädierte beispielsweise aus demokratiepolitischen Gründen für einen obligatorischen Sozialdienst: „Ein Nationaler Dienst ist nicht nur eine gute Idee, sondern eine unverzichtbare Voraussetzung von Bürgerschaft und damit eine Bedingung für den Erhalt der Demokratie.” (Barber 1990: 43; Übers. M.O.) Mit Milton Friedman und Amitai Etzioni argumentierten zwei höchst unterschiedliche Wissenschaftler wiederum vehement dagegen – der eine, weil er jede Staatsintervention auf ein Minimum beschränkt sehen will, der andere, weil er auf gesellschaftlich selbst organisierten, gleichwohl staatlich geförderten Kommunitarismus setzt (vgl. Evers 1990: 44ff., 145f£). Der von Clinton bestellte Direktor der „Corporation for National Service”, einer staatlichen Agentur zur Koordination von Freiwilligendiensten, zeichnete jüngst die wechselvolle Geschichte der amerikanischen Debatte nach: Georg W. Bush inaugurierte (gegen die Demokraten) eine „Points of Light Foundation”, Bill Clinton (behindert von den Neoliberalen um Newt Gingerich) „Ameri-Corps” (als inländische Variante des Peace-Corps) und George Bush rief nach dem 11.9. in einer „State of Union Address” dazu auf, dass jeder Amerikaner viertausend Stunden oder zwei Jahre seines Lebens Dienst leisten solle (vgl. Wofford 2002). Stets und strittig wurde erörtert, ob diese Dienste freiwillig bleiben oder nicht doch verpflichtend werden sollten (vgl. Gilbert 2002: 192f.).
Eine solche Diskussion steht in Deutschland noch aus. Die bundesrepublikanische Debatte um einen Sozialdienst beschränkte sich auf eher formelhafte Plädoyers ohne zureichende Konkretisierung. Vielleicht wird das so bleiben. Dann wäre das Nachdenken über eine „Aktivierung” der jungen Generation mittels eines Sozialdienstes nicht mehr als eine politisch-kulturelle Randnotiz. Es könnte aber auch anders sein. Virulent wird die Debatte sicher in dem Augenblick, wenn die Wehrpflicht tat-sächlich abgeschafft wird und damit auch die Grundlage für den Zivildienst entfällt. Dies wäre der Moment, in dem die Idee einer republikanischen Dienstpflicht neu belebt werden könnte. Die derzeit propagierte Verpflichtung der Bürger auf Teilnahme am Markt könnte dann durch die Idee einer Verpflichtung des Bürgers auf Unterstützung der Gemeinschaft ersetzt oder ergänzt werden.

2. Aktiver oder aktivierender Staat

Grundpflichten berühren elementar das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Sie ermächtigen den Staat als Zentral- bzw. Bundesstaat Gehorsam unmittelbar einzufordern. Zwei politikwissenschaftliche Diskussionsstränge erörtern ihre Voraussetzungen: die Diskussion um den „aktiven Staat“, inwieweit der (Zentral-)Staat als gesellschaftlicher Akteur unter gegenwärtigen Bedingungen überhaupt handlungsfähig ist. Der zweite Strang ist neuer und wird unter dem Begriff „aktivierender” Staat geführt, in sozialpolitischer Hinsicht geht es vor allem darum, inwieweit Handlungspotenziale der Bürger gefordert und gefördert werden. Unter beiden Gesichtspunkten sind Grundpflichten ein Problem: Kann der Staat noch auf weitere Gehorsamsbereitschaft setzen? Oder muss er seine Bürger zwangsweise aktivieren?
In der Diskussion um den „aktiven” Staat geht es um die Frage, wie der Staat unter hochkomplexen Umweltbedingungen überhaupt seine Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten und unter Umständen sogar ausweiten kann (vgl. hierzu empirisch Windhoff-Heritier 1996). In der angelsächsischen wie der deutschen Diskussion um den „aktiven” Staat kann man eine Vorläuferdebatte für die neueste Begriffskonjunktur des „aktivierenden” Staates sehen. Sie fand nämlich in eher politisch-liberalen und sozialliberalen Kontexten statt, auch als Gegendiskurs zum Etatismus konservativer und marxistischer Prägung. Die Idee des „aktivierenden” Staates kommt vor allem den konservativen und wirtschaftsliberalen Strömungen noch einen weiteren Schritt entgegen. Sie verspricht einen Staat, auch und gerade in der Sozialpolitik, der zum Zwecke der marktkonformen Gestaltung individueller Wohlfahrt unmittelbar auf den einzelnen Staatsbürger ein-wirkt. Je nach Autor wird ein Staatsverständnis beobachtet oder vorausgesetzt, das einen befähigenden Staat, einen „enabling state” (Gilbert/Gilbert 1989) einschließt, mehr „Empowerment” von Bürgern und ihren Organisationen, mehr „Bürgernähe” oder einfach einen Staat erwartet, der die Bürger- bzw. Zivilgesellschaft in Ruhe sich entwickeln lässt und einen „Wohlfahrtspluralismus” oder „welfaremix” zwischen Staat, Markt und Gemeinschaft akzeptiert (vgl. Evers 2000, Newman 2001). Sobald in der Sozialpolitik präzisere positive Formulierungen der staatlichen „Aktivierung”präsentiert werden und genauer gefragt wird, welche Policy-Strategien innerhalb dieses magischen Wohlfahrtsdreiecks angezeigt scheinen, werden immer wieder ähnliche und teils noch kaum beantwortete Fragen gestellt.
Eine gewisse Ratlosigkeit befällt die Theoretiker eines „Dritten Weges” und des „Kornmunitarismus” vor allem, wenn es um das Verhältnis von sozialen Rechten und damit kor-respondierenden Verpflichtungen geht. Thomas Olk gibt zu bedenken, dass eine „Politik des Gehens und Nehmens nur unter der Bedingung keine neuen Ungerechtigkeiten schafft, dass die Mitglieder der Zielgruppen aktivieren-der Strategien tatsächlich über die Kompetenzen und Ressourcen für aktive Bewältigungsstrategien verfügen. Es ist also sorgfältig zu prüfen, ob und unter welchen Bedingungen die stärkere Betonung von Pflichten gerade die schwächsten Gruppen erneut benachteiligt” (Olk 2000: 121). Je „dichter” die Vorstellungen einer „politischen Gemeinschaft” mit hohen Reziprozitätsanforderungen werden, umso näher liegt die sozialpolitische Frage, ob eine Ausweitung sozialer Rechte nicht schon aus Gründen der Systemintegration eine Ausweitung sozialer Pflichten erfordert. Das Liebäugeln mit einer Politik, die die klassisch liberale „Hilfe zur Selbsthilfe” beschleunigt und passives Hängenlassen – was immer das konkret heißt – nicht mehr duldet, ist nicht auf die Kommunitaristen beschränkt. Sie findet sich als eine Art Gegenbewegung zur Staatsskepsis der 1980er Jahre auch in Diskussionszusammenhängen, denen es um eine Modernisierung staatlichen Managements geht, beispielsweise durch eine Optimierung und Ausweitung ökonomischer Handlungsmodelle in staatlichen Administrationen – teils im Gegensatz zu kommunitaristischen Strategien, denen es eher um die Modernisierung der demokratisch-politischen (republikanischen) und moralisch-gemeinschaftlichen Aspekte staatlichen (Verwaltungs-)Handelns geht. Klar ist nur, dass das Thema von Verpflichtungen und Pflichten im Sozialsektor durch die Förderung „bürgerschaftlichen Engagements” im noch so weiten Sinn (vgl. Heinze/Olk 2001) nicht ausreichend beantwortet ist.
Wesentlich über den Appell der Beachtung potenzieller neuer sozialer Ungleichheiten hinaus ist diese Diskussion bisher allerdings nicht gekommen. Für eine schlichte Legitimierung von Pflichten lässt sich die Idee des „aktivierenden” Staates jedenfalls nicht bruchlos in Dienst nehmen.

3. Soziale Grundpflichten als verfassungstheoretisches Problem

Leider liegt eine systematische Analyse sozialer Pflichten bislang nicht vor. Natürlich haben sich Soziologen dafür interessiert, beispielsweise Ralf Dahrendorf in seiner Reflexion über „Ligaturen”, also dem weiten Spektrum von Bindungen, Verpflichtungen und Pflichten. Und selbstverständlich ist die Frage der Verpflichtung als Selbstverpflichtung ein klassisches Thema aller Vertragstheorien. So spricht der Sozialphilosoph John Rawls in seinem Klassiker „Eine Theorie der Gerechtigkeit” von einer „natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit” und führt die für unsere Frage bedeutsame Unterscheidung von „Verpflichtung” (obligation) und „Pflicht” (duty) ein: Verpflichtungen entstehen durch freiwillige Akte, sie richten sich nach institutionellen Regeln und gelten gegenüber bestimmten Menschen; natürliche Pflichten hingegen wer-den nicht freiwillig übernommen und gelten gegenüber allen Menschen (vgl. Forst 1998: 190). Welchen Status aber hat beispielsweise die Wehrpflicht und gegenüber wem besteht diese Pflicht? „Die Wehrpflicht ist nur zulässig, wenn sie zur Verteidigung der Freiheit selbst notwendig ist, wozu hier nicht nur die Freiheiten der Bürger der betreffenden Gesellschaft, sondern auch anderer Gesellschaften gehören” (Rawls 1979: 418). Rawls argumentiert, dass gerade bei Bürgerpflichten eine diskursive Begründung unerlässlich ist, jeder als „moralische Person” das Recht zur Einrede – also dem zivilen Ungehorsam bis hin zur Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen – besitzen müsse.
Die Wehrpflicht erweist sich insoweit als eine besondere soziale Pflicht. Der Wehrexperte Dieter S. Lutz versuchte aus der Geschichte der Grundgesetzes zu begründen, dass die Wehrpflicht „keinesfalls den Charakter einer ,Grundpflicht” besitzt; sie sei „vielmehr ,lediglich` eine Rechtspflicht, die erst durch die politischen Entscheidungsträger mit Leben gefüllt wird” (Lutz 2000: 142). Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung, die in der Überschrift des zweiten Hauptteils ausdrücklich von „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen” spricht, vermeidet das Grundgesetz den Begriff der Grundpflichten und spricht, so Lutz, „auch nur – und das mit Nachdruck – von der Würde des Menschen und nicht etwa von der Würde des Staates” (ebd.: 142f.). Lutz sieht den Staat als „dienend” gegenüber seinen Bürgern und – anders als der vorhin zitierte Barber – nicht primär als republikanisches Gemeinwesen, sondern betont seinen rein funktionalen Charakter: „Eine Verfassung dagegen, die Grundpflichten gegenüber dem Staat enthält, müsste konsequenterweise auch voraussetzen, dass der Staat (und nicht nur die einzelnen Bürger und Bürgerinnen) über Grundrechte verfügt” (ebd.: 143). Schließlich stellt Lutz die Wehrpflicht in den Kontext des Völkerrechts, insbesondere der Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die 1930 und 1957 in Abkommen ausdrücklich die unterzeichnenden Mitgliedsstaaten verpflichteten, „den Gebrauch der Zwangs- und Pflichtarbeit in allen ihren Formen möglichst bald zu beseitigen” und da-rüber hinaus ausdrücklich eine wirtschaftlichen Gründen basierende Dienstpflicht verbieten („Zwangs- oder Pflichtarbeit […] als Methode der Rekrutierung und Verwendung von Arbeitskräften für Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung“) (ebd.: 145).
Die Argumentation von Lutz wurde hier ausführlich nachgezeichnet, weil sie eine – nicht nur bei den Grünen – typische Ablehnung von Grundpflichten markiert. Doch ist das die ganze Wahrheit? Die gründlichste Untersuchung der „Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland“ legte Otto Luchterhandt bereits 1988 vor. Luchterhandt katalogisiert systematisch die Grundpflichten, die auch in der Bundesrepublik durchaus umfänglich sind: Pflicht zur Übernahme von Ehrenämtern, Dienstleistungspflichten, Steuerpflicht, Gerichtspflichten, Nothilfepflicht, elterliche Erziehungspflicht, Schulpflicht, Wehrpflicht oder Sozialversicherungspflicht. Während die in der Weimarer Reichsverfassung noch sehr prononcierte Verknüpfung von Rechten und Pflichten heute nur noch in einigen Länderverfassungen zu finden ist, spielen Grundpflichten im Grundgesetz zumindest dem Anschein nach kaum eine Rolle. Luchterhandt betont aber, dass der „Text des Grundgesetzes bezüglich der Grundpflichten nicht so unergiebig ist, wie man gemeinhin an-nimmt” (Luchterhandt 1988: 577). „Bemerkenswert ist”, so Luchterhandt, „dass die Überspannung des Pflichtgedankens im soeben zusammengebrochenen NS-Staat die Kategorie der Grundpflichten nicht wirklich in Misskredit zu bringen vermochte. Darin zeigt sich eindrucksvoll sowohl die Vielfalt des Pflichtgedankens, als auch seine tiefe Verwurzelung im deutschen Staatsleben über alle politischen Lagen hinweg.” (ebd.: 391) Von einer vollständigen „Entpflichtung” der Bürger kann also auch unter den Bedingungen des ausgebauten Sozialstaats nicht die Rede sein.
Die Verfassungsväter und -mütter im Parlamentarischen Rat hatten übrigens die explizite Aufnahme von Pflichten in die Verfassung ursprünglich keineswegs ausgeschlossen. So hieß es in einem ersten Entwurf zu Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes: „Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden außer im Rahmen einer allgemeinen für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht” (zit. n. ebd.: 407). Damit waren unter anderem die – wie es Theodor Heuss nannte – „althergebrachten” Dienstleistungspflichten der Gemeindebürger („Hand- und Spanndienste, Feuerwehr, Deichschutz und dergleichen“) gemeint. Am Ende wurde diese Bestimmung auf Druck der Gewerkschaften aber gestrichen, da man die Einführung eines Arbeitsdienstes durch die Hintertür befürchtete. Verfassungsrechtlich scheint in-soweit eine Leerstelle auf. Eine allgemeine Arbeitspflicht wird – zurecht – abgelehnt. Eine Sozialdienstpflicht aber wäre verfassungsrechtlich zumindest denkbar, wenn auch umstritten.
Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist die Diskussion um Grundpflichten an einem eigentümlichen Punkt angelangt. Auf der einen Seite erscheinen sie altbacken, sie passen nicht recht in das Bild einer individualisierenden und die persönliche Freiheit respektierenden Sozialpolitik. Die Wehrpflicht, der Zivildienst und alle Vorschläge eines Sozialdienstes gelten als ökonomisch ineffizient, als Fehlallokation von Arbeitskräften (vgl. z.B. Straubhaar 2000). Der Markt wird als optimales Steuerungsinstrument aller wohlfahrtsproduktiven Leistungen gesehen. Andererseits wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung belegt, dass die spezifischen Leistungen gemeinschaftlicher Systeme (Familie, Vereine, Verbände etc.) in Markt-und Geldkategorien nicht vollständig aufgehen. Auch deshalb erlebt die Idee des Sozialdienstes in der politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion eine gewisse Renaissance. Nicht wenige erkennen, dass der Staat als Wohlfahrtsproduzent Sinn macht, aufgrund seiner demokratiebedingten Anlage zur Universalisicrung und vor allem zur Rechtsgleichheit. Daran wiederum knüpfen Rechte und Pflichten an. So schnell dürften deshalb auch Grundpflichten nicht aus-sterben. Das gilt zusätzlich, wenn man den Blick über Deutschland hinaus lenkt. Der Entwurf ehemaliger Spitzenpolitiker für eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten” (vgl. Schmidt 1998) – als Ergänzung, nicht als Ersatz der Menschenrechtsdeklaration – wird auch vor dem Hintergrund einer Berücksichtigung islamischer und östlich-religiöser, vor allem konfuzianischer Traditionen (vgl. Kühnhardt 1987: 107ff.) relevant, die immer wieder auf die Notwendigkeit einer Balance von Rechten und Pflichten des Individuums verweisen.

4. Arbeitspflicht am Arbeitsmarkt?

Was unterscheidet die Diskussion um einen obligatorischen Sozialdienst von der neueren sozialpolitischen Arbeitspflicht? Die Parallele ist keineswegs konstruiert, wie ein Blick auf einige Schlagzeilen belehrt: „Clement plant harte Strafen für Arbeitsverweigerer” (Financial Times Deutschland v. 8.8.2003) heißt es dort, oder: „Wieviel Truppen benötigt Wolf-gang Clement für den Kampf gegen die Faulenzer?” (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4.8.2003). Man mag einwenden, dass sich die „Strafen” auf Leistungsentzug beschränken und die „Truppen” nur Leistungsmissbrauch verhindern sollen. Gleichwohl verweist das martialische Vokabular auf ein Problem. Die Grenzen zwischen den Organisationsformen gesellschaftlicher Arbeit sind im Fluss, die legitimative Dominanz der Erwerbsarbeit muss notfalls zwangsweise hergestellt werden. Auf diesen Widerspruch hat Georg Vobruba aufmerksam gemacht, wenn er betont, dass „income mixes” historisch die Regel waren (vgl. Vobruba 2000). Anstelle das Normalisierungsprogramm allgemeiner Lohnarbeit zu fetischisieren, wäre es vermutlich ratsamer, über eine Bürgergesellschaft nachzudenken, in der Formen eines Grundeinkommens mit anderen Einkommen kombiniert werden können (vgl. Opielka 2002).
Derzeit wird das Volkseinkommen über-wiegend über Erwerbsarbeit und daran anknüpfende Transfers zu Haushaltseinkommen erzielt. Man könnte sich gleichwohl vorstellen, dass auch die anderen Arbeitsformen zu originären Einkommensansprüchen führen. Dies erfordert nicht zwingend eine dem Erwerbsarbeitsverhältnis vergleichbare Verrechtlichung dieser Arbeitsformen. Denkbar wäre durchaus eine Pauschalierung wie in den Vorschlägen für ein „Erziehungsgehalt” oder bereits jetzt im „Elterngeld”, im Pflegegeld bzw. in der sozial-versicherungsrechtlichen Anerkennung von Pflege- und Erziehungszeiten. Die Pluralisierung von Arbeit würde ihren komplexen Pflichtcharakter – ökonomisch am Arbeitsmarkt, politisch bei Pflichtdiensten, moralisch in den Familien, ethisch bei Freiwilligendiensten – moderieren, ohne ihn aufzulösen, was tatsächlich unrealistisch wäre.
Daneben ließe ein allgemeiner Sozialdienst noch andere positive Begleiterscheinungen er-warten, etwa die Begleitung der doch immer auch ich-bezogenen Bildungs- und Arbeitsmarktinitiation von Jugendlichen durch eine ausdrücklich auf das allgemein Gemeinschaftliche orientierten Lebensphase (vgl. Opielka 2003). Inwieweit diese auch heute zum Teil vom Zivildienst (und dem Wehrdienst) erbrachten Leistungen durch einen – wenngleich aus-gebauten – Freiwilligendienst (vgl. z.B. Robert-Bosch-Stiftung 1998, Liebig 2001) erwartet werden dürfen, erscheint nämlich keineswegs gewiss. Ein allgemeiner Sozialdienst wäre eine starke Variante des „aktivierenden Staates” auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Gegenüber einer Politik der „Aktivierung”, die vor allem die Verlierer am Arbeitsmarkt zur marktkonformen Lebensführung verpflichtet, hätte sie aber einen großen Vorteil: sie diskriminiert keinen und nützt vermutlich vielen.

Literatur

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