Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Editorial

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 1-3

Eine Demonstration, so könnte man frei nach Gertrude Stein behaupten, ist eine Demonstration ist eine Demonstration: Menschen, die für bestimmte Anliegen auf die Straße gehen, Fahnen hochhalten und Transparente schwenken. In den letzten Jahren werden die traditionellen Protestformen allerdings kräftig aufgemischt: Aktivisten schicken ihr „letztes Hemd” ins Kanzleramt, Bürgermeister steigen nackt in Schwimmbäder, massenhaft versandte E-Mails legen die Server von Regierungszentralen lahm und auch die Demonstration als solche wandelt ihr Gesicht: Phänomene wie Tute Bianche und Pink&Silver beweisen, dass Demonstrationen nicht länger mehr oder minder disziplinierte Manifestationen politischer Überzeugungen sein müssen, sondern auch Foren für individuelle Selbstdarstellung und -verwirklichung, für innere Befreiungsakte und intensive Gemeinschaftsgefühle sein können. Pink & Silver wurde erstmals bei den Demonstrationen in Prag anlässlich des IWF-Gipfels und beim G8-Gipfel in Genua im Sommer 2001 praktiziert und will, so die Aktivisten, „mehr Pep und Power in langweilige Latschdemonstrationen bringen”. Dafür wurde die Choreografie jener vorwiegend leicht bekleideten Damen kopiert, die sonst am Rand amerikanischer Baseballplätze Federboas schwenken: Die Aktivistinnen und Aktivisten üben Schritte, Lieder und Slogans ein und tanzen damit durch Straßen, Kaufhäuser, Bürogebäude und Amtsstuben. Ein so genannter „Mega-Puschel” ersetzt die traditionellen Fahnen und Transparente. Tute Bianche dagegen stammt aus den sozialen Zentren in Norditalien. Diese Aktionsform ließe sich als ziviler Ungehorsam mit eingebauter Selbstschutzkomponente umschreiben: Gepolsterte Overalls, Helme, Arm- und Schienbeinschützer, Handschuhe, Gasmasken und Schutzbrillen gehören zur Grundausstattung der Aktivisten. Ziel dieser Batman-mäßigen Ausrüstung ist es, „Angst zu lindern, die physischen Schäden zu lindern und die Gruppe kompakt zu halten”, wie Luca Casarini, der Sprecher der Tute Bianche schreibt.
Protest im Wandel: Dieses Heft der vorgänge will ihn nachzeichnen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem politischen Protest in der Bundesrepublik und seiner Reflexion durch eine zunehmend gut ausgebaute Wissenschaft. Deren Ursprünge liegen ganz nahe bei ihrem Gegenstand, die Professionalisierung des Protests hat auch eine Professionalisierung der Protestforschung bewirkt: Die Protestforschung trat Mitte der 1980er ans Licht der akademischen Öffentlichkeit und thematisierte erstmalig die neuen sozialen Bewegungen (NSB) der zweiten Hälfte der 1970er und der ersten Hälfte der 1980er Jahre, also vor allem Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung. Zwei Daten markieren das prägende Jahrzehnt der NSB: die erste Bauplatzbesetzung eines AKW in Wyhl/Kaiserstuhl im Jahre 1975 und der Kampf um Wackersdorf 1986. Doch wo stehen die neuen sozialen Bewegungen heute, welchen Stellenwert hat politischer Protest in der Bundesrepublik?
Unsere Autorinnen und Autoren versuchen sich an einer Antwort: Dieter Ruckt nimmt den Wandel politischen Protests in der Bundesrepublik in den Blick. Von der Ausnahmeerscheinung zum alltäglichen Phänomen, vom Protest gegen das System zum Protest im System — so ließen sich seine zentralen Thesen zusammenfassen. Ansgar Klein schildert die Wege und Irrwege der Protestforschung und zeigt auf, mit welchen anderen akademischen Disziplinen diese kooperieren muss, um ihren Gegenstand an-gemessen bearbeiten zu können. Holger Nehring nähert sich dem Protest aus vergleichender Perspektive: Er zeigt auf, dass die Anti-Atom-Bewegungen der 1950er Jahre in Deutschland und Großbritannien nur scheinbar identische Bewegungen waren, während letztlich nationale Traditionen für ihre Identität konstitutiv waren. Stefan Hemler verknüpft die zwei dominierenden Deutungen in der Forschung über „1968” – entweder generationeller Protest oder soziale Bewegung — zu einem beide Stränge umfassenden Neuansatz. Eine positive Würdigung der in den letzten Jahren oft kritisierten 68er-Proteste unternimmt Belinda Davis: Sie untersucht das kreative Potenzial der damaligen Proteste und Tabubrüche und deren Einfluss auf die politische Kultur der Bundesrepublik. Jens Ivo Engels schlägt neue theoretische Kategorien vor, um Protestbewegungen genauer analysieren zu können: Am Beispiel des Umweltprotests in der Bundesrepublik verweist er auf die Bedeutung des Verhaltensstils für die jeweiligen Ausprägungen und die Durchsetzungskraft sozialer Bewegungen. Was die 68er in Deutschland von allen anderen Protestbewegungen unterscheidet, ruft Albrecht von Lucke ins Gedächtnis: Es ist die Macht der NS-Vergangenheit, die konstitutiv für diese Generation wurde und es bis heute ist. Der Erfolg von attac wurde vor allem durch eine professionelle Medienarbeit möglich; deren Wirkung untersucht Felix Kolb. Carolin Welzel analysiert die Transformation des Protests in die virtuelle Welt des Internet und fragt, ob neue soziale Bewegungen künftig noch als sozial bezeichnet werden können. Welche (un)sichtbaren Verbindungslinien zwischen Protest und Theater, zwischen Demonstrationen auf der Bühne und auf der Straße existieren, durchleuchten Christian Hippe und Patrick Ramponi an den Beispielen von Bertolt Brecht und Peter Weiss. Der Literaturbericht rundet wie immer den Thementeil ab.
Der Essay von Heinz Bude in diesem Heft begibt sich in das Getümmel der gegenwärtigen Sozialstaatsdebatten: Der Kasseler Soziologe zeigt, woher die unterschiedlichen Positionen zum Sozialstaat stammen, die man in den verschiedenen westdeutschen Nachkriegsgenerationen bis heute erkennen kann. Er zeigt auf, wie die Aufgaben des Sozialstaats künftig definiert werden können, ohne dass er seine Legitimität verliert. In den Kommentaren und Kolumnen diskutiert Michael Opielka, ob ein neuer Pflichtendiskurs gemeinschaftsfördernd wirken könnte. Norbert Reichling beschreibt einen vergessenen Gedenktag in der Geschichte der Judenverfolgung. Neue Gedichte von Tomas Kafka und Jörg Bernig zeigen, dass zumindest Europas Lyriker nach wie vor an der Einheit des Kontinents festhalten. Matthias Zimmer rezensiert die wesentlichen Neuerscheinungen im Adorno-Jahr.
Eine weit gehend protestfreie Lektüre wünschen
Thymian Bussemer und Alexander Lammann

nach oben