Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Die Anti-A­tom­waf­fen­-Pro­teste in der Bundes­re­pu­blik und in Großbri­tan­nien

Zur Entwicklung der Ostermarschbewegung 1957 -1964

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 22ff

Am frostig-regnerischen Karfreitag morgen 1958 kamen etwa 10.000 Menschen auf dem Trafalgar Square im Herzen Londons zusammen, um an einem

Protestmarsch gegen Atomwaffen zur nuklearen Testanstalt Aldermaston bei Keading teilzunehmen. Zu diesem Marsch hatte die erst vor kurzem

gegründete Campaign for Nuclear Disarmament (CND) aufgerufen. Anliegen dieser Organisation war es, die britische Regierung, vor allem aber die

oppositionelle Labour Party, vom Sinn einer unilateralen nuklearen Abrüstung zu überzeugen. Immerhin tausend Demonstranten nahmen die Strapazen

des achtzig Kilometer langen Fußmarschs übers Osterwochenende auf sich. Die Tradition des Ostermarsches war geboren. Derartige Märsche sollten

die außerparlamentarischen Proteste der frühen 1960er Jahre in Europa und in den Vereinigten Staaten entscheidend prägen. Bereits 1960

organisierte eine Gruppe Hamburger Pazifisten einen bundesdeutschen Ostermarsch nach britischem Vorbild. An diesem ersten bundesdeutschen

Ostermarsch beteiligten sich nur einige hundert Menschen, doch schon im Jahre darauf zogen die deutschen Ostermärsche 7.500 Teilnehmer an. Auch

in anderen Ländern orientierten sich die Proteste gegen die Atomwaffen am britischem Vorbild. Der amerikanische Pazifist und Bürgerrechtler

Bayard Rustin adaptierte diese Protestform 1963 für den von Martin Luther King geführten Marsch auf Washington (vgl. Wittner 1997: 49). Das

Committee for a Sane Nuclear Policy, das ab 1958 recht konstant rund 25.000 Mitglieder zählte, breitete sich allmählich von den urbanen Regionen

an Ost- und Westküste ins Landesinnere aus. In Frankreich dagegen blieb die Anti-Atomwaffenbewegung nur sehr schwach (vgl. Hazareesingh 1994).
Die äußere Ähnlichkeit der Proteste in verschiedenen Ländern führt bei Beobachtern und Forschern bis heute zu der Annahme, dass es sich bei der

Anti-Atomwaffen-Bewegung um eine transnationale Protestbewegung gehandelt habe, die aufgrund identischer Bedrohungsszenarien ähnliche

Forderungen, Strategien und Protestformen her-vorgebracht habe. Ein genauerer Blick auf die Protestbewegungen in Deutschland und Großbritannien –

den beiden europäischen Ländern mit dem größten Widerstand gegen Atomwaffen —fördert jedoch ein differenzierteres Bild zutage. Die spezifischen

politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen die nationalen Proteste jeweils zu verorten waren, führten auch zur Ausbildung sehr

unterschiedlicher Protestkulturen, die keineswegs unmittelbar gleichgesetzt werden können. Trotz aller transnationalen Verflechtungen zwischen

den Atomkriegsgegnern waren nationale Protesttraditionen letztlich von Ausschlag gebender Bedeutung. Die britischen und bundesdeutschen

Ostermärsche waren jedoch nicht nur an die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Länder gebunden und damit Produkte der Zeit – sie wirkten

zugleich auf die politischen Kulturen ihrer Heimatländer zurück und prägten die dortigen Protestkulturen der kommenden Jahrzehnte. Diese Prozesse

sollen im Folgenden näher analysiert werden. Es geht somit nicht nur um die historische Analyse von Protestphänomenen. Der Essay soll auch

anregen, historische und gegenwärtige Proteste auf ihre historische Verankerung in gesellschaftlichen Protesttraditionen zu befragen.
Für die unilaterale Abrüstung: Die Proteste gegen Atomwaffen in Großbritannien
Den Plan für eine groß angelegte Kampagne gegen Atomwaffen in Großbritannien, welche über die traditionell pazifistischen Kreise und die Proteste

gegen Atomversuche der frühen 1950er Jahre hinausreichen sollte, machte zunächst der Schriftsteller und Essayist J. B. Priestley im November 1957

öffentlich. Dem Artikel vorausgegangen war die Enttäuschung vieler Linker in der Labour Party: Aneurin Bevan, die Leitfigur der Linken, hatte

sich auf dem Labour-Parteitag 1957 gegen die unilaterale nukleare Abrüstung des Vereinigten Königreichs ausgesprochen und war damit auf die Linie

des reformistischen Parteivorsitzenden Hugh Gaitskell eingeschwenkt.. In einem Artikel im New Statesman forderte Priestley nun eine

außerparlamentarische Kampagne, welche die Labour Partei vom sicherheitspolitischen Kurs Gaitskells abbringen und sich für die unilaterale

nukleare Abrüstung einsetzen sollte. Nur so könne eine „universale Apokalypse” abgewendet werden.
Priestleys Artikel wurde zu einer Art Gründungsdokument der Campaign for Nuclear Disarmament Sie trat Mitte Februar 1958 mit einer Versammlung in

der Central Hall in Westminster erstmals an die Öffentlichkeit. Mehr als 5.000 Menschen hatten sich eingefunden. Über 250 ähnliche Versammlungen

fanden im Lauf 1958 des Jahres landauf, landab statt. Auch 1959 und 1960 wuchs die Kampagne stetig an. Es gab keine formelle Mitgliedschaft. Doch

anhand des Wachstums der Ortsgruppen und der Protestveranstaltungen lässt sich in etwa der Erfolg der Kampagne ablesen. Im Jahre 1960 hatte CND

über 450 Ortsgruppen. Am Karfreitag dieses Jahres pilgerten etwa 10.000 Menschen nach Aldermaston, um am Marsch auf London teilzunehmen. Am

Ostermontag umfasste der Zug etwa 40.000 Menschen, die sich in einem Zug von etwa neun Kilometern Länge auf die britische Hauptstadt zubewegten.

An der Abschlussveranstaltung nahmen zwischen 60.000 und 100.000 Demonstranten teil. Zeitgenossen sprachen von der größten Protestveranstaltung

in London seit den Protesten der Chartisten 1848 (vgl. Wittner 1997: 46-48, 185).
In der Campaign for Nuclear Disarmament kamen vor allem bürgerliche Kreise zusammen, die allerdings aus ganz verschiedenen Zusammenhängen zur CND

stießen.
Zwar lehnte eine Mehrheit der Briten – im Jahre 1958 64 Prozent – den Einsatz von Atomwaffen als Mittel der internationalen Politik ab (vgl.

ebd.: 50). Die Kampagne konnte jedoch dennoch nie ganz aus ihrem spezifisch bürgerlichen Einzugskreis heraus-finden. Hinsichtlich seiner

Protestformen griff CND zunächst vor allem auf die Tradition der britischen Progressives des frühen 20. Jahrhunderts zurück. Es ging weniger um

spektakuläre öffentliche Proteste, sondern eher um stille Einflussarbeit. Mahnwachen an symbolischen Orten wie Kriegerdenkmälern und öffentliche

Vorlesungen waren die bevorzugten Protestformen. Das brachte auch Gewerkschafter, welche den reformistischen Kurs des Labour-Vorsitzenden Hugh

Gaitskell ablehnten, in den Umkreis der Kampagne; sie bestimmten aber zu keinem Zeitpunkt das Erscheinungsbild und die Organisation von CND (vgl.

Taylor 1988: 19-47).
In den ersten Jahren rekrutierten sich sowohl der Vorstand als auch die weitere Anhängerschaft der Kampagne vor allem aus dem liberalen

Bürgertum. Prototypisch waren Intellektuelle wie der Schriftsteller J. B. Priestley, der Kanonikus der Londoner St. Pauls-Kathedrale, John

Collins, oder der Oxforder Historiker A. J. P. Taylor. Viele der Aktivisten der ersten Stunde kannten sich schon aus anderen Zusammenhängen, sei

es aus Kampagnen im Bereich der Sozialpolitik in den 1920er und 30er Jahren oder aus der Unterstützungsarbeit für die Republikaner im Spanischen

Bürgerkrieg.
Nach anfänglich rapidem Wachstum verlor die Bewegung um 1960 jedoch an Dynamik, was auf eine Radikalisierung der CND zurückgeführt werden kann.

CND forderte nun Großbritanniens Austritt aus der NATO als einzigen Weg zur unilateralen nuklearen Abrüstung. Das ging vielen der ursprünglichen

Aktivisten zu weit. Darüber hinaus schreckten Richtungskämpfe zwischen linken Gruppierungen viele der bürgerlichen Förderer ab. Eine radikalere

Gruppe um den inzwischen über achtzigjährigen Philosophen Bertrand Russell und seinen Assistenten Ralph Schoenman spaltete sich als Committee of

100 von der CND ab und versuchte, durch spektakuläre Aktionen und gezielte Regelverletzungen die Beachtung der Medien auf sich zu ziehen. Zwar

schafften es die vom Committee of 100 organisierten Sitzstreiks vor dem britischen Verteidigungsministerium, der amerikanischen sowie der

sowjetischen Botschaft und vor einigen Militärstützpunkten auf die Titelseiten der Zeitungen. Sie diskreditierten jedoch in den Augen der

britischen Bevölkerung die Ziele der gesamten Kampagne. Mit dem Committee of 100 stand nun auch der CND im Verruf, ein notorischer Unruhestifter

zu sein. 1963 kam es auf dem Ostermarsch zum Eklat, als einige Mitglieder des Komitees der 100 Lagepläne geheimer Regierungsbunker verteilten und

einzelne Aktivisten diese im Rahmen einer „Spies for Peace“-Kampagne auch besetzten. Selbst die akute Gefahr eines Atomkrieges während der

Kubakrise 1962 konnte den Niedergang der Kampagne nicht aufhalten. Mit dem Beginn der Tauwetterperiode im Gefolge der Krise und mit der Wahl des

als links geltenden Harold Wilson zum Parteivorsitzenden der Labour Party waren auch die äußeren Bedingungen für eine außerparlamentarische

Kampagne weggefallen. Der Vietnamkrieg wurde nun zum Kristallisationspunkt einer neuen, sehr viel jüngeren und sehr viel radikaleren

Protestbewegung, für welche die tradierten Protestformen der CND in keiner Form wegweisend waren. Weit mehr verwiesen die Aktionen des Committee of 100 auf die bald einsetzenden Studentenproteste der 1960er Jahre und auf die Kampagnen „von unten” in den sozialen

Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre.
Von der alten zur Neuen Linken: Die Proteste gegen Atomwaffen in der Bundesrepublik
Die Proteste gegen den Atomtod hatten in der Bundesrepublik von Anfang an einen ganz anderen Charakter. Sie begannen zunächst nicht als Proteste

gegen die sozialdemokratische Partei. Sie wurden vielmehr von der SPD organisiert, die dadurch ihre Traditionslinie als Partei und soziale

Bewegung ein letztes Mal aufnahm. Durch eine außerparlamentarische Bewegung sollte jene, vor allem im bürgerlichen Lager verortete Mehrheit der

Bevölkerung gewonnen werden, welche der Partei aufgrund der absoluten Mehrheit der CDU im Parlament versagt blieb (Lehnert 1983: 186). Über den

Druck der öffentlichen Meinung wollte die SPD einen Einstellungswandel der Adenauer-Regierung herbeiführen. Erst in einer zweiten Phase der

Proteste ab 1960 dominierte nicht mehr der straff organisierte Parteiprotest, sondern der ungesteuerte Zusammenschluss „von unten” um den

Ostermarsch der Atomwaffengegner.
Die Anfang 1958 geplante Kampagne ,Kampf dem Atomtod‘ war die systematische Fortführung des sozialdemokratischen Widerstands gegen die

Wiederbewaffnung und einseitige Westbindung der Bundesrepublik (vgl. Dülffer 2003). Unter starker, auch finanzieller Beteiligung der

Gewerkschaften begann die Partei mit ihrer Kampagne. Ziel war es, die Ausstattung der gerade gegründeten Bundeswehr mit atomwaffentauglichen

Trägersystemen zu verhindern. Am 23. März 1958 trat ,Kampf dem Atomtod‘ mit einer feierlichen Kundgebung in der Frankfurter Kongresshalle an die

Öffentlichkeit. Obwohl die Organisatoren eher eine „Mahnstunde” als eine Massenveranstaltung geplant hatten, mussten viele der mehr als

zweitausend Besucher in Nebensäle umgeleitet werden. In der Folge wurden Landes- und Ortsgruppen gegründet, meist unter direkter Beteiligung

lokaler und regionaler Partei- und Gewerkschaftsgliederungen. Die Großdemonstrationen, Großkundgebungen und vereinzelten Warnstreiks standen in

der Tradition der Arbeiterbewegung. In den größeren deutschen Städten fanden Fackelmärsche statt. Noch dominierten nicht die Normen der

Gesellschaft in Frage stellende Jugendliche die Proteste, sondern vornehme ältere Herren mit Anzug und Krawatte.
Die Kampagne stieß in der Bevölkerung auf einige Resonanz. Eine überwältigende Mehrheit von über siebzig Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung

lehnte die Atombewaffnung der Bundeswehr ab. Sieht man von den Hunderttausenden ab, die sich ohnehin auf den gewerkschaftlichen Maikundgebungen

einfanden, nahmen zwischen An-fang April und Ende Juni 1958 etwa 325.000 Menschen an den Protesten teil (vgl. Rupp 1984: 191). Diese allgemeine

Unterstützung für die Kampagne schlug sich alIerdings nicht in Wahlerfolgen für die SPD nieder. Für die Wahlentscheidung schienen Themen aus dem

Bereich der Wirtschaft und Sozialpolitik bedeutsamer. Nach der Niederlage bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Sommer 1958 und im

Zuge der pro-
grammatischen Neuorientierung der SPD zog sich die Partei langsam aus der Kampagne zurück (vgl. Rupp 1984).
Neben der SPD-Kampagne und oft in enger Kooperation mit ihr engagierten sich weitere gesellschaftliche Gruppen gegen die Atombombe. Sie machten

jedoch nicht den eigentlichen Charakter der Kampagne in dieser Frühphase aus. Das vom Schriftsteller und Essayisten Hans Werner Richter

gegründete Münchner Komitee gegen Atomrüstung war das auf Bundesebene wohl prominenteste Beispiel. Die Aktivitäten der Deutschen

Friedensgesellschaft, der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK), der verschiedenen sozialdemokratischen Vorfeldorganisationen wie der

Falken und der Naturfreunde sowie der Vereinigung der Kriegsdienstgegner (VK) sollten jedoch ebenso wenig vergessen werden wie die lokalen

Aktivitäten von Schüler- und Studentengruppen (vgl. Boll 2002; Schmidt 2002). Sie führten kleinere Demonstrationen und Mahnwachen an

Kriegerdenkmalen durch. Auch Studenten aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) protestierten gegen die Atombewaffnung der

Bundeswehr, oft zum Missfallen der SPD, welche von ihrer Organisation unabhängiges Engagement nur ungern dulden wollte und es sehr schnell und

oft zu unrecht als „kommunistisch” einstufte. Doch politisch bestimmend blieb die von der SPD geprägte Linie, die auch einen Kurs der rigiden

Abgrenzung gegenüber kommunistischen „Tarnorganisationen” auf Bundesebene zur Folge hatte.
Die Ostermärsche
Die SPD-Kampagne schuf erst die strukturellen Voraussetzungen dafür, dass eine von der Partei unabhängige, ja gegen deren Politik gerichtete

Protestbewegung entstehen konnte. Die zweite Phase der bundesdeutschen Proteste entstand nämlich gerade aus den Gruppen, welche mit der

programmatischen Wende der SPD und mit dem daraus resultierenden Rückzug der SPD aus dem außerparlamentarischen Raum unzufrieden waren. Eine

Hamburger Gruppe aus dem lokalen Verband der Kriegsdienstverweigerer um den Lehrer Hans-Konrad Tempel rief aus Enttäuschung mit der SPD-Kampagne

1960 die Ostermärsche der Atomwaffengegner nach englischem Vorbild ins Leben (vgl. Bethge 1981). Am ersten Marsch durch die Lüneburger Heide zum

britischen Stützpunkt Bergen-Hohne in der Nähe des Konzentrationslagers Bergen-Belsen beteiligten sich nur einige Hundert Demonstranten. 1961 gab

es bereits Ostermärsche im Norden, Süden und Südwesten Deutschlands sowie im Ruhrgebiet. In den folgenden Jahren wuchs die Teilnehmerzahl

sprunghaft an. Hatten sich an den ersten Märschen nur einige Tausend beteiligt, nahmen 1962 und 1963 je 50.000 Menschen in der ganzen Bundesre-

publik an den Protesten teil; 1964 waren es 100.000 (vgl. Wittner 1997: 220).
Jene Pazifisten um Hans-Konrad Tempel, welche den Ostermarsch in der Bundesrepublik einführten, reflektierten ihren Import nicht weiter. Wichtig

war für sie die Übernahme eines erfolgreichen Modells für friedenspolitische Demonstrationen: Im Zeichen der atomaren Gefahr ging es ihnen vor

allem darum, adäquate Handlungsformen zu finden, nicht so sehr um die selbstreflexive Verortung. Nur an der Oberfläche ähnelte die bundesdeutsche

Ostermarschbewegung den britischen Protesten. Anders als CND war
die deutsche Bewegung dezentral verfasst. Entsprechend gab es auch keinen zentralen Marsch. Ebenso wenig verfügte die bundesdeutsche

Ostermarschbewegung über die straffe Organisation ihres britischen Pendants. Es gab keinen Vorstand, sondern lediglich einen

Koordinationsausschuss, welcher die Aktivitäten der örtlichen Gruppen an-leiten sollte und die Pressearbeit koordinierte.
Das langsame Entstehen einer ganz eigenen Bewegung jenseits der Großorganisationen der Arbeiterbewegung und jenseits der festgezogenen

Frontlinien des Kalten Krieges war von einem stetigen Wandel des Charakters der Protestformen begleitet. Dieser Wandel hatte ebenfalls eher

national gesellschaftliche als transnationale Wurzeln. Der erste Sternmarsch nach Bergen-Hohne fand noch als schweigende Prozession statt. Für die

folgenden Ostermärsche ließ sich dies, sehr zum Missfallen einiger Unterstützer, nicht mehr durchhalten. Gerade durch die Traditionen der

Arbeiter- und Jugendbewegung wurden die Ostermärsche besonders im Ruhrgebiet zu einer wesentlich ausgelasseneren Veranstaltung. Vermehrt konnte

man nun die Traditionen der Jugendbewegung. und der sozialdemokratischen Vorfeldorganisationen auf den Märschen erkennen. Jazz-, Skiffle- und

Folkgruppen, ab 1965 vor allem mit den Songs der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, und politisches Kabarett wurden zu einem festen Teil der

Märsche. Sie waren für Traditionen der Lebensreform- und Jugendbewegung anschlussfähig (vgl. Linse 1986) und erschienen Beobachtern so als

„linker, klampfender Wandervogel” (zit. n. Siegfried 2000: 610). Wie in Großbritannien auch sahen die bundesdeutschen Demonstranten den Marsch

nicht allein als „Demonstration gegen den Krieg”, sondern – so ein Augen-zeuge – auch „als eine Demonstration für das Leben. Daher die vielen

jungen Menschen, die das Leben noch vor sich haben. Sie haben ihre Instrumente mitgebracht, ihre Lieder und ihre Skepsis gegen die verstaubten

Ideale von gestern.” (zit. n. Otto 1977: 93). Nicht allen Teilnehmern war diese Interpretation der Märsche ganz geheuer. Einige fürchteten, dass

„durch eine Jazzkapelle der Ostermarsch schlechthin als Ulk angesehen wird.” (zit. n. ebd.: 92).
Auch die generationelle Zusammensetzung der bundesdeutschen Ostermärsche unterschied sich von jener der britischen Bewegung. Die bundesdeutschen

Proteste wurden viel mehr und viel rascher als ihr britisches Pendant zu Demonstrationen einer jüngeren Generation. Jene Gruppe der in

Großbritannien so starken Kohorte der etwa um 1900 Geborenen fehlte auf den Ostermärschen fast ganz. Dagegen nahm die Generation der „45er”

(Moses 2000), welche in den 1920er Jahren geboren waren und das national-sozialistische Regime noch bewusst miterlebt hatten, eine zentrale Rolle

ein.
Pazifismus und Neue Linke
Von ihren pazifistischen Ursprüngen ausgehend, wandelten sich die bundesdeutschen Ostermärsche so zum Schmelztiegel einer Richtung der

bundesdeutschen „Neuen Linken”, welche sich die Protestformen der alten Linken und des Pazifismus kreativ aneignete. Die Forschung hat gerade der

Bedeutung des Pazifismus für die Entstehung einer bundesdeutschen Neuen Linken bisher viel zu wenig Beachtung geschenkt. Die Oster-
-marschbewegung bot ein Forum, um eine offene und öffentliche Diskussion über Fragen der Abrüstung mit Gruppen jeder Couleur unabhängig von

überkommenen Organisationsformen in Gang zu bringen (vgl. Negt 1976). Vor allem wurde hier der von der Neuen Linken so ersehnte Kontakt zwischen

studentischen Gruppen und Arbeitern Wirklichkeit. Die informierte Diskussion war ein zentraler Bestandteil des neulinken Demokratieverständnisses

jener Zeit und sollte zur Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft von unten beitragen (vgl. Lönnendonker 1998). Anders als in

Großbritannien wurde hier Demokratisierung jedoch nicht als Revitalisierung nationaler Werte gedacht, sondern vor allem als Überwindung eines

nationalen „Sonderweges”, welcher im nationalsozialistischen Regime seinen schrecklichen Höhepunkt gefunden hatte und sich in Adenauers Politik

der Atombewaffnung weiterhin zu manifestieren schien. Dazu sollte vor allem die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der

sozialistischen Splittergruppen der Weimarer Republik dienen, die insbesondere Wolfgang Abendroth immer wieder anregte. Indem sich die

Ostermarschierer die bislang vor allem mit militärischen Konnotationen belegte Aktionsform „Marsch” für Friedensdemonstrationen aneigneten,

versuchten sie, die politische Kultur der Bundesrepublik zu zivilisieren und endlich den Einfluss von Militär, Krieg und Gewalt in der deutschen

Gesellschaft zurückzudrängen (vgl. Nehring 2003).
In dem Diskussions- und Handlungsraum, welchen die Ostermärsche zur Verfügung stellten, sollten jene durch den Kalten Krieg und die

gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik geprägten innen- und außenpolitischen Ordnungsmuster durchbrochen werden. Ausdruck dieser Haltung

war die Bereitschaft zum Gespräch mit kommunistischen Gruppen und auch mit Repräsentanten des SED-Regime, welche besonders für die Zeit ab

1963/64 bedeutend wurde. Es geht deshalb am Kern des Phänomens vorbei, wenn man diese Annäherungen allein unter dem Rubrum der „kommunistischen

Unterwanderung” interpretiert, zumal die SED-Zentrale die Debatten im Westen mit großem Unverständnis verfolgte.
Trotz der Prägekraft nationalgesellschaftlicher Faktoren spielten transnationale Bindungen eine wichtige Rolle für die Entwicklung der

bundesdeutschen Proteste, und zwar schon bevor studentische Gruppen Aktionsformen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen adaptierten (vgl.

dazu Kraushaar 1999). Der transnationale Raum bot gerade westdeutschen Pazifisten, später auch der Neuen Linken, die Möglichkeit, die in der

Bundesrepublik besonders eng gezogenen Grenzen des Sag- und Machbaren zu überschreiten. Besonders die War Resisters‘ International (WRI), die

schon zu Beginn der 1920er Jahre gegründet worden war, bot hier ein wichtiges Forum und stellte wichtige Verbindungen zu den

Bürgerrechtsbewegungen der Vereinigten Staaten her. Die bundesdeutschen Aktivisten kamen so in Kontakt mit jenen Theorien gewaltfreier direkter

Aktion und des gewaltfreien Widerstands, wie sie schon vom britischen Komitee der Hundert praktiziert wurden und wie sie für die sozialen

Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre so wichtig werden sollten. Dieser deutsch-britische Kontakt scheint die Protestformen der bundesdeutschen

Ostermärsche grundlegender geprägt zu haben als der Import aus den Vereinigten Staaten (vgl. Nehring 2004).
Trotz dieser transnationalen Prägungen überwogen letztlich zu Beginn der 1960er Jahre nationale Charakteristika. Das zeigt sich besonders bei

einem Blick auf den gesellschaftlichen und politischen Ort der bundesdeutschen Ostermärsche. Obwohl auch die CND zunehmend von der Neuen Linken

dominiert wurde, war ihre gesellschaftliche Reichweite doch wesentlich größer. Zwei Faktoren erschwerten eine breitere Resonanz der Proteste in

der Bundesrepublik: die Zerklüftung der bundesdeutschen Gesellschaft in konfessionelle Milieus und die Unmittelbarkeit des Kalten Krieges. Die

meisten Katholiken konnten sich mit den Protesten gegen Atomwaffen nicht anfreunden, hatte sich doch die katholische Kirche nicht eindeutig gegen

Atomwaffen ausgesprochen. Außer-dem ließen es auch in der Bewegung beteiligte Protestanten nicht an Spitzen gegen die vermeintlich spezifisch

katholische Politik Adenauers fehlen. Daneben verhinderte die spezifische Ausprägung des Kalten Krieges in der Bundesrepublik eine größere

Breitenwirkung der Bewegung. Obwohl auch die britische Regierung versuchte, die CND als trojanisches Pferd des Ostens darzustellen, blieb das für

die Beteiligten praktisch ohne Konsequenzen. In der Bundesrepublik dagegen, so hat es der Zeitzeuge Jürgen Seifert rückblickend einmal

formuliert, lief „links von der SPD die Trennlinie. […] In dem Augenblick, wo man da reinkommt, da läuft die Grenzlinie des

Verfassungsschutzes, […] da kommt man in einen Bereich, wo man totgeschwiegen wird, und das hat auch Konsequenzen für die Berufsziele” (zit. n.

Elker 1987: 45). Gerade wegen ihrer Stellung links von der SPD und damit außerhalb des Bereichs „respektabler Politik” gewann die bundesdeutsche

Kampagne die im Vergleich zur CND eigentümliche Radikalität (vgl. Otto 1977).
Perspektiven
Obwohl die bundesdeutschen und britischen Proteste gegen Atomwaffen im Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren Teil einer internationalen

Bewegung waren, darf man gerade die vielfältigen nationalen Traditionslinien zu den pazifistischen und sozialistischen Bewegungen der 1920er

Jahre nicht aus dem Auge verlieren. Solche in Deutschland durch das nationalsozialistische Regime verschütteten Stränge und das besondere

politische und gesellschaftliche Klima jener Zeit verliehen den bundesdeutschen Protesten im Zusammenhang des „Kalten Bürgerkrieges” (Major 1997:

294) ihr unverwechselbares Gepräge. Während sich die Protestformen der bundesdeutschen Bewegung zunächst stark an jene der Arbeiterbewegung

anlehnten, griffen die britischen Proteste primär auf Protestformen aus dem bürgerlichen Milieu zurück. In beiden Ländern wurden die Bewegungen

später von der Neuen Linken bzw. New Left übernommen oder abgelöst, die aber ihrerseits deutlich national ausgeprägt war. So bezog die britische

New Left in jener Zeit viele Anregungen aus der Auseinandersetzung mit dem ethischen Sozialismus von William Blake und William Morris. Die

bundesdeutsche Neue Linke rekurrierte dagegen einerseits stark auf die Bestände linkssozialistischer Ideologie aus den 1920er Jahren, welche vor

allem durch Wolfgang Abendroth in die bundesdeutschen Debatten eingespeist wurden. Andererseits aber setzte sie sich mit dem analytischen

Werkzeug internationaler neulinker Diskussionen mit der jüngsten deutschen Vergangenheit auseinander.
Wesentlich stärker als in Großbritannien, verwiesen die Demonstrationsformen der ersten bundesdeutschen Ostermärsche jedoch schon einerseits auf

die Proteste gegen den Vietnamkrieg und gegen die Notstandsgesetze sowie auf die Studentenproteste um 1967/8 und andererseits auf die

basisdemokratisch verfassten „neuen” sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre.
Die Analyse von Protestkulturen sollte solche national-spezifischen Ausprägungen sowie ihre gesellschaftlichen und politischen

Entstehungsbedingungen nicht aus dem Blick verlieren.

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