Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Selbstän­dig­keit und Sorge

Gemeinsinn in der Gesellschaft der Individuen

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 103ff

Wer heute die Frage nach dem Gemeinsinn stellt, sieht sich sofort mit einer Problemdiagnose konfrontiert. Es sieht in der Tat so aus, als ziehe sich die Gesellschaft von ihrer Verantwortung für das Allgemeine zurück. Parteien, Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Kirchen erleiden Mitgliederverluste. Der Trend scheint tiefgreifend und unumkehrbar zu sein. Man kümmert sich lieber um sich selbst, als dass man sich den hergebrachten Organisationen des Gemeinsinns anschließt. Das soziale Denken ist nicht sehr reizvoll und das Allgemeininteresse eine Schimäre. „Der Ehrliche ist doch der Dumme”, sagte uns ein bekannter Fernsehmoderator. Auf der politischen Bühne wird einem das mehr oder minder clevere Aushandeln von Sozialinteressen vorgemacht und gerade jetzt, nachdem die Luftschlösser der New Economy zerplatzt sind, scheint es doch so zu sein, dass es lebensdienlich ist, dass sich die Einzelnen in ihre kleinen Lebenswelten zurückziehen und dort ihre noch kleineren Vorteile suchen. Man ist selbst-bezogen bis zur Hartherzigkeit und ohne allen Enthusiasmus für das Allgemeine. So jedenfalls lauten die Stichworte der gängigen Problemdiagnose.
Es gibt auch einen Schuldigen für diese Diskreditierung des Gemeinsinns: die Sprache des Marktes, die heute in alle Poren dringt. Im Vokabular der Frankfurter Schule könnte man sagen: Der Markt ist das zivilisierte Schema wilder Selbstbehauptung, die Reduktion von allem und jedem auf die selbstbezogene Orientierung an eigenen Vorlieben und Interessen. Die Vorstellung eines sozialen Bandes, die Bereitschaft zum Einsatz fürs Ganze, die Sympathie für den Mitmenschen –all das wird ersetzt durch die Begriffe des vorteilbringenden Vertrages, der rationalen Wahl oder der ökonomischen Nutzenmaximierung. Anfang und Ende bilden das um sich selbst besorgte Individuum, dass ängstlich darauf bedacht ist, nicht übervorteilt zu werden, immer seinen Schnitt zu machen und sich niemals für etwas Ungewisses und Riskantes zu verausgaben bereit ist. Das Diktum für die ganze Richtung stammt von Margret Thatcher: There is no so such thing like sociery there crYe only individuals – and the family, wie sie immer gerne hinzufügte. Dieses Denken können wir dann auch Neoliberalismus nennen oder ökonomischen Imperialismus; wir wissen jedenfalls dann genau, wovon wir genesen müssen, wenn das alles so ist.
Dieser Diagnose einer fern- und fremdgesteuerten Kolonisierung unserer Köpfe und Herzen widersprechen freilich ein paar erstaunliche Tatsachen. Nehmen wir etwa die enorme Spendenfreudigkeit der deutschen Bevölkerung, aber auch die Tatsache, dass in Deutschland immer noch Wahlen mit sozialer Gerechtigkeit gewonnen werden. Das wissen die beiden großen Volksparteien und belegt das doch jämmerliche Schicksal der Freien Demokraten, die als rein marktliberale Partei in Deutschland überhaupt keine Chancen haben. Also stellt sich die Frage, was nun eigentlich stimmt. Ist das individualistische, utilitaristische und skeptische Bild unserer Gegenwartsmoderne richtig oder besteht nach wie vor der Wunsch, es möge sozial gerecht und menschlich gut in der deutschen Gesellschaft zugehen?

welfare state versus Wohlfahrtsstaat

Wenn wir in Deutschland über das Gemeinwohl reden, dürfen wir über den deutschen Sozialstaat nicht schweigen. Er ist der immerwährende Bezugspunkt für die Klage über den Verlust von Gemeinsinn, Barmherzigkeit und Mitleid. Wenn ich deutscher Sozialstaat sage, taucht schon gleich eine semantische Differenz auf, die nicht ganz unerheblich ist. In der internationalen Diskussion spricht man vom welfare state, zu deutsch: Wohlfahrtsstaat. Worin unterscheidet sich der Begriff des Sozialstaates von dem des Wohlfahrtsstaats? Bei der Rede vom Sozialstaat fällt einem natürlich sofort Bismarck ein — und das konventionelle Wissen, dass der deutsche Sozialstaat nur deshalb eingerichtet worden ist, um der deutschen Sozialdemokratie das Wasser abzugraben. Der Ursprungstausch in der Entwicklung des deutschen Sozialstaates war, so glauben wir doch alle, ein Tausch von sozialer Sicherung gegen politische Beteiligung. Der Bismarcksche Trick am Beginn der deutschen Sozialstaatsentwicklung war die Absicherung gegen die klassischen Risiken der Arbeitsunfähigkeit, der Arbeitslosigkeit und des Alters gerade für diejenigen, die von der epidemischen Krisenanfälligkeit des Kapitalismus überzeugt waren. Das ist der Grund dafür, dass wir Deutschen immer schon die Weltmeister in sozialer Sicherung waren, dafür aber ziemliche Nachzügler im Bereich der politischen Gleichstellung. Daher der unangenehme Klang des Begriffs des Sozialstaates und daher die spontane Aversion im aufgeklärten Milieu, wenn man diesen Begriff in den Mund nimmt.
Das ist beim Begriff des Wohlfahrtsstaates etwas anders, vor allem wenn man ihn in der Tradition von Lord Beveridge, dem Architekten des Sozialsystems in Großbritannien, denkt — also in der britischen, das heißt liberalen Version des Wohlfahrtsstaats. Da ist der Kern des Gedankens die Universalisierung von Anrechten für den einzelnen Staatsbürger und nicht die Befriedigung von problematischen Teilgruppen der Gesellschaft. Die angelsächsische Version des Wohlfahrtsstaates geht von der grundsätzlichen Gleichheit der Bürger aus, ohne die faktische Ungleichheit der Individuen in ihren Klassen zu leugnen. Die Grundideen von Beveridge und ihm folgend T.S. Marshall besagten (vgl. Marshall 1992 [1949]): Erstens brauchen wir den Wohlfahrtsstaat, um einen normativen Maßstab für die Messung von gesellschaftlichen Ungleichheiten zu haben. Der Fortschritt in der sozialen Evolution bemisst sich an der Institutionalisierung eines „positiven” Begriffs der Freiheit: Freiheit nicht nur als persönliches Recht zur Abwehr und Zurückweisung von Übergriffen anderer, insbesondere des allmächtigen Staates, also als „Freiheit von”, sondern auch als Ermöglichung und Beförderung sozialer Teilhabe, also als „Freiheit zu”. Zweitens, was noch viel wichtiger ist, wir brauchen den Wohlfahrtsstaat als eine Bedingung der Möglichkeit der Ertragung von Ungleichheit. Wenn wir jedem Bürger ein Beteiligungsrecht zuerkennen und dementsprechende Strukturen der Ermöglichung von Chancengleichheit einrichten, dann wird der einzelne auch bereit sein, die Ungleichheit der Talente und die Ungleichheit der Resultate hinzunehmen. Das ist die Grundidee in der Institutionalisierung des Wohlfahrtsstaates gewesen. Am Anfang stand also nicht die Vorstellung der Herstellung einer Welt flächendeckender Gleichheit, sondern die Idee der Einrichtung staatsbürgerlicher Befähigungs- und Ausgleichsstrukturen zur Ertragbarkeit von Ungleichheit. Es geht im Wohlfahrtsstaat folglich nicht so sehr um Armenhilfe für Bedürftige, nicht um partikulare Prinzipien, sondern um Beteiligungsansprüche für alle Bürger, um universelle Prinzipien. Insofern fügt sich, jedenfalls nach dieser angelsächsischen Version, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in eine lange Geschichte der Gleichheit seit der Französischen Revolution: in die der bürgerlichen Rechte des 18. Jahrhunderts, der politischen Rechte des 19. Jahrhunderts und der sozialen Rechte des 20. Jahrhunderts.
Wichtig ist in unserem Zusammenhang der Gedanke, dass der Wohlfahrtsstaat nach dieser Lesart nicht das Projekt einer Klasse oder einer tragenden Gruppe ist. Der Wohlfahrtsstaat war nicht das Projekt der Arbeiterklasse und er kann nicht als das Projekt des Bürgertums angesehen werden, sondern der Wohlfahrtsstaat ist- in gewisser Hinsicht ein evolutionäres Produkt einer an sich anonymen Entwicklung von Anrechten über eine längere Zeit. Der Garant der Wohlfahrtsstaatlichkeit ist freilich nicht die Gesellschaft selbst, sondern der Staat, das heißt eine Zwangsanstalt, mit Max Weber gesprochen. Das ist der übergreifende Halte- und vorläufige Endpunkt der modernen Wohlfahrtsstaatlichkeit.
Diese Dinge muss man sich vor Augen führen, wenn man verstehen will, was eigentlich passiert, wenn diese Wohlfahrtsstaatlichkeit in Begründungs- und, noch schwieriger, in Finanzierungsprobleme geraten ist. An wen können wir dann appellieren, um die Dinge wieder zu richten? Wer ist bereit, sich wieder für den Wohlfahrtsstaat zu engagieren, wenn er nicht das Projekt einer tragenden gesellschaftlichen Gruppe ist?

Der Wohlfahrtsstaat als Krisenzusammenhang

Weil der Wohlfahrtsstaat kein Projekt des Bürgertums und keines der Arbeiterklasse war, haben sich ganz andere „Akteursfiktionen” gebildet, die sich von ihm getragen oder von ihm verraten fühlen. Das sind in erster Linie die Generationen einer ganz und gar nicht linearen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung, die immer wieder „glückliche” und geprellte“ Kohorten hervorbringt. Die wechselnden Regelungen der Frühverrentung genauso wie die unberechenbaren Zyklen des Lehrerbedarfs haben beispielsweise solche generationsspezifischen Verwerfungen hervorgerufen.
Aber darunter liegt noch eine andere Generationsgeschichte des Wohlfahrtsstaats. Die Erfahrung der Krise, auf die sich das wohlfahrtsstaatliche Versprechen bezieht, hat sich geändert. Den Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und die in der europäischen Friedensphase des Kalten Krieges aufgewachsen sind, fehlt die Angst vor dem Marktversagen, die den Generationen noch in den Knochen steckt, die einen Erlebnisbezug zur Weltwirtschaftskrise am Anfang des 20. Jahrhunderts besitzen. Des-halb haben sich am Ende des 20. Jahrhunderts die Erfahrungsgründe des Wohlfahrtsstaats und des darauf bezogenen diffusen Systemvertrauens gewandelt. Aus der Sicht der heutigen aktiven, das heißt erwerbstätigen und beitragsfähigen Generationen stellt sich der Wohlfahrtsstaat als ein unübersichtlicher „Staatsapparat” (Nikos Poulanzas) dar, der mehr verlangt und verschlingt, als er gibt und verheißt. Das macht ihn für viele zu einem Modell von Staatsversagen. Die Übel des Staatsversagens werden von den in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren geborenen Generationen als genauso problematisch beurteilt wie die des Marktversagens. Daran hat auch die Erfahrung der verschiedenen Krisen des globalen Finanzmarktes, die in der Asienkrise der 1990er Jahre kulminierten, nichts geändert. Der moderne Staat hat aus der Sicht der gegenwärtigen aktiven Generationen vor allem hinsichtlich seiner zentralen Wohlfahrtsversprechen versagt, nämlich in der Gesundheits-, der Bildungs- und der Altersvorsorge. Dies trifft so-wohl auf den autoritären Wohlfahrtsstaat des Sozialismus als auch auf den liberalen Wohlfahrtsstaat in den sogenannten koordinierten Kapitalismen der Nachkriegszeit zu.

Die drei Defizite moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit

1. Die Diskrepanz zwischen Anrecht und Option

Die praktischen Defizite des Wohlfahrtsstaats lassen sich holzschnittartig auf drei Probleme fokussieren, die bis heute einer Lösung harren. Das erste Problem ist das Missverhältnis von Anrechten und Optionen, um eine Unterscheidung aufzugreifen, mit der Ralf Dahrendorf operiert (Dahrendorf 1992). Zwar institutionalisiert der Wohlfahrtsstaat Anrechte, aber es gibt immer mehr jüngere Leute, die sagen: „Was nützt es mir eigentlich, wenn meine Rente sicher ist, ich aber nicht weiß, wie viel ich eigentlich bekomme und was ich mir für das, was ich dann bekomme, noch leisten kann.” Das heißt, Anrechtssicherung wird nicht mehr als so wichtig erachtet, und es taucht die Frage auf, welche wahrscheinlichen Optionen denn mit diesen garantierten Anrechten verbunden sind. Dieser ganze Problemkomplex des Missverhältnisses von Anrechten und Optionen, von sozialen Rechten und individuellen Möglichkeiten wird in Deutschland seit geraumer Zeit unter der Überschrift der Generationengerechtigkeit diskutiert. Immer mehr Jüngere sagen: „Ich denke gar nicht mehr daran, weiter in die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme einzuzahlen, ich suche Exit-Optionen,” — wie man heute modern formuliert – „weil ich relativ sicher bin, dass ich da mehr einzahlen werde, als ich jemals herausbekommen werde.” Das bedeutet, es entsteht die Idee einer Renditegerechtigkeit
von Ein- und Auszahlungen, die mit der Vorstellung einer Solidarität zwischen den. Altersgruppen bricht. Daraus ergeben sich Legitimationsprobleme neuer Art, die nicht einfach mit der Einforderung hergebrachter Obligationen zu lösen sind: Die Solidarität zwischen den Alten und den Jungen wird durch die Tatsache der diskrepanten Versorgungsbilanzen zwischen verschiedenen Generationen von Gleichaltrigen belastet. Wenn keine Aussichten auf eine ausgleichende Gerechtigkeit bestehen, warum sollte der einzelne sich an einem System von Umlagen beteiligen, das ihn zum lebenslangen Nettozahler bei unsicheren Rückflüssen macht? Kann etwas gerecht sein, das sich als derart unsicher erweist?

2. Die Diskrepanz zwischen Investition und Vorteil

Der zweite Punkt, der damit zusammenhängt, und der m.E. aktuell der viel wichtigere ist, zielt auf das Missverhältnis von Investition und Vorteil. Wohlfahrtsstaaten, besonders der europäische Wohlfahrtsstaat, wird von der Bereitschaft der Mittelklassen getragen, ihn zu finanzieren, und wenn die Mittelklassen zunehmend den Eindruck gewinnen, dass sie für ihre hohen Investitionen in die wohlfahrtsstaatlichen Systeme keine subjektiven Vorteile mehr gewinnen, dann wird die Bereitschaft abnehmen, diesen Wohlfahrtsstaat aufrechtzuerhalten. Die starken Schultern sind nur solange bereit, mehr zu wuchten als die schwachen Schultern, wie sie sehen, dass sie selbst auch etwas davon haben. Doch die Mehrheitsklasse hat ganz im Gegenteil heute das Gefühl, dass die öffentlichen Güter, für die der Wohlfahrtsstaat bisher aufgekommen ist — also die drei wichtigen Güter Gesundheit, Sicherheit und Bildung —, mehr und mehr zu privaten Gütern werden und private Investitionen erfordern. Das heißt, es gibt immer mehr Leute, die nicht einsehen, warum sie immer mehr von ihrem Einkommen in dieses wohlfahrtsstaatliche System transferieren sollen, obwohl sie für ihre eigenen Kinder privates Geld aufbringen müssen, um sie auf eine gescheite Schule zu schicken. Warum, so fragen sie weiter, soll ich soviel Steuern bezahlen, wenn ich für die Sicherheit und Sauberkeit meiner nächsten Umwelt selbst zahlen muss? Fazit: Die Mittelklassen vertrauen nicht mehr auf die Fähigkeit des Wohlfahrtsstaates, für die öffentlichen Güter von Sicherheit und Bildung Sorge zu tragen. Ähnlich verhält es sich mit der Gesundheit. Jeder von uns kennt Beispiele von Klassenmedizin, und diese Beispiele gehen mittlerweile bis weit in die Mittelklassen hinein. Hier gibt es ein dramatisches Missverhältnis von Investitionen und Vorteilen, und wir werden uns um diese latente Panik in den Mittelklassen kümmern müssen. Schließlich sind die drei Themen der in den letzten Jahren auftauchenden neuen Populisten in Europa Sicherheit, Gesundheit und Bildung. Noch hat es mit solcherart Populismus bei uns in Deutschland nicht so richtig geklappt, weil Antisemitismus bei uns nicht verfängt, aber das politische Kapital dieser Themen liegt buchstäblich auf der Strasse.

3. Die Diskrepanz zwischen Lebensweisen und Versorgungsberechtigung

Der dritte wichtige Punkt, der zwar schon länger gesehen wird, der aber immer noch kaum bearbeitet im Raum steht, ist das Missverhältnis von Lebensweisen und Versorgungsberechtigungen. Es ist im Grunde alles längst bekannt: Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis von qualifikationsadäquater, lebenslanger und vollzeitiger Beschäftigung ist mehr und mehr zu einer Fiktion geworden. In einer Längsschnittsbetrachtung gilt vielleicht noch für ein gutes Drittel der Erwerbstätigen dieses Modell. Wir haben quer durch die gesellschaftlichen Klassen und Schichten es mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses zu tun. Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse, unterbrochene Berufskarrieren sind nicht auf Randbereiche der Erwerbsgesellschaft beschränkt. Die Leute experimentieren mit neuen Einkommensmischungen aus informeller Eigenarbeit, abhängiger Erwerbsarbeit und auch der autonomen Familien- und Hausarbeit. Was die einen aus Not machen, stellt für die anderen eine bewusste Wahl dar. Da spielen natürlich ganz unterschiedliche Lebensmodelle, Selbstverwirklichungsphantasien und nicht zuletzt materielle Zwänge eine Rolle. Nur entsprechen diese Veränderungen der Lebensweisen überhaupt nicht mehr den formellen Regelungen des Wohlfahrtsstaates, vor allem in Fragen der Altersicherung. Da entkoppeln sich institutionelle Lebenszuschnitte und individuelle Lebensweisen; die daraus sich ergebenden Versorgungslücken sind sicherlich nicht mit einem Grundeinkommen zu lösen.
Das scheinen m.E. die drei großen Problembereiche zu sein, die die praktischen Defizite des Wohlfahrtsstaates darstellen und die als Staatsversagen skandalisiert werden können.
Im Generationenkampf: Die Logik des Lastenausgleichs
Das berührt die Legitimationsressourcen, auf denen der Wohlfahrtsstaat, jedenfalls was die deutsche Nachkriegsentwicklung angeht, lange Zeit beruht hat. Zum einen ist auch hier der Krieg der Herr aller Dinge. Wir zehren immer noch von der westdeutschen Wohlfahrtsstaatlichkeit der Nachkriegszeit, die letztlich auf dem kollektiven Wieder-
aufbau der glücklich Davongekommenen fußte. Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Westdeutschland basierte auf der Logik des Lastenausgleichs in der Kriegsfolgenbewältigung, wohinter sich die Kollektivverantwortung der von Christoph Kleßmann so genannten „Zusammenbruchsgesellschaft” verbarg (Kleßmann 1991: 37ff.). Die Westdeutschen fanden sich nach 1945 in einer Wiederaufbauverpflichtung zusammen, die die Wirtschaft, den Wohlfahrtsstaat und die Mitbestimmung einschloss. Diese Wiederaufbauverpflichtung wurde durch zwei große strukturelle Gegebenheiten gestützt: durch die Vollbeschäftigungsgesellschaft vor allem in den 1960er Jahren sowie natürlich durch die darauf bauende starke Sicherungspolitik als ein Grundprinzip wohlfahrtsstaatlicher Versorgung. Diese ist aus der Logik des Lastenausgleichs im Nachkriegsempfinden zu verstehen. Diese Wiederaufbauverpflichtung in Deutschland hat über eine sehr lange sozial-staatliche Nachkriegsgeneration gehalten, im Grunde bis zur Wiedervereinigung, die der „Einheitskanzler” Helmut Kohl als Wiederkehr von 1945 ins Werk gesetzt hat.
Das ist jetzt vorbei. Die Wiederaufbauverpflichtung ist keine regenerierbare Legitimationsressource mehr, von der man aus wohlfahrtsstaatliche Investitionsbereitschaft und Enthusiasmus für den Wohlfahrtsstaat entwickeln könnte. So wird es nicht mehr gehen. Es gibt nämlich so etwas wie eine generationell gestaffelte Absetzbewegung vom Wohlfahrtsstaat, in der ein durchaus explosives Pulver steckt. Die Generation, die im Augenblick am besten dasteht, ist die unserer Turnschuh-Rentner. Gemeint sind da-mit diejenigen, die der berühmten „Flakhelfer“-Generation der um 1928 Geborenen an-gehören. Denen geht es ganz prima: Sie sind in der Welt unterwegs, haben mehr oder minder schöne Renten, meist auch noch gewisse Eigenheimrücklagen, können sich auf diese Weise generös gegenüber ihren Enkeln zeigen, was die Zahlen über erhebliche private Transfers in der Generationsfolge belegen. Da freut man sich und wünscht sich insgeheim: ,So ein Rentner möchte ich auch mal gerne sein.‘ Aber die mittlere Generation der heute Vierzigjährigen, die für ihre noch in der Ausbildung steckenden Kinder und ihre aufs Altenheim zugehenden Eltern zu sorgen hat, weiß natürlich, das diese glücklichen Verhältnisse für sie nicht mehr gelten werden.
Diejenigen, die allerdings von den heute Vierzigjährigen sehr viel mehr beargwöhnt werden, sind jene, die der wirklich klassischen, wenn man es nicht nur von der Finanzierungs- und Aufbringungsseite, sondern auch von der Nutzerseite und von dem Beschäftigungsaspekt her sieht, Sozialstaatsgeneration der westdeutschen Nachkriegszeit angehören: die 68er-Generation, die gerade die Geschicke in Deutschland bestimmt. Die eigentliche Profitierungsgeneration des deutschen Wohlfahrtsstaates sind die um 1940 geborenen Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs. Sie hatten gegenüber der Flakhelfer-Generation noch den Vorteil, dass sie in die expandierende Wohlfahrtsstaatlichkeit hineingeboren worden sind, was ihnen enorme berufliche Chancen eröffnet hat, die sie auch wahrgenommen haben. Für sie war der Wohlfahrtsstaat nicht nur ein Sicherungsinstitut, sondern auch gleichzeitig eine Beschäftigungsmaschine. Das ist die wirkliche Profitierungsgeneration des Wohlfahrtsstaates. Sie hat noch die Sicherungsmöglichkeiten und hatte die Beschäftigungsmöglichkeiten im Wohlfahrtsstaat; diese Generation hat die ganze Klientelisierung, Pädagogisierung, Therapeutisierung vorangebracht, also all die Versorgungsansprüche begründet, die uns im Augenblick einige Kosten verursachen.
So jedenfalls sehen das die Angehörigen der defensiven Sozialstaatsgeneration, die in den 1970er Jahren politisch sozialisiert worden sind: aufgewachsen in der Periode von Helmut Schmidt und Hansjörg Felmy – mit autofreien Sonntagen und mit der Prognose von den Grenzen des Wachstums. Nur wurden dann die „reduzierten” 1970er durch die „fetten” 1980er Jahre abgelöst. Auf Helmut Schmidt folgte Helmut Kohl. Daraus ergibt sich die merkwürdige Zwischenlage dieser Generation der um 1960 Geborenen: dramatisiert in der frühen Jugend, dass alles zu ende geht, und beruhigt in der später Jugend, dass alles weitergeht.
Ihnen folgt die „Generation Golf‘ der um 1975 Geborenen, die man eigentlich zu einer postsozialstaatlichen Generation erklären kann. Sie ist ohnehin der Meinung, dass der Wohlfahrtsstaat, sowohl was ihre persönlichen Lebensmodelle als auch was seine Finanzierungsleistungen angeht, eine schlechte Karte darstellt. Das sind die Virtuosen des Wechsels zwischen dem jeweils Günstigsten, aber nicht, weil sie nichts anderes kennen als die egoistische Vorteilsnahme, sondern weil ihnen hergebrachte Vorstellungen von Sozialverpflichtung wie Schutzbehauptungen von Sozialkartellen und Besitzstandskoalitionen erscheinen. Daher glauben sie, dass exit einfach ehrlicher und wirkungsvoller als voice ist. Die große Frage ist nunmehr, was nach dem Generationenbündnis des Wiederaufstiegs nach 1945 kommt, auf welches sozialmoralische Band man nach der Wiederaufbauverpflichtung in der heutigen Konstellation zurückgreifen kann.

Verwundbarkeit, Exklusion und die Last der mittleren Jahre

Dies geschieht unter dem Eindruck größere Verschiebungen, Vermischungen und Verdrängungen im gesamtgesellschaftlichen System der sozialen Ungleichheit. Diese Prozesse werden als soziale Entgrenzung von Gefährdungslagen wahrgenommen, die mit der fortgesetzten Umstellung von Status auf Karriere zu tun hat. Damit ist zweierlei gemeint: Zum einen haben viele die Chance zu einer Karriere, die ihnen von ihrer Herkunft nicht vorgezeichnet ist; und zum anderen bergen diese vermehrten Lebenschancen zugleich vermehrte Lebensrisiken in sich. Es verbreitet sich in der Mitte der Gesellschaft das Gefühl, dass immer auch alles schief gehen kann. Dann ist man plötzlich nicht mehr auf der sonnigen Seite der Strasse, und es stellt sich die zermürbende Frage, ob man nicht mit seinen Entscheidungen und Erwartungen daneben gelegen hat: „Habe ich im Studium auf das falsche Pferd gesetzt, im Betrieb nicht den richtigen Absprung gefunden oder mich mit dem falschen Partner zusammengetan?” Wir haben solche Wege ins soziale Aus untersucht, die im Prinzip von allen Sprossen der sozialen Leiter ausgehen können (Bude 1998). Solche Exklusionskarrieren haben drei Kennzeichen: Es gibt so etwas wie einen schleichenden Anerkennungsverlust, dann einen biographischen Umschlagpunkt, wo das Erleiden gegenüber dem Handeln in den Vordergrund tritt, und schließlich das Auftauchen der panischen Frage, ob ich noch in der Welt der Chancen oder schon in der des Ausschlusses lebe.
Exklusion ist nicht identisch mit Arbeitslosigkeit oder Armut. Es gibt ganz viele Arbeitslose, die wohl integriert in unserer Gesellschaft leben, die über informelle Arbeitsmärkte sogar erhebliche Einkommen haben, und es gibt Arme, die als Marginalisierte durchaus einen zwar unterprivilegierten, aber eingelebten Ort in unserer sozialen Welt haben.
Dieses Exklusionsproblem tritt noch deutlicher hervor, wenn wir eine weitere Gruppe in den Blick nehmen, nämlich die Einwanderer in unserer Gesellschaft. Die Einwanderungsgesellschaft kann keine Arbeitnehmergesellschaft sein. Einwanderungsmöglichkeiten bringen Ungleichheitskosten mit sich. Das ist die Botschaft aller klassischen Einwanderungsgesellschaften, weil die Subversion der gegebenen Ordnung die einzige Chance der Einwanderer ist, ihr Glück zu machen: auf informellen Arbeitsmärkten, mit Sozialdumping, in illegitimen Beschäftigungsverhältnissen. Darin liegt die besondere Chance der Außenseiter, die in die Gesellschaft der Etablierten kommen. Doch damit kommt ein Gefährdungs- und Verwundbarkeitspotential in unsere Gesellschaft, welches unsere sozialmoralische Sensibilität auf die Probe stellt.
Eine dritte Quelle sozialen Unbehagens hängt mit der Überlastung der mittleren Generation im Generationenvertrag zusammen. Gemeint sind diejenigen, die für ihre Kinder wie für ihre Eltern zu sorgen haben. Da kann man sehr schnell, trotz eines guten Einkommens, in eine Situation geraten, die wir, in Anschluss an die Untersuchungen von Werner Hübinger, prekären Wohlstand genannt haben (vgl. Hübinger 1996). Dies ist eine Situation, in der man das Gefühl hat, dass jetzt gar nichts mehr passieren darf. Eine größere Reparatur am Auto, der Ausfall von Zahlungen aus der Pflegeversicherung oder die Rechtsanwaltsrechnung wegen eines Streits mit dem Nachbarn würden die häusliche Ökonomie überfordern. Es ist diese Problematik der Überlastung der mittleren Generation, die nicht nur von der Allgemeinheit zuerst zur Kasse gebeten wird, sondern dazu noch den Zusammenhalt der Familie in der Generationenfolge zu tragen hat, die auf die Stimmung der Gesellschaft drückt.

Das Individuum in der Transformation des Sozialen

Wir haben auf der einen Seite eine weitgehende und tiefgreifende Entwicklung erzwungener und/oder gewollter Selbständigkeit in der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. Gewollt ist die Selbständigkeit deshalb, weil die Menschen sagen: „Wir wollen unser Leben in dieser Form — mit Einkommensmischungen, im Wechsel von Phasen der Beschäftigung mit solchen der Nichtbeschäftigung, mit Möglichkeiten, Beruf und Familie in Einklang zu bringen. Das lassen wir uns nicht abnehmen. Wir wollen eigenen Mischungen und Kombinationen zustandebringen. Das machen wir nach unserem Gutdünken und nach unserer eigenen Fasson.”
Wir haben allerdings auch Fälle untersucht, in denen Selbständigkeit die letzte Chance ist, um wieder Fuß zu fassen. Da zeigen sich die Risiken des Anspruchs auf ein „eigenes Leben”. Nicht vorhersehbare „Lebensereignisse”, wie man in der klinischen Sprache der Sozialwissenschaften sagt, schlagen nicht selten so durch, dass der Einzelne seinen letzten Halt verliert. Man hat sich mit seinen Krediten so übernommen, die Brücken zu seiner Vergangenheit so endgültig abgerissen, dass man bei Ausbleiben des geschäftlichen Erfolgs und der gesellschaftlichen Anerkennung endgültig auf die Nase fällt. Wo die „Ich-AG” den letzten Ausweg darstellt, ist sie in aller Regel höchst riskant. Wer davor schon verwundbar war, kann schnell und unversehens in einen Prozess ununterbrechbarer und unumkehrbarer „Abweichungsverstärkung” geraten. Das ist die andere Seite von Flexibilisierung, Individualisierung und Mobilisierung. Eine fehlgreifende Daseinsvorsorge, die die Gescheiterten in immer neue Fortbildungs- und Weiterqualifikationsmaßnahmen leitet, führt dann nur noch in neue Gefährdungslagen.
Wir haben insgesamt eine schwierige Situation vor Augen, wo Selbständigkeit notwendig und Sorge geboten ist. Es ist freilich über Sorge anders nachzudenken als in den Begriffen der statusbezogenen Daseinsvorsorge. Und es ist gleichzeitig notwendig, die vielen Regungen von Selbständigkeit nicht als Verfall, sondern als Transformation des Sozialen zu begreifen.
Selbständigkeit und Sorge sind m.E. die beiden Begriffe, die die wohlfahrtsstaatliche Legitimation. in der Zukunft bestimmen werden. Es wird, erstens, eine paradoxe Politik notwendig sein, die sich für die Starken wie für die Schwachen zuständig erklärt.
Das wird die eigentliche Kunst dieser Politik sein: Nicht einfach zu sagen, dass die Starken für die Schwachen sorgen müssen, sondern dass Starke und Schwache ihren Anteil an der Sorge fürs Ganze zu leisten haben. Man wird sich, zweitens, eine Politik zweiter Chancen ausdenken müssen. Es muss die Möglichkeit geben, dass man, wenn man rausgefallen ist, auch wieder reinkommen kann. Nicht das Netz, sondern das Trampolin wäre das Bild solcher Sozialpolitik. Drittens wird es eine Politik des Respekts sein müssen, die sich der Tatsache stellt, dass Ungleichheiten wachsen und Zonen der Verwundbarkeit sich ausbreiten. Eine Moral ist dann stark, wenn sie einem erlaubt, mit Ungleichheiten umzugehen und trotzdem am Ziel der Gleichheit festzuhalten.
Eine Politik des Respekts unterstellt die Unverzichtbarkeit jedes Einzelnen für das Wohl aller. Damit wird nicht idealistisch so getan, als ob alle gleich wären, aber auch nicht materialistisch davon ausgegangen, dass durch staatliche Ausgleichszahlungen soziale Teilhabe gesichert wäre. Eine Politik des Respekts verbietet sich herablassendes Mitleid, weil sie mit der Möglichkeit jedes Einzelnen rechnet, sich wiederaufrichten zu können; aber sie ist zugleich zu tätiger Unterstützung derer bereit, die sozial verwundbar sind oder sich schon gesellschaftlich entkoppelt haben. Es ist der Respekt, der Selbstständigkeit verlangt und Sorge begründet.

Literatur

Bude, Heinz 1998: Die „Überflüssigen” als transversale Kategorie; in: Peter A. Berger/Michael Vester (Hg.): Alte Ungleichheiten — neue Spaltungen, Opladen, S. 363-382
Dahrendorf, Ralf 1992: Der moderne soziale Konflikt. Essays zur Politik der Freiheit, Stuttgart Hübinger, Werner 1996: Prekärer Wohlstand. Neue Befunde zu Armut und sozialer Ungleichheit, Freiburg im Breisgau
Kleßmann, Christoph 1991: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, 5. Aufl., Bonn
Marshall, Thomas H. 1992 [engl. Orig. 1949]: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaats, FrankfurtlMain/ New York

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