Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Soziale Bewegung oder Genera­ti­ons­kon­flikt?

Ein Schlichtungsvorschlag im Deutungskampf um ,1968`

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 32ff

Kaum ein Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte ist mit einer solchen Überfülle an Interpretationsansätzen bedacht worden wie ,1968`. Liegt dies am großen

Aufsehen, das die 68er-Protestaktionen erregten, oder an der Theorieverliebtheit jener Zeit und ihrer Akteure? Wie auch immer – aus dem Getümmel der 35 Jahre

währenden Deutungskämpfe ragen gleichwohl zwei Positionen heraus: jene der Sozialbewegungsforschung und die an Karl Mannheim orientierte Generationstheorie.

Im vorliegenden Beitrag sollen diese beiden Ansätze zunächst skizziert werden. Es folgen Überlegungen zur Position der „68er” im Generationsgefüge ihrer

Zeit, bevor abschließend ein Synthesevorschlag er-läutert wird, demzufolge die 68er-Bewegung als generationelle Sozialbewegung begriffen werden kann.‘

Der 68er-Protest als soziale Bewegung

Die Versuche, ,1968` mit der Methodik der Sozialbewegungsforschung zu erfassen, sind in der Geschichtswissenschaft erst in jüngerer Zeit auf Widerhall

gestoßen.2 Eigentlich ist dieser Ansatz jedoch so alt wie der Untersuchungsgegenstand, denn schon in der Selbstbezeichnung der Protestierer als ,Bewegung`

war ein solches konzeptionelles Verständnis angelegt. Insofern überrascht es nicht, dass bereits 1968 ein französischer Soziologe hinsichtlich der Mai-

Unruhen in seinem Land von der „Geburt einer neuen sozialen Bewegung” (Touraine 1968: 12) sprach und in diesem Sinne einen umfassen-den Deutungsvorschlag

entwarf.
Was ist nun genauer unter einer Sozialbewegung zu verstehen? Nach Joachim Raschke handelt es sich um einen „mobilisierenden kollektiven Akteur, der mit einer

gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das

Ziel verfolgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.” (Raschke 1988: 77) Der Knackpunkt liegt dabei in der

Verknüpfung des Protests mit ,sozialem Wandel‘, der „Ursache und Funktion sozialer Bewegung” (ebd.: 18). Mit Blick auf die 68er-Bewegung ist gegen eine

solche Zielzuschreibung angeführt
worden, dass von damaligen führenden Akteuren keineswegs nur gesellschaftliche Re-formen, sondern eine Revolution erstrebt wurde (Kraushaar 2000: 266f.).

Ferner könnte
man zu bedenken geben, dass typische Single-Purpose-Movements häufig ganz bewusst
keine grundlegenden Ziele formulieren, die über ihr konkretes Anliegen hinausgehen. Raschke nimmt jedoch mit einem weit gefassten Verständnis von ,sozialem

Wandel‘ der Kritik größtenteils den Wind aus den Segeln. Ihm zufolge können Aspekte wie Wertewandel oder der „Wandel der Lebenspraxis” ebenso zum

Sozialwandel gezählt werden wie staatlich angeregte Reformen, fernerhin Separation oder Revolution (Raschke 1988: 389).
Als Erweiterung des skizzierten Bewegungsbegriffs erscheint es im Rahmen einer historischen Anwendung sinnvoll, den Terminus ,soziale Bewegung‘ stärker in

das Begriffsfeld des ,kollektiven Handelns‘ einzubetten (Heinz/Schöber 1973: 9). Statt ein statisches Bewegungsmodell zu konstruieren, lässt sich so die

Bandbreite des Protesthandelns wie auf einer Skala anordnen und damit ein dynamisches Konzept entwickeln, das gerade mit Blick auf die vielfältigen Vorgänge

in den 1960er Jahren hilfreich ist: An-gefangen bei unkoordinierten kollektiven Handlungen (etwa spontanen Demonstrationen) über kollektive Episoden – wozu

auch noch die „Schwabinger Krawalle” von 1962 zu rechnen wären (Hemler 2003) – finden sich Ansätze zu sozialen Bewegungen in sich verstetigenden

Protestformen (oft noch ohne weiterreichende Zielsetzungen, wie etwa bei den studentischen Aktionen für Bildungsreformen seit Mitte der 60er Jahre),

schließlich die voll ausgebildeten Sozialbewegungen als Reformunternehmungen sowie die Separations- oder Revolutionsbewegung.
Das Sozialbewegungskonzept vermag auf diese Weise als relativ breit angelegtes Modell der Vielfalt der historischen Wirklichkeit durchaus gerecht zu werden.

Allerdings bedarf es einer flexiblen Anwendung, um unnötige Verengungen zu vermeiden, wie sie dem Bielefelder Kreis um Ingrid Gilcher-Holtey bei der

Übertragung des Ansatzes auf die 68er-Bewegung z.T. unterlaufen sind. Wie Detlef Siegfried (2003: 20) bemerkt hat, ist hier ist zum einen eine Überschätzung

der Prägekraft der „kognitiven Konstitution” (Gilcher-Holtey 1995: 44) festzustellen; zum anderen besteht die Gefahr einer zu starken Fixierung auf wenige,

als zentral angesehene Trägerorganisationen der Bewegung (vgl. z.B. Richter 1998). Für die Bundesrepublik droht die Thematik auf eine Art „Ideengeschichte

des SDS unter besonderer Berücksichtigung der ,Antiautoritären” zusammenzuschrumpfen. Erkenntnisse, wie meinungsführende Gruppen vor der Aktionsphase der

68er-Bewegung intern funktionierten, sind zwar durchaus von Interesse, aber die entscheidende Frage, warum sie nun, anders als zu früheren und späteren

Zeiten, auf eine derartige Resonanz stoßen konnten, wird so schwerlich zu beantworten sein. Die 68er-Bewegung war eben keineswegs nur der SDS, und ,1968`

erschöpfte sich nicht allein in der 68er-Bewegung.
Trotz dieser Kritik bleibt es sinnvoll, bei der Untersuchung der 68er-Bewegung auf das Instrumentarium der Sozialbewegungsforschung zurückzugreifen. In der

historischen Darstellung können auf diese Weise ausgearbeitete Kategorien verwendet wer-den, und es lassen sich zahlreiche Aspekte der Bewegung, insbesondere

das „Funktionieren” der Mobilisierung von Sympathisanten, besser verstehen. Allerdings scheint
dieser Ansatz nicht auszureichen, um ,1968` umfassend, einschließlich seiner vielfältigen, über die 68er-Bewegung hinaus verweisenden Wirkungsweisen, zu

erklären. Weiterhelfen kann hier eine Verknüpfung mit der Generationstheorie.

Karl Mannheims Generationsmodell

Hinsichtlich des „Problems der Generationen” empfiehlt sich immer noch der Rückgriff auf die gleichnamige Konzeptskizze, die Karl Mannheim 1928 als Aufsatz

publizierte (Mannheim 1964 [1928]). Von zentraler Bedeutung ist dort die Begriffsunterscheidung zwischen Generationslagerung, -zusammenhang und -einheit, aus

der sich ein „Stufenmodell unterschiedlicher Intensitäten von Verbundenheit innerhalb einer Generation” erschließt (Lucke 1998: 7).
Die generationelle Lagerung ist in Analogie zur Klassenlage gedacht, als „bloße Präsenz in einer bestimmten historisch-sozialen Einheit” (Mannheim 1964:

542). Damit ist mehr gemeint als die kohortenbezogene Zugehörigkeit zu einer biologischen Generation, denn es besteht bereits eine gemeinsame

gesellschaftlich-politische Ausgangssituation. Zur Herausbildung der zweiten und dritten Stufe seines Modells schreibt Mann-heim (ebd.: 544): „Dieselbe

Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist, lebt in einem ,Generationszusammenhang`, diejenigen Gruppen, die innerhalb

desselben Generationszusammenhanges in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene ,Generationseinheiten` im Rahmen

desselben Generationszusammenhanges.”
Bei der Frage nach dem Entstehungshintergrund einer Generation wird dem Tempo des sozialen Wandels ein erhebliches Gewicht zugemessen. Ein zweiter wichtiger

Entstehungsfaktor ist die „Ergebnisschichtung”: Für die Bewusstseinsformierung spielt eine entscheidende Rolle, „welche Erlebnisse als ,erste Eindrücke‘,

,Jugenderlebnisse` sich niederschlagen, und welche als zweite, dritte Schicht usw. hinzukommen” (ebd.: 536). Nicht unumstritten ist ferner die Annahme

Mannheims, es komme hierbei vor allem auf die Ereigniswahrnehmung in der für das persönliche Weltbild präformierende Zeit zwischen dem 17. und 25. Lebensjahr

an (ebd.: 538f.) – mit Blick auf die Vorverlagerung der Pubertät und Verlängerung der Postadoleszenz ist eher von einer etwas größeren Zeitspanne auszugehen.

Die „68er” im Generationsgefüge ihrer Zeit

Angesichts der weitreichenden Wirkung der Protestbewegung der späten 1960er Jahre sollte die hier nun zu erörternde jahrgangsbezogene Ausdehnung der 68er-

Generation relativ breit angesetzt werden. Zwar dürfte die Zuordnung der Jahrgänge 1940-50 für den Großteil der Teilnehmer der Protestbewegung zutreffen

(Leggewie 1995: 90), so dass im engeren Sinne die „68er” mit dieser Altersklassifizierung bezeichnet werden
können. Soll allerdings der Generationszusammenhang jahrgangsmäßig vollständig er-fasst werden, sind darüber hinaus auch die bis zu fünf Jahre jüngeren und

älteren Kohorten noch zu berücksichtigen. Aus der Gruppe der ca. 1935-40 Geborenen kamen zwar nur wenige Bewegungsaktivisten, aber doch Sympathisanten des

außerstudentischen Bereichs, so z.B. Hochschulassistenten, jüngere Journalisten oder Lehrer. Für den jüngsten Teil der Protestgeneration, die Jahrgänge 1950

-55, wurden dann die Ereignisse um 1968 selbst zu einer prägenden Erfahrung, was sich zum einen in einer etwas zeitversetzt einsetzenden Schülerbewegung

niederschlug (Heider 1984) und zum anderen die Linksbewegung an den Hochschulen radikalisieren half.
Aufgrund der Möglichkeit, dass Generationen als „komplizierte Gewebe gegenseitiger Abhängigkeit” in Interaktion treten (Moses 2000: 263), erscheint es bei

der Anwendung des Generationsansatzes sinnvoll, nicht nur isoliert die „68er”, sondern das gesamte Generationsgefüge ihrer Zeit in den Blick zu nehmen.

Hinsichtlich der 1960er Jahre ist hierbei vor allem auf die globale Unterschiedlichkeit der Erfahrungswelten hin-zuweisen, die sich durch die

Aufeinanderfolge der krisenreichen Zwischenkriegsjahre, der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und dem Nachkriegsboom ergaben. Zwar sollten die „68er”

generationell – entgegen der Thesen von Heinz Bude3 – keineswegs als massenhaft traumatisierte „Kriegskinder” verstanden werden. Jedoch wurden die

vorgelagerten Generationen durch ihre Krisen- und Kriegseindrücke in den 1930er und 1940er Jahren dauerhaft geprägt und altersübergreifend miteinander

verbunden.
Die 68er-Generation war nun die erste Altersgruppe, die in keinem für generationelle Prägungen relevanten Lebensabschnitt Kriegs- und Krisenzeiten noch

miterleben musste. Die hieraus resultierende Unterschiedlichkeit der Erfahrungswelten zwischen „68ern” und den Älteren verstärkte sich dann noch weiter durch

den beschleunigten Modernisierungsprozess: Während der wachsende Wohlstand das bisherige „Streben nach Sicherheit” (Braun 1978) in den älteren Generationen

nur allmählich zu neutralisieren vermochte, konnte des Nachkriegsbooms für die damalige Jugend zu einer quasi voraussetzungslosen Grunderfahrung werden, die

zu weitreichenden neuen Wünschen zu berechtigen schien. Der von Eckert für Westdeutschland konstatierte, aber auch in anderen Industrieländern feststellbare

„Bedürfniswandel” (Eckert 1973: 27), der sich hierzulande messbar auch in einem Wertewandelsschub niederschlug (Klages 1992), betraf dabei in erhöhtem Maß

die jüngeren Altersgruppen. Erst vor diesem Hintergrund konnte es in den 1960er Jahren zu der „enormen historischen Kluft” (Hobsbawm 1995: 412) im

Generationsgefüge kommen, die eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der 68er-Protestgeneration darstellte.
In Deutschland trug zur Verschärfung dieses geschichtlich bedingten Generationskonfliktes die NS-Belastung der Elterngenerationen bei. Konstituierend für die

hiesigen „68er” – wie auch für ihre Altersgenossen anderer Länder – war aber auch das konkurrierende Verhältnis zu den „45ern” (Moses 2000), Schelskys

„skeptischer Generation”. Unter den veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erschien der Konsensliberalismus, der die ideelle Basis

für die Verwestlichungsbestrebungen der „45er” dargestellt hatte, den jungen Linksintellektuellen der 68er-Zeit nicht mehr modern, sondern wie ein Relikt des

Kalten Krieges (Poiger 2001: 259-63). Die Ideologiebezogenheit kann.so auch als bewusste Abgrenzung zum Pragmatismus der skeptischen „Große-Brüder-

Generation” (Husche 2003: 46) verstanden werden.
Generationsgeschichtlich wurde bisher auf Faktoren abgehoben, die im Sinne Mannheims für die Entstehung einer Generationslagerung bedeutsam sind. Die

Ausbildung eines Generationszusammenhangs ist dabei nach 1945 allein bei den „68ern” klar erkennbar, in den anderen Fällen – einschließlich der „45er” –

hingegen nur in schwachen, historisch weniger wirksamen Umrissen. Wie Helmut Fogt in seinen vertiefenden Überlegungen zu Mannheims Ideen festgestellt hat,

entstehen Generationszusammenhänge „primär durch die kollektive Verarbeitung spezifischer Ereignisse” (Fogt 1982: 104). Mit Blick auf den

Generationszusammenhang der „68er” sind hier zeitgeschichtliche Fakten zu nennen, die auch im Rahmen von anderen Erklärungsansätzen als „Auslöser” diskutiert

worden sind. Aufgrund seiner weltweiten Wirkung ist zuerst der Vietnamkrieg hervorzuheben, sodann im Bereich der Bundesrepublik besonders die Bildung der

Großen Koalition 1966. Ferner fallen hierunter Ereignisse, die in direktem Zusammenhang mit der 68er-Bewegung selbst stehen, wobei nicht selten die

fortschreitende generationelle Solidarisierung durch die staatlichen Reaktionsweisen angefacht wurde. Zu erwähnen wären hier die Osterunruhen 1968 in der

Bundesrepublik und natürlich besonders der Pariser „Mai ,68”, der weltweit die Hoffnungen der Protestierer beflügelte.

Die generationelle Sozialbewegung der 68er-Zeit: ein Synthesevorschlag

Wie könnte nun ein umfassender Erklärungsversuch für ,1968` konzipiert sein? Im Falle der altershomogenen, studentisch dominierten, global auftretenden

68er-Bewegung er-scheint die Mannheimsche Generationstheorie hierfür als Basis besonders geeignet (Fogt 1982: 135-160; Rabehl et al. 1986; Kimmel 1998: 127-

131; Fietze 2000). Wie Lothar Müller festgestellt hat, zeigt der Mannheimsche Ansatz „Möglichkeiten auf, zu einer ins-gesamt mikro- und makrostrukturelle

Elemente zusammenfügenden Theorie zur Erklärung des Studentenprotests zu gelangen.” (Müller 1992: 173) Entsprechend einer solchen Zielsetzung werden

abschließend Verknüpfungen des Generationsmodells mit an-deren Ansätzen zur Diskussion gestellt.
Besonders wichtig ist eine sinnvolle Verbindung mit der oben vorgestellten Theorie sozialer Bewegungen. Fogt und Kimmel schlugen hier vor, von einer

Generationseinheit als Träger der 68er-Bewegung auszugehen (Fogt 1982: 137; Kimmel 1998: 128). Durch eine solche Verknüpfung gelingt es, den Protest in

mehreren Punkten überzeugender zu erklären, als dies beim Sozialbewegungs- oder Generationsmodell für sich der Fall wäre: Die Verbindung zu den

Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit ist nun besser fundiert, da ja in beiden Ansätzen der soziale Wandel eine wichtige Bedeutung als Hintergrundursache

spielt – zum einen bei der Ausprägung von Generationslagerungen, zum anderen bei der Entstehung sozialer Bewegungen. Eine sich schon seit den 1950er Jahren

bildende Generationslagerung könnte sich folglich für die 68er-Bewegung bereits in deren Anfangsphase begünstigend ausgewirkt haben. Das Aufkommen eines

Generationszusammenhangs in den mittleren 1960er Jahren erklärt die Dynamik der weiteren Bewegungsentwicklung, die eben durch den Generationsbildungsprozess

mit-bedingt war. Umgekehrt stärkte die sich konstituierende Sozialbewegung den Generationszusammenhang und lieferte die Plattform für die dominierende Generationseinheit. Die schrittweise Verschränkung von Bewegung und Generation erleichterte

so maßgeblich die Ausbildung kollektiver Identitäten. Werden die Entstehung der 68er-Bewegung und die Generationsbildung in diesem Sinne als zunächst

weitgehend parallel verlaufende, in zunehmendem Maße sich aber dann gegenseitig beeinflussende Entwicklungen gesehen, fällt es leichter, die Breitenwirkung

von ,1968` zu erklären: Sie kann – über die Trägerorganisationen des Protests hinausgreifend – innerhalb des neu entstandenen Generationszusammenhangs

verortet werden.
Als Akteur der 68er-Ereignisse kann folglich von einer generationellen Sozialbewegung gesprochen werden. Die Bezeichnung ,68er-Bewegung` ist somit in der

Bedeutung als ,Bewegung der 68er‘ angemessen, wobei nicht die gesamte Generation, sondern nur die „protestbewegte” Generationseinheit als Träger fungierte.

Da sich aber nach Mannheims Stufenmodell auch „mehrere, polar sich bekämpfende Generationseinheiten” innerhalb eines Generationszusammenhangs bilden können

(Mannheim 1964: 547), stellen APO-Aktivisten keineswegs die 68er-Generation dar, sofern man darunter einen Generationszusammenhang versteht. Dieser ist viel

weiter gespannt und umfasst neben SDS-Mitgliedern auch dem Protest bisweilen distanziert gegenüberstehende, aber dennoch durch die Ereignisse mitbeeinflusste

junge Sozialliberale in der SPD oder FDP und sogar die konservative Gegenbewegung. Sie alle bilden einen Zusammenhang, der von denselben Rahmenereignissen

geprägt worden ist; sie sind aber unterschiedliche Strömungen – oder in der Mannheimschen Terminologie: Einheiten – derselben 68er-Generation.
Anhand der obigen Überlegungen wird deutlich, dass sich das Generationsmodell für synthetisierende Theorieverbindungen besonders eignet, weil seine Erklärung

von Gruppenbildungsprozessen auf einer mittleren Ebene ansetzt und mit seiner relativen Offenheit genug Raum für die Integration anderer Erklärungsvorschläge

lässt. Da der Generations- und der Sozialbewegungsansatz von unterschiedlichen Richtungen an die 68er-Bewegung herangehen, bieten sie weniger konkurrierende

als überwiegend komplementäre Deutungen. Die von der Sozialbewegungstheorie erfassten konkreten Mobilisierungsvorgänge können so als funktionale Erklärungen

für die Entstehungsbedingungen der 68er-bewegten Generationseinheit begriffen werden. Auch andere Forschungsthesen zu Mobilisierungsprozessen, wie z.B.

Annahme einer hervorgehobenen Rolle der ,antiautoritären` „Provokationselite” bei der Entstehung der 68er-Generation (Rabehl et al. 1986: 35f.) oder die

Befunde zum liberalen Sozialisationshintergrund von Protestakteuren oder zur Totalität der studentischen Rolle (Allerbeck 1973: 221-232), sind als

Erklärungsbausteine aufzufassen, die den Prozess der Verfestigung des 68er-Generationszusammenhangs und die Entstehung der Protest-Generationseinheit genauer

verstehen lassen.
Überlegungen zur Modernisierung sowie zu anderen politisch-gesellschaftlichen Basistrends der Nachkriegszeit (Verwestlichung, wachsende Bedeutung von

Jugendkulturen, Wertewandel) tragen zur Erklärung der Entstehungsumstände der 68er-Generationslagerung bei. Modernisierungsschübe begünstigen als besondere

Temposteigerungen des sozialen Wandels die Entstehung einer Generationslagerung. Dabei kann mit Hilfe
des Konzepts der reflexiven Modernisierung (Ulrich Beck) die spezifische Situation des Entstehungs- und Wirkungszeitraums der 68er-Bewegung mit seinen

Ungleichzeitigkeiten im gesellschaftlichen Wandel charakterisiert werden. Die prekäre Umbruchsituation im spannungsreichen Modernisierungsgeschehen der

1960er Jahre war der Nährboden für die konfliktlose politisch-gesellschaftliche Ereigniskonstellation, die dann die Ausbildung des 68er-

Generationszusammenhangs förderte.
Die zeitgeschichtlichen Diskussionen über den Zäsurcharakter verschiedener Einzelereignisse hat für die Mannheimsche Generationstheorie insofern einen

besonderen Stellenwert, als den Ereignissen im Rahmen des Konzepts der Erlebnisschichtung eine wichtige Rolle für die Entstehung eines

Generationszusammenhangs zukommt. Der Bezug auf den gesellschaftlich-politischen Rahmen und die Ereignisse der Zeit ist dabei subjektiv gewendet:

Entscheidend für das Zustandekommen generationeller Prägungen sind weniger die „objektiven” Verhältnisse als deren Wahrnehmung durch die Altersgruppe einer

Generationslagerung. Das Synchronisationsmodell von Pierre Bourdieu ist dabei geeignet, nicht nur die Krisendynamisierung und – wie von Gilcher-Holtey

hervorgehoben (Gilcher-Holtey 1995: 232f.) – die bewegungsmobilisierende Wirkung zu erklären, sondern es ermöglicht ebenso ein besseres Verständnis der

generationsprägenden Kraft von einschneidenden Ereignissen (Bourdieu 1998: 254-303).
Die Sicht der 68er-Bewegung als generationelle Sozialbewegung in einer Zeit gesellschaftlich-politischer Umbrüche lässt schließlich auch verstehen, warum der

Protest einerseits „global und miteinander verbunden” und andererseits doch „disparat” und auf engere Kontexte bezogen erscheint (Fink et al. 1998: 20):

Während die Makrobedingungen der Nachkriegszeit, welche die 68er-Generationslagerung hervorbrachten, weltweit ähnlich gerichtet (Fietze 2000: 23f.) und in

der westlichen Hemisphäre sogar gleichartig waren, galt dies für die Umstände, die für die Bildung von Generationszusammenhängen und -einheiten maßgeblich

waren, nicht im gleichen Maße. Hier kam es, trotz international rezipierter Anstöße, zu länderspezifischen Ereigniskonstellationen und demzufolge auch bei

der 68er-Bewegung zu unterschiedlichen Entwicklungs- und Mobilisierungsverläufen. Aufgrund der starken Ausgangsprägung der Generationslagerung sowie der

wechselseitigen, medial begünstigten Beeinflussungen der Bewegungen drifteten die Entwicklungen jedoch nicht in völlig verschiedene Richtungen, sondern

behielten eine gewisse Ähnlichkeit. Generationstheoretisch betrachtet kann daher ,1968` trotz seiner erstaunlichen lokalen, regionalen und nationalen

Vielfalt durchaus als ein globales Phänomen angesehen werden.

1  Mit der ,sozialen Bewegung‘ war im 19. Jahrhundert zunächst die Arbeiterbewegung gemeint. In der Nachkriegszeit entstand dann ein von der ursprünglichen  

 Trägerschaft abstrahierender Sozialbewegungsbegriff, der im folgenden Abschnitt erläutert wird. Synonym wird dabei von ,sozialen Bewegungen‘ oder  

,Sozialbewegungen` gesprochen.
2  Zu nennen ist hier vor allem die Bielefelder Arbeitsgruppe um Ingrid Gilcher-Holtey (vgl. Gilcher-Holtey 1995; Gilcher-Holtey 1998; Kurz 2001; Tolomelli  

 2001, Schmidtke 2003), auf deren Herangehensweise weiter unten noch eingegangen wird.
3  Bude sieht die 68er-Generation zum einen besonders durch die Bombennächte in den allerersten Lebensjahren unbewusst gezeichnet, zum anderen greift er auf 

  die „Kontroll-Loch“-These zurück
   (Preuss-Lausitz et al. 1983: 13 u. 21): In der unmittelbaren Nachkriegszeit seien viele Kinder, bedingt durch die Notsituation, fast ohne elterliche   

Kontrolle aufgewachsen. Die Rückkehr zur innerfamiliären Normalität der 1950er Jahre hätten sie als besonders schroffen Kontrast erfahren, was eine   

rebellische Vorprägung erzeugt habe (Bude 1995: 34ff. u. 53ff.). Solche Deutungen sind je-doch nicht vereinbar mit der Tatsache, dass die   

Studentenbewegung kein deutsches Spezifikum darstellt: Ebenfalls aufbegehrende Altersgenossen aus den USA wurden in ihrer Kindheit weder von      

Bombennachts-Traumata noch von „Kontroll-Löchern” vorgeprägt, und auch in Großbritannien oder Frankreich unterschieden sich die frühkindlichen Kriegs- und   

Nachkriegserfahrungen deutlich von denen in Deutschland. Natürlich ist es unstrittig, dass Kindheitserfahrungen Einfluss auf die   

Persönlichkeitsentwicklung nehmen, jedoch zeigt gerade das Beispiel der „68er”, dass derartige frühe Prägungen nur individuell und eben nicht kollektiv —   

und damit auch nicht für die Konstituierung einer Generation — von Bedeutung sind.

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