Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Umwelt­pro­test und Verhal­tens­stile

Bausteine zu einer vergleichenden Untersuchung von

Protestbewegungen

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 50ff

Ist von Protest in der Geschichte der Bundesrepublik die Rede, gehört nach dem mythisch überhöhten „1968” der Umwelt- und Antiatomkraftprotest der 1970er Jahre zu den meist zitierten Beispielen. Für diese Prominenz gibt es viele Gründe. Die sozial-und politikwissenschaftliche Forschung mit ihrem ausgeprägten Interesse für die „Neuen sozialen Bewegungen” trug dazu ebenso bei wie der gute Leumund der Umweltaktivisten, die sich bis auf wenige Fälle gewaltfrei verhielten und deren politisches Erbe die mittlerweile bis zur Regierungspartei aufgestiegenen Grünen angetreten haben.
Unbestritten ist, dass die Umweltaktivisten ähnlich wie die Protagonisten der Studentenproteste politische Aktionsformen wählten, die in den vorangegangenen Jahrzehnten noch weitgehend unbekannt waren. Der Siegeszug dieser Protestformen ging einher mit der politischen Sozialisation einer neuen Generation. Er bewirkte, dass Proteste mit der Zeit als legitime, ja alltägliche Formen der politischen Auseinandersetzung Anerkennung erlangten. Zeitgleich verloren hierarchieorientierte Modelle des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens deutlich an Akzeptanz (Barnes 1979, insbes. 31, 135; Rucht 2001; Herbert 2002).
Während diese allgemeinen Interpretationen weitgehend unstrittig sind, steckt der forschungspraktische Teufel wie so oft im Detail. Zum einen ist die Zahl der Untersuchungen von Historikern zur jüngsten Protestgeschichte nach wie vor begrenzt. Zum anderen besteht Bedarf nach Kategorien, in denen Protestphänomene vergleichend untersucht werden können.
Das Ziel dieses Beitrags ist es, ein Instrumentarium zu skizzieren, das dabei hilft, einzelne Elemente politischen Verhaltens zu identifizieren und vergleichend zu beschreiben. Insbesondere die Bedeutung der Handlungsroutinen und der unausgesprochenen Botschaften soll dabei berücksichtigt werden – jene Aspekte politischen Verhaltens, die auf den ersten Blick schwer greifbar erscheinen, aber dennoch einen großen Anteil an der Formung und Wirkung von Protest besitzen. Hierfür verwende ich den Begriff politischer Verhaltensstil.
Das Ausgangsmaterial für diese Überlegungen stellt der Umwelt- und Naturschutzprotest zwischen 1950 und den 1970er Jahren dar. Dies hat den Vorteil zeitlich über-greifender Vergleichbarkeit, denn entgegen gängigen Annahmen waren Umweltkontoversen mit protestförmigen Auseinandersetzungen auch vor der „ökologischen Wende” keine Seltenheit (Bergmeier 2002; Simon 2003; Chaney 1996; Dominick 1992). Der Ansatz ist jedoch offen genug, auch auf andere Phänomene bewegungsförmigen Protests oder verbandlich organisierten politischen Handelns angewandt zu werden.

Politischer Verhaltensstil — eine Begriffsklärung

Der Begriff politischer Verhaltensstil lehnt sich an ein Konzept von Martin Dinges an, das Handlungsroutinen in frühneuzeitlichen Gesellschaften beschreibt. „Verhaltensstil” meint bei Dinges stabile, aber nicht vollkommen fixierte Verhaltensweisen angesichts eines eingrenzbaren Problems (Dinges 1997). Wie bei Dinges basiert der Begriff auf den sozialwissenschaftlichen Forschungen zum Habitus sowie zum Lebensstil. Diese beiden Forschungsrichtungen, häufig verbunden mit den Namen Pierre Bourdieu und Gerhard Schulze, sehen Handlungsroutinen und ästhetische (Selbst-)Stilisierung als wichtige Faktoren gesellschaftlicher Abgrenzung und sozialer Identität an. Kontrovers bleibt die Frage, ob eher voluntaristische Selbststilisierung (Schulze 1992) oder eine Art Gefangenschaft in einem starren, durch die Klassenlage festgelegten Habitus dominieren (Bourdieu 1992: 91-115; Willems 1997: 94).
Beschäftigt man sich nicht mit alltäglichen Handlungen, sondern mit dem (in der Regel) außergewöhnlichen politischen Protest, sollte die Frage präzisiert werden: Welche Anteile am politischen Handeln eines Akteurs oder einer Protestgruppe resultieren aus habitualisierten, unhinterfragten Routinen und welche sind als Ergebnis kreativer und eher situativer Prozesse zu betrachten? In der Praxis wird man wohl häufig Mischungen antreffen, zumal menschliche Routinen bekanntermaßen selten mit der Stetigkeit eines Uhrwerks ablaufen (näher dazu Lüdtke 1993, insbes. l lf., 380)
Andererseits ist zu beachten, dass sich auch innerhalb einer Bewegung, so kurzlebig sie auch sei, Handlungsweisen verfestigen können. Protestformen, aber auch weiter angelegte Strategien können, wenn sie Erfolg gezeitigt haben, den Status routinierter, fast automatisierter Antworten auf bestimmte Herausforderungen durch den politischen Gegner erhalten. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die sich ab Mitte der 1970er Jahre häufenden Bauplatzbesetzungen bei geplanten Kernkraftanlagen und der Startbahn West, auf denen sich fast identische Soziabilitätsformen rund um Hüttendörfer ausbildeten. Fast seriellen Charakter haben Aktionen gegen Castor-Transporte, die mit schöner Regelmäßigkeit Bilder von an Bahngleise geketteten Kernkraftgegnern via Fernsehen liefern, wo-bei das Reaktionsschema in diesem Fall der Serialität des Anlasses (Bahntransporte von Brennstäben) entspricht und in fester Beziehung zu anscheinend unverrückbaren infrastrukturellen Rahmenbedingungen (Beschaffenheit der Eisenbahntechnik) steht.
Ein weiterer, wichtiger Aspekt der Lebensstilforschung betrifft den unausgesprochenen Bedeutungsgehalt von Handlungsweisen. Neben den Inhalten politischer Forderungen gehört auch die Art und Weise ihrer Artikulation zu den Bedeutungen des Protests. Stilistische Kontextualisierungen verändern eine politische Aussage: Es macht einen Unterschied, ob lodengewandete Jäger oder langhaarige Parkaträger den Schutz der Brandgans fordern. Auftreten und Handlungsrepertoire der Protestierenden beschwören Assoziationsketten herauf, die von den Rezipienten oft nicht bedacht werden. Sie strukturieren nicht nur das Verhalten, sondern auch die Normen und Gefühle der Handelnden. Aus dem Ensemble der Handlungsweisen politischer Akteure lässt sich ablesen, welche Vorstellungen von der Welt, insbesondere von Politik, ihnen zugrunde liegen (Willems 1997; Rohe 1990: 333f.). Geben sich Protestierende als Mitglieder eines Stilmilieus zu erkennen, verknüpfen sie ihr Anliegen zudem mit der Ästhetik und Gefühlswelt ihres lebensweltlichen Universums.
Aus historischer Sicht ergeben sich daraus zwei Erkenntnismöglichkeiten. Zum Einen lassen sich Aussagen über sich wandelnde ästhetische und normative Hintergründe und Motivationen für politischen Protest treffen. Zum Anderen wird deutlich, dass die Reaktionen der Zeitgenossen auf eine bestimmte Form politischen Protests nicht allein, vielleicht sogar nur zum geringen Teil mit dem sachlichen Kern des Konfliktanlasses zu tun haben. Vielmehr sind es immer auch Reaktionen auf die unausgesprochene Formulierung von (politischen) Weltbildern, Verhaltensregeln und Lebensmodellen seitens der Protestierenden. So sind auch die aus den 1960er und 1970er Jahren hinlänglich bekannten Einwände gegen protestierende Studenten zu verstehen, diese sollten erst ein-mal richtig arbeiten, bevor sie auf die Straße gingen.
Der Bedeutungstransfer zwischen Lebenswelt und politischem Raum im engeren Sinne funktioniert aber auch umgekehrt in dem Sinn, dass ein stilisiertes Alltagsverhalten auf bestimmte politische Weltbilder verweist. Als die post-68er Jugend- und Popkultur in vielfacher Weise Implikationen der Emanzipationsbewegung zitierte, erlaubte sie es vielen Menschen, sich zu deren Werten und Forderungen zu bekennen, auch ohne davon mehr als nur eine vage Ahnung zu haben (Herbert 2002: 43).
Der politische Verhaltensstil verdichtet Ästhetik, Emotionen, Normen. Dabei sendet er gleichsam beiläufig Informationen über das Weltbild der Akteure aus. Er oszilliert zwischen eingefahrenen Routinen und zielgerichteter Stilisierung.

Betrachtungsebenen und Elemente des Verhaltensstils

Träger des Verhaltensstils sind Einzelpersonen oder Gruppen. Dabei kommen formal verfasste Organisationen wie Vereine und Bürgerinitiativen ebenso in Frage wie informelle Zusammenschlüsse und in Einzelfällen ganze „Bewegungen”. Es ist sinnvoll, drei analytische Ebenen zu unterscheiden, die in der Praxis allerdings ineinander übergehen. Sie dienen daher vor allem als forschungspragmatische Orientierungshilfen.

1. Ziele und Interessen

Politische Akteure verfolgen in der Regel mehr oder weniger klare Ziele, die meist bestimmten Interessen entsprechen (Rohe 1990). Im Fall von Protestbewegungen sind die
Ziele scheinbar vergleichsweise leicht zu bestimmen. Doch bei genauem Hinsehen verschwimmen auch hier die vermeintlich klaren Abwehrziele oft; zudem verändern sie sich meist im Lauf einer Auseinandersetzung. Im Streit um die Nutzung von Uranvorkommen im südbadischen Menzenschwand zwischen 1960 und 1990 kann man gar mehrere 180-Grad-Wendungen der lokalen Eliten feststellen: von radikaler Ablehnung eines Abbaus über die Bereitschaft zu einer tourismusverträglichen Nutzung des Gesteins wieder hin zum Kampf gegen alle Uranprojekte (Simon 2003).
Meist findet sich ein Konglomerat von Zielen und Interessen, die sich häufig sogar widersprechen (Mergel 2002: 604f.). Trotz dieser Vorbehalte lohnt es, nach möglichen Interessen in politischen Auseinandersetzungen zu fragen. Insbesondere beim Vergleich von Umweltkonflikten lassen sich Muster erkennen, in denen ökonomische Erwägungen der Betroffenen eine größere Rolle spielen, als man zunächst annehmen würde (Bergmeier 2002; Engels 2004). Zwischen den Zielen und Interessen sowie dem Verhaltensstil besteht ein wechselseitiges Verhältnis. Interessen bilden nicht einfach die Basis politischen Verhaltens. Vielmehr lässt sich häufig beobachten, wie die Elemente eines eingefahrenen Verhaltensstils erheblichen Einfluss auf die Ziele einer Gruppierung nehmen.
Ein Beispiel: In den öffentlichen Auseinandersetzungen um die Einrichtung des ersten Nationalparks der Bundesrepublik im Bayerischen Wald zwischen etwa 1965 und 1970 spaltete sich das Lager der Naturschutzverbände in Befürworter und Gegner (Sperber 2001; Chaney 1996). Dies überrascht angesichts der oft sehr alten Nationalparkpläne aller beteiligten Verbände. Zudem glichen sich die Schutzkonzepte beider Lager: Alle setzten darauf, den Naturschutz als Zugpferd für den lokalen Tourismus zu „verkaufen”. In dieser Hoffnung unterstützten auch die betroffenen Kreise und Kommunen das Projekt. Kritiker eines Nationalparks gab es kurioserweise fast nur in der Forstverwaltung und bei einem Teil des Naturschutzes. Wichtigster Gegner war der Verein Naturschutzpark, der ein eigenes Schutzkonzept entwickelt hatte. Man fürchtete offenbar die Konkurrenz eines Nationalparks. Dies kann aber nicht der einzige Grund für die naturschutzinterne Konfrontation gewesen sein, denn der Verein unterstützte durchaus andere Nationalparkvorhaben. Wichtiger war die stilistische Entfremdung zu den Nationalparkbefürwortern um Bernhard Grzimek. Setzte der Verein Naturschutzpark in seinen politischen Aktionen auf lautlose Verhandlungen mit staatlichen Stellen, oftmals auf der Grundlage persönlicher Verflechtung im Geist der Einvernehmlichkeit und Diskretion, starteten die Nationalparkadepten eine aggressive Medienkampagne, die Politiker und Gegner mit Beschuldigungen, aber auch Meinungsumfragen und Kundgebungen massiv unter Druck setzte. Solches Verhalten war in den Augen des Vereins Naturschutzpark und anderer Verbände untragbar; 1968 zwangen sie Grzimek zum Rücktritt vom Amt als Präsident des Deutschen Naturschutzrings. Hier erwies sich der Verhaltensstil mitsamt seinen kulturellen Signalen als entscheidender Grund dafür, dass ein Teil der Naturschutzverbände sich gewissermaßen dysfunktional verhielt (Bourdieu 1992; Willems 1997: 94). Nach 1970 häuften sich ähnliche interne Konflikte an vielen anderen Stellen (Reichelt 1992). Dabei ging es stets um konkurrierende Vorstellungen nicht nur von Taktik, sondern ganzer politischer Weltbilder.

2. Handlungspraxis

Den Schwerpunkt bei der Untersuchung von politischen Verhaltensstilen bilden die Handlungsweisen der Akteure. Man könnte auch von einer charakteristischen Handlungspraxis sprechen, die häufig auch einer bestimmten Ästhetik entspricht. Hier sind verschiedene Elemente zu beachten, von denen ich die wichtigsten stichwortartig aufliste. Alle politischen Aktionen mit dem Ziel, das (politische) Anliegen zu Gehör zu bringen, bilden die Handlungspraxis.
Dabei interessiert besonders die Strategie, die den Aktionen zugrunde liegt. Beim Nationalparkkonflikt wurde bereits auf den Unterschied zwischen öffentlichkeitsorientierten Modellen und Lobbying hinter verschlossenen Türen verwiesen.
Nicht nur die Handlungsweisen „nach außen”, sondern auch die innere Verfasstheit von Gruppierungen sind Teil des Verhaltensstils. Im Wesentlichen ist dabei an die Entscheidungsabläufe innerhalb einer Gruppierung zu denken sowie an die identitätsstiftenden Geselligkeitsformen. Eine Kundgebung hat die Dimension der Außenwirkung, aber wirkt auch gemeinschaftsbildend „nach innen”. Es ist ein Unterschied, ob sich diese Gemeinschaftsbildung in Form geführter Wanderungen in einem bedrohten Naturschutzgebiet vollzieht oder ob die emotional überkochende Stimmung auf einer Demonstration sich anschließend in einer spontanen Bauplatzbesetzung entlädt (vgl. Linse 1988).
Wichtige Bedeutungsträger sind auch die Rhetorik bzw. die Sprache der Handeln-den. So besteht ein deutlicher Kontrast nicht nur im Inhalt, sondern auch hinsichtlich der pathetischen Färbung kulturkonservativ argumentierender Heimatschützer der 1950er Jahre sowie dem Pathos von Antikernkraftinitiativen der 1970er, die vor dem drohenden quasi faschistischen Atomstaat warnten.
Insbesondere Protestbewegungen zeichnen sich in der Regel dadurch aus, eine politische Ikonographie zu entwickeln. Kennzeichnend für Protestgruppen der 1950er Jahre ist offenbar das Mitführen von Totenkopfsymbolen, um auf die möglichen Folgen durch Eingriffe in die Umwelt hinzuweisen. Jedenfalls finden sie sich bei zwei der Aufsehen erregendsten Umweltproteste jener Zeit, nämlich im Widerstand gegen die Nutzung des sogenannten Knechtsands im Wattenmeer nördlich von Bremerhaven als Bombenübungsgelände durch die Britische Luftwaffe sowie in den Protesten gegen Rauch und Rußschäden im saarländischen Kleinblittersdorf. Zum Untersuchungsgebiet Ikonographie gehört grundsätzlich das gesamte sichtbare Formenvokabular politischer Aktionen bis hin zur Choreographie eines Protestzuges.
Jenseits der politischen Aktionen im landläufigen Sinne gehört zum politischen Verhaltensstil die gesamte lebensweltliche Stilisierung und Rollenverhaltung der Protestierenden, etwa in Kleidung, Sprache, Konsumverhalten, Sozialverhalten, zumindest so weit sie im Rahmen des Protests sichtbar wird. Diese selbst können wiederum vom Protest beeinflusst werden. In den 1970er Jahren stellt man bei ländlich verorteten Pro-testen häufig fest, dass „Protesttouristen” aus den urbanen Zentren versuchen, sich den lokalen Lebensstilen zumindest symbolisch anzupassen, um an deren Protestlegitimation gleichsam teilzuhaben — etwa bei den Konflikten um die Startbahn West und die großen Kernkraftvorhaben.

3. Bedeutungsgehalt

Auf einer dritten, resümierenden Ebene sollte man den über den Einzelfall hinaus weisenden impliziten, oft nicht bewussten Bedeutungsgehalt des Verhaltensstils bestimmen. Dabei kann man zum einen versuchen, das politische Weltbild der Akteure zu rekonstruieren, also in erster Linie das von ihnen favorisierte Modell legitimer politischer Auseinandersetzung – das sich natürlich auch im Lauf der Auseinandersetzung ändern kann. Auf einer höheren Abstraktionsebene scheinen dabei auch allgemeinere Normen für das gesellschaftliche Zusammenleben, Moralvorstellungen etc. auf. Diese lassen sich nicht auf eine kognitive Ebene beschränken, sondern haben meist eine emotionale Dimension, in die der Gefühlshaushalt der Akteure mit einfließt, soweit er in der Handlungspraxis zum Ausdruck kommt. So schwierig es im Einzelnen auch sein mag, politisch relevante Gefühle zu beschreiben ohne in Klischees zu verfallen, so wichtig ist es aber, deren Bedeutung als wirksame politische Größe ernst zu nehmen.
Zum anderen sollte auf dieser Ebene die soziale Selbstverortung der Akteure unter-sucht werden. Inwieweit öffnet oder schließt sich eine Protestgruppe gegenüber bestimmten stilistischen Milieus? Mundartlich vorgetragene Protestlieder schließen tendenziell alle „Zugezogenen” aus, studentisches „Räuberzivil” schließt jene aus, die zum Establishment gehören. Andererseits sind Protestveranstaltungen mit lokaler politischer Prominenz dazu angetan, zumindest regional integrierend zu wirken; von professionellen Graphikern gestaltete Plakate sprechen tendenziell größere Gruppen an als eng betippte, hektografierte Flugblätter. Gerade unter dieser Fragestellung spielen schwer artikulierbare Bindungen und Abwehrreaktionen eine gewichtige Rolle.

Profilbildungen als Vergleichsmethode

Strebt man einen Vergleich verschiedener Gruppierungen an, ist es sinnvoll, die Einzelelemente ihres jeweiligen Verhaltensstils zu einem Profil zu verdichten. Zwar besteht die Gefahr, mit der schlagwortartigen Benennung eines Verhaltensstilprofils die Komplexität einer Gruppierung nur ungenügend zu berücksichtigen. Doch ergeben sich auf der anderen Seite Beschreibungsmöglichkeiten, die flexibler sind als starre Kategorien, wie sie etwa gelegentlich fiir die Einordnung von Protestformen vorgeschlagen werden, etwa als „konventionell” versus „unkonventionell” (Barnes 1979: 35-39). Grundsätzlich ist zu beachten, dass derartige Profile von der Fragestellung abhängig sind, und sich bei verändertem Erkenntnisinteresse auch andere Charakterisierungen ergeben können.
Besonders hilfreich ist es, wenn man für einzelne Elemente oder Ebenen polare Bewertungsschemata entwickelt. Bei Kleidungsstil und Sozialverhalten etwa ist eine Bewertung zwischen „formell” und „informell” denkbar, wobei die formelle Kleidung im traditionellen Naturschutz uniform- oder trachtenähnliche Elemente aufweisen kann oder sogar Anklänge an die VJandervogelkluft enthält. Auch die scheinbar informelle Kleidung jüngerer Protestakteure seit den 1970er Jahren richtete sich nach bestimmten Codes und schloss bestimmte Kleidungsstücke aus oder verlangte nach anderen – Differenzierungen sind also unerlässlich. Politische Strategien können mit Blick auf die Bedeutung der Öffentlichkeit zwischen „diskret” und „öffentlich” skaliert werden, wobei in der Regel Mischungsverhältnisse vorliegen und nur die Tendenz zu bestimmen ist. Die Bewertung der Öffnung bzw. Schließung wäre zwischen den Polen „Exklusivität” und „Offenheit” angesiedelt. Dabei kann sich im Übrigen die vermeintliche Offenheit mancher Bürgerinitiative als Illusion erweisen, die ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stilistisch zunehmend exklusiv auf die junge, gut ausgebildete und „antietablierte” Generation zielte. Je nach Fragestellung können auch die Vorstellungen von politischer Auseinandersetzung auf einer Skala zwischen „Harmonie”- und „Konkurrenz“-Modellen angeordnet werden.
Wählt man eine zusammenfassende Betrachtungsebene von Umweltprotest zwischen etwa 1950 und 1980, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die Protestformen der wichtigsten Akteure vor der ökologischen und gesellschaftlichen Wende um 1970 tendenziell darauf setzten, sich möglichst unauffällig, „verträglich” und nahe am stilistischen Mainstream des konservativen Gravitationszentrums der Republik zu orientieren. Seit 1970 verlagerte sich die stilistische Verortung in Richtung junger, sich progressiv und antietabliert gebender Eliten, deren Umgangsformen eher konflikthaft waren und auf Veränderungspathos setzten. Zugleich wandelte sich auch die soziale Zusammensetzung der Akteursgruppen, wozu auch ein deutlicher Verjüngungsprozess gehörte. Auf diese Weise verlor der Naturschutz zumindest teilweise sein „konservatives” Image und wurde in Gestalt des erweiterten Umweltschutzes zunehmend als genuin „progressives” An-liegen kontextualisiert – obwohl der Ideengehalt sich deutlich weniger veränderte als die Stilformen.

Genbrationenfolge und Stilwandel

Die Untersuchungsebenen und ihre Elemente bilden kein erschöpfendes Untersuchungsraster. Vielmehr verstehen sie sich gewissermaßen als Denkanstöße für die Entwicklung von Forschungsstrategien. Diese könnten etwa einen Beitrag zur Untersuchung des „Generationenwandels” liefern. Ein wichtiger Baustein in unserem Verständnis von politischen Generationen ist sicherlich ihr stilistisches Profil. Eine detaillierte Untersuchung des Stilwandels könnte nach den einzelnen Elementen wie Strategie, Sprache, Kleidung etc., differenzieren. Dabei könnte untersucht werden, wie der Stil einer neuen Generation sich historisch formiert – auf welchem Wege sich eine neue Generation also bildet oder „erfindet”. Dies mag auch unterschiedliche Geschwindigkeiten und Ungleichzeitigkeiten hinsichtlich der biologischen Zusammensetzung der Kategorie Generation zutage fördern: Mit Blick auf ausgewählte Elemente seines politischen Verhaltensstils etwa lag Bernhard Grzimek, Jahrgang 1909, sehr nah an der „Protestgeneration”, deren Mitglieder nach gängigen Darstellungen in der Regel etwa zwischen 1940 und 1950 geboren wurden (vgl. dazu, wenn auch ohne expliziten Hinweis auf das Generationenproblem, Engels 2003).
Im Rahmen der Protestforschung scheint mir eine zweite Perspektive interessant. Mit Hilfe der Verhaltensstilanalyse könnte man klären, in wie weit die Stabilität einer (Protest-) Bewegung von einem gemeinsamen Stil und einem gemeinsamen Gefiihlshaushalt abhängig ist, oder ob Stilpluralismus die Langlebigkeit einer Bewegung vergrößert oder verkleinert. Möglicherweise hat die stilistische Gemeinschaftsbildung in Protestbewegungen eine analoge Bedeutung wie die hinlänglich bekannte Neigung zur Selbsterhaltung und Kompetenzerweiterung bei (staatlichen) Institutionen. Die Folgen des „Alterns” eines stark habitualisierten Verhaltensstils im Vergleich zu einer im Wandel befindlichen Gesellschaft habe ich bereits am Beispiel des Wandels um 1970 angedeutet. Es gibt gerade im Umweltprotest der 1970er Jahre auch Beispiele dafür, wie einzelnen Verbänden eine Stilmodernisierung gelang, ein Verhaltensstil also den anderen ersetzte und die Bewegung dadurch „aktualisierte”. Ein interessantes und erfolgreiches Beispiel ist in diesem Zusammenhang der B.U.N.D., der 1975 gegründet wurde. Zu den wichtigsten Impulsgebern und späteren Landesverbänden gehörte der Bund Naturschutz in Bayern, eine klassische traditionelle Naturschutzorganisation, deren Wurzeln am Beginn des 20. Jahrhunderts liegen. Unter seinem jungen Vorsitzenden Hubert Weinzierl hatte der Bund Naturschutz schon seit Ende der 1960er Jahre neue Wege beschritten und sich beispielsweise um eine professionalisierte, aggressive Öffentlichkeitsarbeit bemüht. Der B.U.N.D. sollte eine neue umweltpolitische Kraft auf Bundesebene werden und der traditionellen Spitzenorganisation, dem Deutschen Naturschutzring, das Wasser ab-graben. Auf der Suche nach Verbündeten in anderen Bundesländern ging der Bund Naturschutz Koalitionen mit deutlich „alternativ” geprägten Kräften ein. Stilistische, aber auch ideologisch-inhaltliche Unterschiede traten zwar zu Tage; wurden aber letztlich erfolgreich ausgeglichen. Es gelang dem B.U.N.D., sowohl für das traditionell bayerische Naturschutzmilieu als auch für junge, „alternativ” und urban geprägte Umweltschützer eine attraktive Anlaufstelle zu werden (vgl. Stiftung Naturschutzgeschichte 2003).
Generell dürften Untersuchungen zum stilistischen Überaltern des modernen Umweltschutzmilieus spätestens dann auf der Tagesordnung stehen, wenn seine Träger das Rentenalter erreichen – folglich eher morgen als übermorgen.
Herzlich danken möchte ich Franz-Josef Brüggemeier, Martin Dinges, Ulrich Eith, Ulrike Krampl, Alf Lüdtke, Lutz Sauerteig und Hillard v. Thiessen, die mir auf der Grundlage eines anderen Textes wichtige Hinweise zum „Verhaltensstil” gegeben haben.

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