Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Provokation als Emanzi­pa­tion

1968 und die Emotionen

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 41ff

Neuere Studien über die „Neue Linke” in den 1960er Jahren sowie über die nachfolgen-den Bewegungen beurteilen, anders als viele frühere Arbeiten, deren Originalität zu-meist kritisch-distanziert, gerade was die Formen des Protests angeht (vgl. Koenen 2001; Wesel 2002; Gester/Hajek 2000; Busche 2003). Diese Distanz in den Sozialwissenschaften wird von ehemaligen Protagonisten der Bewegung vielfach geteilt. Gegen diese Sichtweise wendet sich der vorliegende Beitrag. Im Folgenden sollen jene Merk-male, vor allem des „Provo“-Aktivismus, im Mittelpunkt stehen, die eine positivere Bewertung dieser Protestform zulassen. Es soll gezeigt werden, wie wichtig diese Formen des Aktivismus damals waren, um alte, überholte Grenzen der Öffentlichkeit zu verschieben, die Politik für eine nachhaltige Demokratisierung der Bundesrepublik zu öffnen und am Ende sogar eine Transformation des hergebrachten Verständnisses von Politik und Demokratie zu ermöglichen.

Frühformen des Provo-Aktivismus

Die Entstehungsgeschichte des „Provo“-Aktivismus wurde schon mehrfach untersucht (Langguth 1976; Albrecht 1994; Mosler 1977; Böckelmann 2002; Miermeister/Staadt 1980). Meist setzt die Geschichtsschreibung, bezogen auf die Bundesrepublik, bei der Münchner Spur-Gruppe an, die in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zuerst die Idee der Provokation in die Praxis umsetzte. Die Spur-Mitglieder beriefen sich ihrerseits auf die Dadaisten und Surrealisten, auf die französischen Situationisten und Existentialisten, auf holländische und italienische „Provo“-Aktivisten, auf den provokativen Humor des Kabaretts und ähnliche Formen der Performance-Politik. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre inspirierten dann auch amerikanische Yippies (Anhänger der 1968 entstandenen Youth International Party, die Politik und „persönliche Befreiung” verbinden wollten) oder Guerilleros aus Lateinamerika die deutschen Aktivisten. Gegen Mitte des Jahrzehnts schloss sich Spur-Mitglied Dieter Kunzelmann der Gruppe Subversive Aktian (später Gruppe Viva Maria), der u.a. Dagmar Seehuber, Rudi Dutschke, Bernd Rabehl angehörten, an. Diese Gruppe übte ihrerseits auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) an der Freien Universität in Berlin einen starken Einfluss aus. In Frankfurt übernahmen die SDS-Führer Hans-Jürgen Krahl und K.D. Wolff „Provo“-Formen in ihr Protest-Repertoire, später begleitet von Daniel Cohn-Bendit. Viele Frankfurter Aktivisten sahen in „Provo“-Aktionen den besten Weg, die anti-autoritären und befreienden Ziele zu verwirklichen, die von den Theoretikern der Frankfurter Schule diskutiert worden waren. Vor allem die Kommune 1 in Berlin und später die Gruppe Revolutionärer Kampf in Frankfurt wurden mit „Provo“-Politik assoziiert, auch wenn es sehr viel mehr Gruppierungen dieser Art gab. Es gehörte nicht viel dazu, um als Anhänger eines „provokativen” Protestmilieus wahrgenommen zu werden: So genügte bei Männern schon das Tragen langer Haare oder Gitarrenspiel im öffentlichem Raum, um der Störung der öffentlichen Ordnung bezichtigt zu werden (Reinders/Fritsch 1995; Kätzel 2002; Cohn-Bendit 1975).
Die Aktivisten entwickelten während der 1960er und 1970er Jahren eine bemerkenswerte Formenvielfalt. Zu nennen ist zunächst die „literarische” Produktion: Die kaum zu überblickende Fülle an Zeitungen (beispielsweise Extra-Blatt, Oberbaumblatt und Agit 883, Pflasterstrand und discus, Frauen auf die Barrikaden, UKZ, S036 und Autonomie) gehörten dazu, aber auch die allgegenwärtigen Flugblätter und Transparente, Graffitis, Buttons und Aufkleber. Daneben spielte auch das gesprochene Wort eine zentrale Rolle: bei Happenings und in der Vielzahl politischer Theater. Kombiniert wurde dies mit anderen Protestformen. Für diese standen Begriffe wie direkte Aktion und demonstrative Aktion (Koopmans 1995; Balistier 1996; Pross 1992). Körper, die an Orten saßen oder standen, wo sie normalerweise nicht hätten sein sollen, waren Provokation; umgesetzt in unzähligen Sit-ins, Go-ins, Teach-ins – und Love-ins, Smoke-ins, Die-ins und ein Verwechslung-Go-Out. Kunsthappenings waren ebenfalls eine bedeutende Form der Provokation, von scheinbar simplen Karikaturen bis zu hochkomplexen Fotomontagen; man denke beispielsweise an die Werke von Wolf Vostell, Klaus Staeck, Dieter Kunzelmann, Elke Begehr und Sarah Haffner. Filmemacherinnen wie Rosa von Praunheim, Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder und auch Holger Meins verwendeten „Provo“-Techniken.

Kritik und Erfolg von Provokationen

Die „Provo“-Politik wird in neueren Studien vor allem aufgrund ihrer Verknüpfung mit gewalttätigem Aktivismus kritisiert, der für die Verengung von an sich produktiven politischen Diskussionen in der Bundesrepublik zumindest mitverantwortlich gemacht werden kann (vgl. Fels 1998). Tatsächlich betont ein ehemaliger SDS-Aktivist an der FU-Berlin, provokative Aktionen wären nicht mit der Absicht erfolgt, das westdeutsche Publikum aufzuklären: „Denn es ging auch nicht darum, die zu überzeugen, sondern es ging einfach darum, die zu ärgern.” (Interview Nr. 9, 7/02).‘ Ein anderer ehemaliger prominenter SDSIer und „Provo“-An%ihrer in Frankfurt/Main meint im Rückblick, solche „IVadelstichaktionen” hätten notwendigerweise zum Terrorismus der RAF gefiihrt. Die Aktionen seien demnach gewiss kein Weg zur Demokratisierung und zu einer offeneren Kommunikation gewesen (Interview Nr. 1, 7/02). Trotzdem kann man argumentieren, dass diese Aktionen ohne Wirkung geblieben wären, hätten sie sich nicht auch darum bemüht, die Kommunikation zu öffnen, zu den Grenzen der vorgegebenen öffentlichen Sphäre vorzudringen und dabei neue Möglichkeiten für demokratische Willensbekundungen innerhalb der bestehenden politischen Grenzen zu erschließen. In der Konsequenz ergab sich so eine eigentümliche Dialektik: Die Protestaktionen führten zu positiven Effekten, auch wenn diese Aktionen oft nicht ihrem Inhalt oder den formulierten Absichten der Beteiligten entsprachen. Daniel Cohn-Bendit schrieb schon 1988 über die Möglichkeiten, die für die Aktivisten im provokativen Protest steckten: „Zum einen brachte er ihnen die langersehnte Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, wenn auch überwiegend negativ […]; zum anderen entdeckten sie selbst neue Möglichkeiten […] (Cohn-Bendit/Mohr 1988: 36). Rudi Dutschke meinte, „eine Ebene von aufklärenden Gegensignalen durch sinnlich manifeste Aktionen produzieren können”, um den „langen Marsch” fortzuführen – in Kontrast zu traditionellen Formen der politischen Auseinandersetzung. Dabei fände die Aktion zwar innerhalb der gegebenen Kanäle statt, aber die existierenden Grenzen sollten zukünftig durch Provokation überwunden wer-den (Dutschke 1980). Und die Herausgeber von Agil 883 sahen ihre Arbeit als einen „praktischen Beitrag zu einer Gegenöffentlichkeit” (13. März 1969).
Die Erfolge der „Provo“-Aktionen beruhten auf zwei Grundlagen: erstens auf der Fähigkeit einer kleinen Anzahl früher Machtloser, eine spezielle Botschaft machtvoll durch-zusetzen, und zweitens darauf, gerade durch die Reichweite der Kommunikation über die spezifischen Ziele der Aktion hinaus wirksam zu werden. Für Peter Handke bestand die Wirkung solcher Aktionen darin, in der Brecht’schen Tradition auf neue Weise zu denken, „bis auch die Wirklichkeit ein einziger Spielraum geworden ist.” (zit. n. Protest 2000: 197) Peter Brückner hat schon 1966 die „Nutzbarkeit provokativer Aufklärung” beschrieben (Brückner 1973). Als die Kommune I in einer der bekanntesten „Provo“-Aktionen ein Flugblatt verteilte, das mit dem Ausruf Burn, warehouse, burn! endete, beklagten einige Aktivisten, dass viele Leute, die das Flugblatt und vor allem die Berichterstattung der Bild-Zeitung darüber lesen würden, meinen könnten, es wolle die Westdeutschen dazu aufrufen, die Kaufhäuser wirklich in Brand zu stecken. Gleichwohl ließe sich mit guten Gründen argumentieren, dass dieses – durchaus vorhandene – Risiko lohnte, um die Deutschen aus ihrem selbstgefälligen Konsumdunst aufzurütteln und sie auf die Gewalt in Vietnam aufmerksam zu machen. Die Leser wurden gerade durch die emotionale Sprache und die dazugehörige Ironie stark angesprochen. Das Flugblatt war deshalb so schwer zu ignorieren — und wurde deshalb so berühmt. Auch wenn der Text bei den Westdeutschen nicht unmittelbar eine breite Aufmerksamkeit und Empathie mit dem Los der nordvietnamesischen Bauern erweckte, erzeugte diese Art der Emotionalisierung bei vielen Westdeutschen eine Betroffenheit, die mit konventionellen Mitteln kaum ausgelöst worden wäre.
Trotz der offiziellen Kommentare und der schreienden Schlagzeilen der Springer-Presse, die ein tiefes Zerwürfnis einer „kleiner Minderheit” mit dem Rest der westdeutschen Gesellschaft zu belegen schienen: Die Protestaktionen wurden oftmals auch von Unbeteiligten positiv aufgenommen. Annette Schwarzenau berichtete zuletzt in Ute
Kätzels Buch Die 68erinnen vom legendären „Kinderkackeattentat”: Zornige Mitglieder des Zentralrats des Berliner Kinderläden stürmten 1969 aus Protest gegen den Bericht über Kinderläden in der Illustrierten Stern das Berliner Pressehaus. Sie schmierten die Kackwindeln der Kinder auf die Wände. Damit sollte sowohl Wut demonstriert als auch die Aufmerksamkeit des Chefredakteurs erregt werden. In diesem Fall – wie in vielen anderen, weniger spektakulären – war die Aktion relativ erfolgreich. Es hinderte den Stern zwar nicht daran, weiterhin Sensationsberichte über die „Neue Linke” zu veröffentlichen. Letztlich erwies es sich jedoch als ein wichtiger Kommunikationsakt – was in der Absicht der Aktivisten gelegen hatte. Eine ganz ähnliche mediale Wirkung hatten die zahlreichen Hausbesetzungen der 1970er und frühen 1980er Jahre: Die Öffentlichkeit wurde auf die Wohnungsnot in Frankfurt, Berlin, Hannover und anderen Städten aufmerksam gemacht; die vielfach erweckte Sympathie führte anschließend oft zu den erwünschten gesetzlichen Maßnahmen (Rucht 2001; Koopmans 1995; Karapin 1993). „Es gab da immer sehr viel Unterstützung, gerade für die Hausbesetzer-Bewegung, so von allen”, stellte eine ehemalige Hausbesetzerin in Berlin-Schöneberg rückblickend fest (Interview Nr. 8, 7/2002). Den Aktivisten gelang es trotz der üblichen vereinfachten medialen Gegenüberstellung von „Studenten” und „Arbeitern”, „Kleinbürgern”, „alten Leuten” usw., größere Kreise der Bevölkerung von der Richtigkeit ihrer Anliegen zu überzeugen – oder zumindest von ihrem Anspruch, im öffentlichen Raum gehört zu werden.

Befreiung durch Aktion und schlechtes Benehmen

Die neuen Protestformen waren für die Aktivisten nicht nur wegen ihrer größeren Wirkung wichtig. Sie waren für die Protestpraktiker der westlichen Welt auch persönlich und politisch befriedigend. Westdeutschland war da keine Ausnahme. Die „Provo“-Aktionen linderten das weitverbreitete Gefühl, nicht gehört zu werden: Bilder von jungen Leuten mit zugenähten oder mit Reißverschluss versehenen Lippen (vorzugsweise von Frauen) schrien dieses Gefühl paradoxerweise lauthals hinaus. Mehr noch: Die endlosen Theoriedebatten gaben vielen überdrüssigen Aktivisten das Gefühl, in ein langwieriges oder nutzloses Spiel verwickelt zu sein. Diese Aktivisten verlangten da-nach, etwas zu tun, „[…] nicht diese theoretischen Dinger, sondern etwas Praktisches unternehmen”, wie eine Aktivistin bekannte (zit. n.

Kätzel 2002: 42). Wiederum war die Form mindestens so wichtig wie der Inhalt. Dieses Erlebnis der Ermächtigung durch die Aktion, das Gefühl, sich mit ihrer Hilfe ebenso Gehör zu verschaffen wie die politische Elite, gehört zu den politischen Errungenschaften dieser Zeit – wichtiger als viele der damals postulierten theoretischen Ziele des Protests. Solcherart befreiende Macht erfuhren die Aktivisten auch beim „Sich schlecht benehmen”: Das war eine Form des zivilen Ungehorsams, verstanden als eine legitime Interpretation der gegebenen politischen Rechte. Beispielhaft dafür stehen die bekannten Handzettel von 1967 mit der Überschrift „Organisieren wir den Ungehorsam gegen die Nazi-Generation” (Miermeister/
Staadt 1980: 54) oder Peter Schneiders „Wir haben Fehler gemacht“-Rede im Mai 1967 vor der Vollversammlung der Fakultäten der FU Berlin: „[…] wir legen ein volles Geständnis ab: Wir sind nachgiebig gewesen, wir sind anpassungsfähig gewesen, wir sind nicht radikal gewesen”, meinte Schneider (Schneider 1970: 7). Solche Aktionen gaben den Aktivisten das Gefühl, überhaupt irgendeine Änderungen herbeizuführen (Brückner 1983; Baier 1988; Schütte 1980). Dieses Gefühl allein – damals oft als „voluntaristisch” abgelehnt oder sogar als „faschistischer” Versuch angeprangert, anderen etwas aufzuzwingen – wäre tatsächlich ohne seinen emanzipatorischen Ideenhaushalt negativ zu bewerten. Es entstand ein dialektisches Paradoxon: Solche Aktionen bewirkten Änderungen innerhalb des Systems, obwohl sie dessen revolutionäre Transformation an-strebten. Es waren radikale Formen, die gleichzeitig an das existierende System angepasst waren. Sie ermächtigten jene, die sich selbst als entmündigt wahrnahmen. Dies waren durchaus befreiende Konsequenzen für viele Tausende in dieser Generation (Brückner 1983; Baier 1984; Davis 2003).
Der neue Zugang zur politischen Sphäre durch provokative Strategien bedeutete weiterhin, dass die Politik aufhörte, ein exklusives Privileg nicht nur der „Politiker”, sondern auch der APO-Anführer zu sein: Jeder konnte solche Taktiken übernehmen, was sich dann auch in heftigen internen Kämpfen bemerkbar machte.
Die „Provo“-Politik verlangte keine großen Teilnehmerzahlen und ermöglichte so-gar den Dissens von wenigen und/oder der weniger Mächtigen. Provokative Aktionen gaben auch innerhalb der Neuen Linken Minderheiten eine Stimme: An frühe Aktionen der Kommune I gegen SDS und AStA an der FU erinnert etwa die Broschüre Studenten, Lahmärsche! (Miermeister/Staadt 1980: 11) und die Aktion der neuen Kommune-Gruppe, die, mit Mao-Plakaten und „Fachidioten“-Flugblättern in der Hand, eine Diskussion des FU-AStA mit Rektor Lieber über Studienreformen gestört hatte (ebd.: 19-20). Man denke auch an den spontanen Tomatenwurf von Sigrid Rüger auf Hans-Jürgen Krahl bei der SDS-Bundeskonferenz 1968 in Frankfurt/Main und an den „Rechenschaftsbericht” der SDS-Frauen Schwanz ab!, in der Mitgliederinnen ironisch forderten, die „sozialistischen Eminenzen” von ihren „bürgerlichen Schwänzen” zu befreien. Auch die satirischen Anklagen und Gegenanklagen von Gruppen und Personen im Pflasterstrand, Agit 883, Autonomie, Linkeck, usw. zählen dazu. Solche Aktionen hinderten Vertreter mancher Organisationen daran, einen dogmatischen Kurs zu verfolgen bzw. einer verknöcherten Institutionalisierung zu verfallen. Sie trugen ebenfalls dazu bei, den Kult um manche Anführer der Bewegung zu relativieren; erinnert sei an das verwelkte Abendmahlsbild mit den „Aposteln” Dutschke, Gaston Salvatore, Christian Semler, Hans-Jürgen Krahl und anderen Revoluzzern, versammelt um einen Jesus gleichenden Che. Zwar erzeugten die Star-Qualitäten führender Aktivisten bei manchen eine emotionale Bindung, durch die sie in die Politik hineingezogen wurden. Andererseits wurde durch ironische Kommentierung des Personenkults der anti-autoritäre Charakter der Bewegung gestärkt.
Diese Beispiele belegen recht gut, dass Absichten und vor allem Wirkungen der Protestpraktiker eher als „kommunikativ” und weniger als destruktiv oder respektlos gekennzeichnet werden müssen. Provokative Aktionen konnten zwar Diskussionen auch
frühzeitig und abrupt beenden, trotzdem trugen sie, so meine These angesichts der breiten Skala solcher Aktionen, sehr viel häufiger dazu bei, Debatten zu öffnen oder gar erst zu ermöglichen.

Protesterfolge – Kommunikationserfolge

Die „Provo“-Politikformen waren verblüffend effektiv, wenn es darum ging, die westdeutsche Öffentlichkeit auf die Vielfalt der Positionen innerhalb der APO aufmerksam zu machen. Zudem regten sie innerhalb nur weniger Jahre Hunderttausende Bürger auf unterschiedlichen Ebenen dazu an, politisch aktiv zu werden. Damit bewirkten sie einen gewaltigen Aufbruch aus einer bis dato passiven politischen Kultur. Gerd Koenen hat auf die kleine Anzahl der APO-Aktivisten vor 1968 verwiesen und sie der großen Zahl der Aktivisten seit den 1970er Jahren gegenübergestellt; die wenigen Protestler von 1968 hätten, nicht ganz gerechtfertigt, den ganzen Ruhm geerntet. Gerade das spricht jedoch für den Erfolg der politischen Strategien der frühen Aktivisten und für ihre neuen politischen Ausdrucksformen: Sie waren erstens in der Lage, große Aufmerksamkeit auf wenige Aktivisten und deren Botschaften zu lenken. Zweitens wurden ihre Anliegen so stark rezipiert, dass in späteren Jahren viele ihrem Beispiel folgten. Viele der neu hinzustoßenden Aktivisten haben die Bedeutung von Emotionen und des Spielerischen als Erklärung für ihre Hinwendung zum politischen Aktivismus betont, was nicht unbedingt einer herkömmlichen, eher vernunftzentrierten Auffassung von Politik entspricht. Hunderte von Briefen an Mitglieder von Kommune 1 und 2, an Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit und andere offenbaren zwar oftmals falsche Vorstellungen vom neuen, selbstbestimmten Leben als politische Aktivisten, doch zugleich zeigen sie trotz bemerkenswerter Unterschiede hinsichtlich Alter, Wohnort und sozialer Herkunft der Schreibenden, wie stark fast alle in ihren Aktionen von den „großen Vorbildern” inspiriert worden seien (vgl. entsprechende Akten beim Hamburger Institut für Sozialforschung).
Mehrere 68erinnen berichten, dass sie in die Politik durch die aufregenden und faszinierenden Vorbilder von Sigrid Fronius, Hannah Kröger, Sigrid Rüger und andere kamen: Sie waren beeindruckt von deren wirkungsvollen provokativen Aktionen (Kätzel 2002; Wie weit 1999). So versammelten sich Tausende zur Unterstützung der Hausbesetzer in Frankfurt und Berlin; als virtuelle „Pilgerschaften” beschrieb es eine Hausbesetzerin im 1970er-Jahre-Frankfurt (Interview Nr. 5, 7/02; vgl. Interview Nr. 9, 7/02; Kraushaar 2001). Die Wirkung, die von bestimmten Personen ausging, ist in manchen Fällen geradezu alarmierend. Einige der damaligen Aktivisten beschuldigten die Medien, „Stars” zu kreieren, und das trotz scheinbar dafür nicht gerade kompatibler Persönlichkeitsmerkmale: Frank Böckelmann wunderte sich z.B., wie eine so langatmig, abstrakt und pedantisch sprechende Figur wie Rudi Dutschke zum Promi werden konnte (Cohn-Bendit/Mohr 1988: 44). Die Anziehungskraft, die von einigen prominenten Aktivisten ausging, basierte zum großen Teil auf ihrer Rolle als „Lebenskünstler”: Sie schienen allen gesellschaftlichen Hemmnissen zum Trotz sich zu dem zu machen, was sie sein wollten; sie verkörperten ein scheinbar authentisches, gänzlich unangepasstes Leben, das vielen als Ziel vor Augen schwebte. Sie gestalteten ihr eigenes Dasein neu als Teil eines politischen Projekts – das machte sie attraktiv und zu Vorbildern (vgl. Protest 2000; Interview Nr. 8, 7/2002).

Die Emotionalisierung des Protests

Diese Romantisierung neuer politisch-privater Existenzformen verweist auf einen anderen Faktor, der erst allmählich von der Forschung erkannt wird: die Bedeutung von Fantasie, Imagination, Lust und anderen starken Emotionen, auf die sich die Aktivisten einließen. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung waren die 68er eine außerordentlich heterogene Gruppe. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten von vielen war allerdings ihre Herkunft: Zumeist stammten sie nicht aus wohlhabenden Familien, sondern waren eher Leute mit einem nicht ganz einfachen sozialen, recht „unromantischen” Hintergrund. Die „Provo“-Politik – samt Rock-Musik, sexueller Revolution, Filmen wie Viva Maria, das Szene-Leben im Allgemeinen, ein Gefühl, mit der ganzen Welt verbunden zu sein – bewirkte ei-ne Ausstrahlung, die diesen Aktivisten Wirkung und Stimme verlieh. Das machte es „wunderschön”, auf das Berliner Amerika-Haus Eier zu schmeißen (Susanne Schunter-Kleemann, zit. n. Kätze12002: 108). Eine 1985 von Daniel Cohn-Bendit produzierte französische Fernseh-Dokumentation machte die Stärke dieser Emotion in den unterschiedlichen nationalen Bewegungen zum Titel: Wir haben sie so geliebt – die Revolution (Cohn-Bendit 1987). Die Zeitschrift Autonomie zitierte die Bemerkung Jerry Rubins, Mitgründer der Yuppies, es hätte mehr „Spaß” gemacht, die Revolution zu praktizieren als zuzuschauen (Autonomie 4/1977). Die Kulturprodukte jener Zeit sind durchzogen von einer emotionalen Sprache und zugleich mit der Diskussion über diese Emotionen beschäftigt: „Lustigkeit”, „Gaudi”, Aufregung, das Gefühl, an etwas beteiligt zu sein sowie ein immer wiederkehrendes tiefes Kommunikationsbedürfnis, das Verlangen gehört, verstanden und an-erkannt zu werden – auf all das stößt man immer wieder. „Provo“-Aktionen trugen dazu bei, diese Bedürfnisse zu erfüllen; sie als politisch irrelevant oder vorwiegend gefährlich zu kennzeichnen, wäre eine unzulässige Verengung.
Dies soll gleichwohl keine „Siegergeschichte” sein, so als ob heute die Ziele von damals erreicht worden seien. Zudem sollen die negativen Neben- und Begleiteffekte der „Provo“-Politik durch bestimmte Praktiken, wie z.B. offensiver physischer Gewalt, destruktiver Provokation als Selbstzweck, nicht kleingeredet werden. „Positive Provo-Politik” und physische Gewalt sind manchmal schwer voneinander zu trennen. Viele interviewte Zeitzeugen haben z.B. damals nicht zwischen der „Gewalt gegen Sachen” und der „Gewalt gegen Menschen” unterscheiden wollen, denn eine Stimme könne in Verbindung mit dem geworfenen Stein „lauter” werden. Andere wiederum entwickelten durchaus ein Sensorium für die Risiken dieser Politikformen. „Provo“-Politik kann je-doch letztlich nicht ausschließlich aufgrund ihres Missbrauchs bewertet werden, wie auch immer wir diesen definieren wollen; ebenso wenig aufgrund ihrer spezifischen In-halte. In diesem Beitrag standen funktionale Aspekte im Vordergrund: Die demokratisierenden Potenziale dieser Politikform sollten betont werden.
Sibylla Flügge und andere haben die Grenzen des Wandels, den die Politik der 68er bewirkt hat, beschrieben (vgl. Flügge 2002). Die volle Bedeutung dieser Öffnung der politischen Formen für die deutsche Gesellschaft ist jedoch vielleicht am besten von außen zu erkennen. In den Vereinigten Staaten gilt Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts als ein schmutziges Wort, konnotiert mit vielerlei Machenschaften von Politikern. Für die große Mehrheit der Amerikaner ist die demokratische Aktion auf die Wahl beschränkt – oder auch auf die Entscheidung, nicht zu wählen. Ähnliches kann man zwar auch in Deutschland beobachten. Gleichwohl gilt: Wenn amerikanische Aktivisten früher für die westdeutsche APO eine wichtige Quelle der Inspiration waren, könnte nun-mehr umgekehrt die deutsche Protestkultur in ihrer gegenwärtig vergleichsweise aktiven Form als Modell für andere Länder gelten. Und auch wenn sie damals nur eine winzige Fraktion innerhalb der Linken ausmachten (vgl. Langguth 1976): Innerhalb Deutschlands lebt am stärksten das Erbe dieser undogmatischen Aktivisten aus den 1970er Jahren weiter – aktivierbar immer dann, wenn es um eine Politik außerhalb des Mainstream geht.

0 Übersetzt von Christophe Kotanyi. Ich danke Wilfried Mausbach fiir seinen hilfreichen Kommentar.

1 Die in diesem Beitrag zitierten Interviews sind Bestandteil meiner laufenden Forschung und wurden im Juli 2002 geführt. Die Interviewten sind zum einen ehemalige SDS-Führer sowie andere Führungspersönlichkeiten der Bewegung; zum anderen gehören vor allem typische, „normale” Aktivisten aus der Zeit zwischen Mitte der 1960er Jahre und den frühen 1980er Jahren dazu.

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