Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Fritz-­Bau­e­r-­Preis an Dieter Schenk

Dokumentation

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 134ff

vg. Mit Dieter Schenk erhielt am 16. Juli 2003 in Frankfurt am Main ein bedeutender Polizeikritiker den Bürgerrechtspreis der HuMANISTISCHEN UNION. Mit seinen Büchern leistet Schenk bereits seit vielen Jahren aktive Aufklärungsarbeit für Demokratie und Bürger-rechte. Seine kritische Auseinandersetzung insbesondere mit der braunen Vergangenheit des Bundeskriminalamtes, dem er bis 1989 an-gehörte, hat Dieter Schenk als Publizisten bekannt gemacht. Internationale Aufmerksamkeit und besondere Verdienste um die deutsch-polnischen Beziehungen erwarb er sich mit seiner „Danzig-Trilogie”, in der er – auf der Grundlage minutiöser Recherchearbeit in polnischen Archiven – NS-Verbrecher und ihre Taten darstellt. Zur Einführung sprach Ingeborg Rürup, stellvertretende Bundesvorsitzen-de der HU, die Laudatio hielt Witold Kulesza, stellvertretender Generalstaatsanwalt Polens.
Begrüßung durch Ingeborg Rürup
Im Namen der HUMANISTISCHEN UNION möchte ich Sie herzlich willkommen heißen zur Fei-er der Verleihung des Fritz Bauer Preises an Dieter Schenk, heute am 16. Juli 2003, dem 100. Geburtstag von Fritz Bauer. Besonders begrüßen möchte ich den Direktor des Fritz
Bauer Instituts, Professor Micha Brumlik, und Frau Dr. Irmtrud Wojak, bei denen ich mich für die gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung an dieser Stelle herzlich bedanken möchte.
Heute vor 34 Jahren wurde hier – in Frankfurt – dieser Preis zum ersten Mal verliehen, so wie es der Bundesvorstand in seiner ersten Sitzung nach dem plötzlichen Tod ihres Gründungsmitgliedes und langjährigen Vorstandsmitgliedes Fritz Bauer am 20. Juli 1968 in München beschlossen hatte. Der Beschluss hatte folgenden Wortlaut: „Zum Gedenken an ihr Gründungs- und Vorstandsmitglied Dr. Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen von 1956 bis 1968, stiftet die HUMANISTISCHE UNION einen Preis für besondere Verdienste um die Demokratisierung, Liberalisierung und Humanisierung der Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Preis wird alljährlich an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die sich im Sinne der Überzeugungen Fritz Bauers und der Bestrebungen der HUMANISTISCHEN UNION in allgemeiner Weise oder auf einem besonderen Gebiet darum bemüht haben, der Gerechtigkeit und Menschlichkeit in unserer Gesetzgebung Rechtsprechung und im Strafvollzug Geltung zu verschaffen.”
Rund 25 mal hat die HU seither diesen Preis verliehen, bis zum Jahr 2000 an 10 Frauen und 15 Männer. Dieter Schenk wäre heute der 26. Preisträger, wenn nicht die HU im Jahr 2001 gleich 28 Personen ausgezeichnet hätte, Menschen, die es gewagt hatten, Soldaten angesichts des Kosovo-Krieges öffentlich zur Desertion aufzurufen und dafür persönliche Nachteile, drohende Gerichtsverfahren und ei-ne mögliche Verurteilung in Kauf zu nehmen. Sie haben also Gebrauch gemacht vom „Widerstandsrecht des kleinen Mannes”, wie es von Fritz Bauer 1962 in einem seiner großen Aufsätze zum Widerstandsrecht gegen die damals herrschende Lehre, die eher an einer Einschränkung des Widerstandsrechtes orientiert war, überzeugend vertreten hat. Ich glaube, die Auswahl dieser Preisträger hätte Fritz Bauer gefallen.
Der letzte veröffentlichte Text von Fritz Bauer ist dem Thema Widerstand gewidmet: es war ein Vortrag, den er auf Einladung der HUMANISTISCHEN UNION neun Tage vor seinem Tod in der Universität München gehalten hat. Er trug den Titel „Ungehorsam und Wider-stand in Geschichte und Gegenwart”, und ist – wie zahlreiche andere Aufsätze Bauers – 1968 in den vorgängen erschienen. Ich möchte hier gerne einigen Sätze aus dem Schlussabsatz dieses Aufsatzes zitieren, weil er für mich das Anliegen Fritz Bauers und der HUMANISTISCHEN UNION gleichermaßen verdeutlicht. Fritz Bauer schreibt: „Widerstand ist notwendig im Unrechtsstaat. Er braucht auch nicht erst zu beginnen, wenn der Unrechtsstaat etabliert ist – pincipiis obsta! Die Bundesrepublik ist kein Unrechtsstaat. Aber Unrecht gibt es hier und anderwärts, und die Würde des Menschen ist überall in Gefahr, im Namen der Staatsräson verkürzt zu werden.
Das Widerstandsrecht eskaliert mit wachsendem staatlichen Unrecht. Deswegen ist die Widerstandsidee zu keiner Zeit und in keinem Staat überholt, mag sie sich auch im Alltag auf den gerichtlichen Kampf ums Recht, auf Kritik und Opposition, auf Demonstration, auf die im Grundgesetz und in anderen Normen festgelegten Bahnen einer freien Bewusstseinsbildung beschränken. Mann kann zwischen einem totalen Widerstandsrecht und einer Widerstandspflicht im Unrechtsstaat und einem kleinen Widerstandsrecht im Rechtsstaat unter-scheiden. Auch dies partielle, dieses ,kleine Widerstandsrecht‘, das wir heute besitzen, stellt uns Aufgaben genug.”
Diesen Aufgaben und Bauers „Aufforderung zum persönlichen Engagement” hat sich die HUMANISTISCHE UNION seit ihrer Gründung
verpflichtet gefühlt und dabei auch von Fritz Bauer gelernt, dass „Widerstand und Ungehorsam im Kampf um eine humane Welt” nicht nur „Schweiß, Tränen und Blut” bedeuten müssen, sondern auch dazu gut sind, wie es Bauer, seinen Lieblingsdichter Schiller zitierend, formuliert „um in der Brust des Menschen ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken und Beispiel dafür zu geben, was Menschen wagen dürfen für eine gute Sache.”
Ohne Zweifel hätte Fritz Bauer auch der Wahl der ersten Preisträgerin zugestimmt. Es war Dr. Helga Einsele, die damalige Leiterin der Frauenstrafanstalt Frankfurt-Preungesheim, einer von 13 Strafanstalten, die Fritz Bauer in Hessen unterstanden. Helga Einsele war eine Weggefährtin und Freundin Bauers auf dem Weg zu einer grundlegenden Reform des Strafvollzuges. Beiden, Fritz Bauer und Helga Einsele ging es jedoch letztlich nicht um einen „besseren Strafvollzug” sondern um etwas, das „besser ist als Strafvollzug”, um Maßnahmen, die – jenseits von Vergeltung und Repression – den Inhaftierten wieder in die Gesellschaft zu-rückführen, deren Normen er verletzt hat. Auch in diesem Ziel sind sich Fritz Bauer und die
HUMANISTISCHE UNION bis heute einig, gerade angesichts gegenläufiger Entwicklungen, u.a. im Jugendstrafrecht, die eher durch eine Rück-kehr zu einer überwunden geglaubten Strafmentalität geprägt sind. Die Feier zur Preisübergabe fand damals, am 16. Juli 1969, konsequenter Weise in der Kapelle des Preungesheimer Gefängnisses statt, etwa die Hälfte der etwa 100 Anwesenden waren inhaftierte Frauen.
Auch die weiteren Preisverleihungen der 70er Jahre standen in der Tradition und Verpflichtung des großen Themas der Reform des Strafrechtes und des Strafvollzuges im Sinne Fritz Bauers: Von Gustav Heinemann, der sich als Innenminister für eine echte Reform des deutschen Strafrechtes eingesetzt hatte (1970) bis zu Peggy Parnass, der Verfasserin aufklärerischer Gerichtreportagen (1980), von Birgita Wolf (1971) der großen Ombudsfrau der Straf-fälligen und Entlassenen bis zu Helmut Ostermeyer (1975), dem Jugendrichter in Bielefeld, der damals als „Therapeut in der Richterrobe” etikettiert wurde, […]
Obwohl es nach den oben aufgezählten Preisträgern so scheinen mag, war die HUMANISTISCHE UNION kein „Juristenverein”: Neben ihrem Gründer, dem Journalisten und Verleger Gerhard Szczesny gab es weitere Journalisten und Schriftsteller, Philosophen, Soziologen, Mediziner und Psychoanalytiker unter den ersten Vorständen. Die Vielfalt der Themen und Bereiche, in denen die HUMANISTISCHE UNION als Hüterin der Bürgerrechte sich in den folgen-den Jahrzehnten zu Wort meldete spiegelt sich u.a. auch in den Berufen (Journalisten, Pfarrer, Rechtsanwälte, Richter und Wissenschaftler), Aktivitäten und Verdiensten derjenigen Männer und Frauen, die in 80er und 90er Jahren ausgezeichnet wurden: Mit Ruth Leuze taucht zum ersten Mal das Thema Datenschutz auf (1982), für ihr Engagement für den Frieden wurden u.a. Erich Küchenhoff (1983), später Klaus und Hanne Vack (1996) geehrt. Um Minderheiten-rechte und Antidiskrimierungspolitik ging es bei der Verleihung des Fritz Bauer Preises an Rosi Wolf-Almanasreh (1985), Liselotte Funcke (1990) und die Verfassungsrichterin Helga Seibert (1999). Bei der Preisverleihung an Günter Grass (1997) und Regine Hildebrandt (2000) wurde ihr Engagement für soziale Menschen-rechte und Rechte von Asylsuchenden gewürdigt.
Als letzten in dieser Auswahl von Fritz-Bauer-Preisträgern möchte ich den ehemaligen Polizeipräsidenten Hans Lisken (1995), nennen,von dem wir und auch viele Polizisten gelernt haben, dass Polizei und Bürgerrechte kein Gegensatz sind, dass Kriminalitätsbekämpfung nicht die Aufgabe der Polizei, sondern die Aufgabe von Politik und Gesellschaft ist, und dass wir als Bürgerrechtler gut daran tun, die wach-senden Befugnisse der Polizei durch immer neue Polizeigesetze kritisch zu beobachten, zu kritisieren und im Namen des Rechtsstaates, dessen Schutz laut Lisken die eigentliche Aufgabe der Polizei ist, zu verhindern versuchen.
Auch unser heutiger Preisträger ist Polizist gewesen, zuletzt Kriminaldirektor im Bundeskriminalamt. 1989 ist er auf eigenen Wunsch vorzeitig aus dem Polizeidienst ausgeschieden. In seiner Zeit im Polizeidienst und später als Publizist hat er sich für die Aufarbeitung der personellen und institutionellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit im deutschen Polizeiapparat eingesetzt. Er hat sich engagiert für demokratische und rechtsstaatliche Strukturen in der Polizei und gegen Amtshilfe an Staaten, in denen Menschen- und Bürgerrechte verletzt werden.
Seit seinem Ausscheiden aus dem Polizei-dienst hat er etwa ein Dutzend Bücher geschrieben, Romane, Jugendbücher, Sachbücher und Drehbücher, Bücher, denen man fast allen das Motto seines ersten Romans „Der Durchläufer” voranstellen könnte: „Rechtsstaat, Menschlichkeit und polizeiliche Gewalt dürfen kein Widerspruch sein.”
Gustav Heinemann hatte, anlässlich seiner Preisverleihung 1970, als die HUMANISTISCHE UNION ihn um Ratschläge für ihre weitere Arbeit bat, in seiner lakonischen Art geantwortet: „Tommeln Sie!”
Trommeln in diesem Sinne kann man auf sehr unterschiedliche Weise: Man kann Flugblätter, Presseerklärungen und offene Briefe verfassen, Petitionen einreichen und Muster-klagen führen, Abgeordnete und Minister auf-suchen und gelegentlich öffentliche „happenings” Veranstalten.
Man kann aber eben auch Bücher schreiben, und Dieter Schenk hat es getan und damit die gleichen Anliegen „unters Volk” zu bringen
versucht wie die HUMANISTISCHE UNION auf ih-
re Weise. Ich habe aus Anlass des heutigen Tages einige von Dieter Schenks Büchern erstmalig, andere wieder gelesen, sowohl die „Trilogie” über das Bundeskriminalamt, wie die drei Bücher, die sich den nationalsozialistischen Verbrechen in Polen, den Tätern und deren Nachkriegskarrieren in der bundesdeutschen Justiz widmen. Und immer wieder aufs neue war ich bestürzt und erschüttert über all die halbherzigen und eingestellten Verfahren, die Freisprüche, die Niederschlagung staatsanwaltlicher Ermittlungen und die Schamlosigkeit, mit der die deutsche Nachkriegsjustiz sich über die Nazi-Vergangenheit von Richtern und Kriminalbeamten bei Wiedereinstellungen und Beförderungen hinwegsetzte, auch da, wo die Beteiligung, zum Beispiel an den 50.000 Todesurteilen der Militärgerichte leicht nach-zuweisen gewesen wäre.
In diesem von Dieter Schenk so prägnant beschriebenen politischen Klima und einem solchen Milieu hat Fritz Bauer arbeiten müssen und hat es doch erreicht, dass Prozesse wie der Rehmer-Prozess und die Auschwitz-Prozesse tat-sächlich stattfanden und dass sich das politische Bewusstsein der Bundesrepublik langsam wandelte.
Auch die Arbeit von Dieter Schenk hat das öffentliche Bewusstsein in der Bundesrepublik beeinflusst. Immer wieder hat er es in seinen Büchern geschafft – am eindrucksvollsten meines Erachtens in der „Post von Danzig”, – die Verbrechen der Nationalsozialisten aus der Abstraktion statistischer Darstellungen und struktureller Erklärungen herauszuholen und Tätern wie Opfern ein individuelles Gesicht zu geben. Darüber hinaus haben seine sorgfältigen Recherchen und Ermittlungen mindestens in einem Fall ein juristisches Nachspiel gehabt, worüber uns Professor Kulesza berichten wird.
Wir freuen uns ganz besonders, dass Professor Kulesza aus Warschau sich bereit gefunden hat, die heutige Laudatio zu halten. Professor Kulesza ist nicht nur stellvertretender Generalstaatsanwalt Polens, sondern auch der Direktor der „Hauptkommission zur Verfolgung von NS-Verbrechen und Verbrechen des Stalinismus”. Ich begrüße Sie, Professor Kulesza noch einmal sehr herzlich und möchte Ihnen das Wort übergeben.

Laudatio von Witold Kulesza

Als ich die Laudatio für das heutige Fest vorbereitete, habe ich meine Jurastudenten an der Lodzer Universität, für die Dieter Schenk als Ehrenprofessor bereits seit 5 Jahren Vorträge über die Geschichte des Nationalsozialismus hält, gefragt: woran liegt es, dass sie alle so gern seine Vorlesungen besuchen und darauf immer wieder mit standing ovations reagieren? Als Antwort bekam ich zu hören: „Das ist eine strahlende Persönlichkeit”. Dann, ein bisschen eifersüchtig, habe ich weiter gefragt: was strahlt denn aus dem Kollegen Professor Schenk? Und die Studenten haben mir geantwortet: „Die Ehrlichkeit seiner Worte und die Ehrlichkeit der Art und Weise seiner Äußerung.” Diese Antwort meiner Studenten hat bewirkt, dass ich wieder eine ethische Formel gesucht habe, die ich hiermit gegenüber Dieter Schenk ausdrücken möchte. Diese ethische Formel möchte ich – mit Ihrer, meine Damen und Herren, intellektuellen Teilnahme und Unterstützung – formulieren als eine Begründung für den Fritz-Bauer-Preis, welchen, in wenigen Momenten, der Held des heutigen Festes – Dieter Schenk erhalten wird. Die Analyse seines Lebens und seiner Tätigkeit führt mich zur tiefen Überzeugung, dass es nur eine Formel gibt, die das ganze Schaffen von Dieter. Schenk mit seiner Schriftstellerei und mit seiner Tätigkeit enthalten würde, und sie lautet so: der Gegensatz der Liebe ist nicht der Hass, sondern die Gleichgültigkeit. Diese Gleichgültigkeit macht uns Menschen zu bloßen Objekten und deswegen ist die Gleichgültigkeit für Böse schlimmer als Böse in sich selbst.
Die Tätigkeit und das Werk Dieter Schenks bildet ein edelmütiger, konsequenter und moralisch wie faktografisch begründeter Wider-
stand gegen dieses Übel. Dieter Schenk hat dieses Übel der Gegenwart sowohl in seiner Tätigkeit als Kriminalbeamter, als auch auf den Karten der Nazi-Geschichte als Schriftsteller und Publizist enthüllt und entdeckt. Nicht gleichgültig bleiben und es anderen nicht erlauben, sich zu verstecken hinter einem Gleichgültigkeitsvorhang gegen das Böse sowohl der Gegenwart als auch gegen das Böse der Nazi-Geschichte ist seine Mission. Dieses Böse verfolgt Dieter Schenk mit eine detektivischen Eindringlichkeit, und er benutzt dabei die Werkzeuge seiner Forschungswerkstatt mit großer Perfektion. Er verwendet Werkzeuge aus verschiedenen Fachgebieten wie denen der Geschichte, der Psychologie, der Kriminologie, als auch des Rechts und der Ethik.
Die Ergebnisse der Verwendung aller dieser Werkzeuge finden wir in seiner reichen Schriftstellerei. Seine Ehrlichkeitsausstrahlung, über die jüngere Zuhörer seiner Vorträge an der Lodzer Universität berichtet haben, hat eine Quelle in der Sauberkeit seines Herzens, in der Weise seiner Einfühlung und in seiner Empfindlichkeit. Diese Empfindlichkeit macht aus ihm einen meisterhaften und empathiefähigen Beobachter. Diese Eigenschaften finden wir in seinen Büchern „Der Wind ist des Teufels Nie-sen. Die Geschichte eines jungen Zigeuners” (1992) und „Der weiße Elefant” (1995). […]
Nach der Veröffentlichung des Buches „Die Post von Danzig. Geschichte eines deutschen Justizmords” (1995), das zur Aufhebung des Unrechtsurteils des deutschen Gerichts gegen die Verteidiger der Polnischen Post geführt hat, beteiligte sich Dieter Schenk mit großem Einsatz an der Entschädigung für lebende Familienmitglieder polnischer Postbediensteter, die er persönlich kennen gelernt hat und für die er ein Symbol ist – ein Deutscher, der ihren Glauben an den Sinn der Geschichte und an den Sinn von Worten wie „Wahrheit” und „Gerechtigkeit” wiederherstellte. Die Einwohner von Danzig wünschten sich, dass er einer von ihnen wird, indem sie ihm vor wenigen Monaten die Rhrenhüruercnhaft ihrer 4tar1t 7nerkannt hahPn
Diese Entscheidung Danziger Bürger ist von großer Bedeutung, weil es sich in Danzig um eine immer noch lebendige Geschichte handelt, die am 1. September 1939 begann und die Dieter Schenk mit seiner Person und mit seinem, in diesen Tagen gerade erscheinenden Jugendbuch „Wie ich Hitler Beine machte. Ei-ne Danziger Polin im Widerstand” aufgreift und würdigt. […]
Dieter Schenk begnügt sich nicht mit der Enthüllung des Verbrechens, mit seiner präzisen Beschreibung, mit der ldentifizierung der Täter. Er stellt die Frage, warum diese entlarvten Täter nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind. Er will die Ätiologie der im Namen der nationalsozialistischen Ideologie begangenen Verbrechen zeigen, in allen historischen und politischen Kontexten die Nichtverfolgung der Nazitäter in der Bundesrepublik Deutschland nachweisen. Solch eine Untersuchung ist auch sein Buch mit dem Titel „Hitlers Mann in Danzig. Gauleiter Forster und die NS-Verbrechen in Danzig, Westpreußen”. Sowohl zu der deutschen als auch zu der polnischen Ausgabe hatte ich die Ehre, das Vorwort zu schreiben. Mit Spannung beobachtete ich die Arbeit des Autors an diesem Buch und vor allem seine Studien zu Forsters Prozess vor dem polnischen Obersten Nationalgerichtshof, von dem der Gauleiter 1948 zur Todesstrafe verurteilt wurde. Der Professor der Lodzer Universität Mieczyslaw Siewierski, der Lehrer meines Lehrers, war der Ankläger in diesem Prozess. Ich stehe in der Tradition beider dieser Juristen. Deshalb war für mich die Beurteilung von Dieter Schenk so wichtig, ob der Prozess, in dem der Staatsanwalt M. Siewierski für die Todessstrafe plädierte, gerecht war, im Sinne eines fair trial. Das war ein fairer Prozess – schrieb Dieter Schenk in seinem Buch. Mit tiefer Genugtuung empfand ich diese Feststellung, die ich auch mit zahlreichen anderen polnischen Prozessen verbinde, von denen ich den größten Teil persönlich untersuchte. In diesen Prozessen wurden narh dem Krieg Täter der Naziverbrechen
verurteilt – fast fünftausend Deutsche, Österreicher und Volksdeutsche.
In diesem zuletzt genannten Buch schrieb Dieter Schenk jedoch auch, dass der Prozess, in dem 1946 der Bischof von Danzig, Karl Maria Splett, wegen Zusammenarbeit und Unterordnung gegenüber Forster verurteilt wurde, ein stalinistischer Schauprozess war. Auch in diesem Fall hat der Autor Recht mit seiner Beurteilung des Prozesses. Zwar sollte man die-sen Prozess als eine Ausnahme in der polnischen Justiz bezeichnen, jedoch die Feststellung von Schenk veranlasste mich zum Suchen nach der heute entsprechenden und notwendigen Lösung dieser Frage.
Dem Helden dieser Laudatio verdanke ich mithin die Anregung, polnische Prozesse der Täter von Naziverbrechen zu untersuchen, um die Antwort auf die Frage zu finden, ob Angeklagten in diesen Prozessen nur für eigene, von ihnen begangene Verbrechen verantwortlich gemacht wurden, ob bestrafende Urteile nicht möglicherweise gegen den Grundsatz der individuellen Verantwortung für begangene Taten verstießen. Ob diese Prozesse womöglich gar mit der gemeinsamen Verantwortung aller vor den polnischen Gerichten stehenden Deutschen belastet waren. […]
Dieter Schenk verkündet, dass wir uns aus dieser Verantwortlichkeit nicht befreien können – sagend: Das ist kein Unrecht unseres Staates. Er bestätigt durch seine Schriftstellerei, Tätigkeit und sein Schaffen ethische Kodexnormen des Rechtsstaatsfunktionärs. Diese Normen sind in Polizei, Staatsanwaltschaft und in Justiz gültig. Die Verletzung dieser Normen durch Passivität und Gleichgültigkeit ist genau so schädlich für Rechtsstaat wie aktive Unterbrechung der Normen. Diese Passivität gegen Unrecht schafft Möglichkeiten, die zum Anstieg und zur Bestärkung des Unrechts führen. Diese Passivität verursacht eine Atrophie unserer Fähigkeit, die Wege des Bösen zu verstehen. Diese Passivität wird schlimmer als das Böse in sich selbst: Ohne diesen Grundsatz zu verstehen und im bürgerlichen Leben zu verwirklichen, ist es nicht möglich, im Rahmen des Rechtsstaates den Staat der Bürger zu errichten.
Mit dem Fritz-Bauer-Preis für Dieter Schenk
verbindet die HUMANISTISCHE UNION mit einemBogen beide diese hervorragenden Personen. Ich bedanke mich bei der xu, dass ich als polnischer Staatsanwalt heute neben dem Staatsanwalt Fritz Bauer stehen konnte, begründend in Form dieser Laudatio die Verleihung des Fritz-Bauer-Preises an Dieter Schenk.
Dieter Schenk: Fritz Bauer und die Unwilligkeit zu trauern
Ich freue mich und es beruhigt mich, dass mir nicht die alleinige Aufmerksamkeit dieser Veranstaltung gilt, sondern dass ich neben jemandem stehe, an dessen Seite ich mich bestätigt und unterstützt fühlen kann: Fritz Bauer. Ich bin ihm nur einmal in meinem Leben persönlich begegnet. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden hatte ihn Anfang der sechziger Jahre zu einem öffentlichen Vortrag eingeladen. Mich beeindruckte, wie er unerschrocken offensiv neue Thesen gegen ein überkommenes Strafrecht vortrug und wie er sich ohne Rücksicht auf einen anders gestimmten Zeitgeist gegen einen entwürdigenden Strafvollzug wandte. [..j Ich ahnte nicht, dass Fritz Bauer einmal so etwas wie mein stiller Weggefährte werden wird, sein Wirken und sein Geist inspirierten nicht nur mich. Zumeist begegnete ich ihm in Ermittlungsakten, in denen er mit eindeutiger Konsequenz, zwingender Logik und juristischer Delikatesse durch generalstaatsanwaltschaftliche Verfügungen die Strafverfolgung von Nazi-Tätern vorantrieb um Schluss zu machen mit der Schlussstrich-Mentalität, um aus dem Gerichtssaal heraus die Öffentlichkeit über die NS-Vergangenheit aufzuklären, nach den Gründen der moralischen Katastrophe zu fragen. Er wollte „dem menschlichen Faktor eine Gasse bahnen, denn vom Gesetzesfetischismus führt ein schnurgerader Weg zu den KZ Au-schwitz und Buchenwald”. (Bauer)
Ob im Archiv des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof oder in der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg oder andernorts, der Umgang mit diesen Akten der Nazi-Gräuel bedeutet Trauerarbeit, begleitet vom Entsetzen über die Barbarei, bis die eigene Hilflosigkeit in Wut umschlägt und die befreiende Kraft und den Mut spendet, dagegen anzuschreiben: den Tätern einen Namen zu geben, ihre Verbrechen offen zu legen und das Andenken der Opfer aus dem Vergessen zu heben.
1964 sagte Fritz Bauer zu einem Journalisten: „Schreiben Sie, wie sehr wir alle bei der Generalstaatsanwaltschaft unter den NS-Mordprozessen leiden. Es ist furchtbar, immer wie-der den ganzen Jammer, die ganze Not jener zwölf Jahre herauf zu beschwören, immer wie-der in die Vergangenheit sehen zu müssen, statt unbeschwert in eine bessere Zukunft zu blicken.” Und er schloss das Interview mit den Worten: „Es geht darum, der Welt klar zu machen, dass unsere Bundesrepublik auf der Anerkennung der Menschenrechte beruht, dass Toleranz und Menschlichkeit wie ein Phoenix aus der Asche von Auschwitz auferstehen.”
Auschwitz steht auch für die nicht geweinten Tränen der Generationen danach, denn um tiefe Betrübnis über die Zeit des Nationalsozialismus machen viele Menschen einen Bogen, auch im Bundeskriminalamt war nie etwas von Trauer oder gar Reue zu spüren. In den fünfziger und sechziger Jahren lenkte eine Führungsmannschaft, die selbst in NS-Verbrechen tief verstrickt war, das Amt. Für diese Leute war der Frankfurter Generalstaatsanwalt ein rotes Tuch und – wie mir Zeitzeugen berichteten – gerade-zu verhasst. Nur einmal luden sie ihn zu einem Vortrag anlässlich der Arbeitstagung „Kriminal-politische Gegenwartsfragen” (1959) ein und dann nie wieder. Er schrieb ihnen Sätze ins Stammbuch wie: „Es ist unsere kriminalrechtliche und kriminalpolitische Aufgabe, zunächst einmal die autoritären Schlacken vergangener und jüngster Jahrzehnte zu beseitigen, um aus Demokraten des Wortes Demokraten der Tat zuwerden.” Wären sie dazu, fähig gewesen, hätte es einigen BKA-Gastgebern die Schamesröte ins Gesicht treiben müssen.
Die Aggressionen gegen Bauer hatten unterschwellige Motive, denn hinter der Maske dieser BKA-Direktoren lauerte die Angst. Das Hessische Landeskriminalamt war für die Verfolgung der Schandtaten dieser BKA-Männer zuständig und der Hessische Generalstaatsanwalt in den Verfahren weisungsberechtigt. Durch Ermittlungssabotage konnte das Hessische LKA allerdings das Erforschen der Wahrheit erschweren und zum Beispiel Dr. Niggemeyer, Mitglied des BKA-Führungstriumvirats, vor intensiver Strafverfolgung schützen.
Einblicke in die Strukturen der Nichtverfolgung von NS-Tätern in den Reihen der Polizei erlangte ich erstmals in den sechziger Jahren durch meine Bekanntschaft mit dem Leiter der Sonderkommission zur Verfolgung von NS-Verbrechen beim Hessischen Landeskriminalamt. Über ihn beschaffte ich mir die Akten des Verfahrens Oskar Christ. Den Leiter der Wiesbadener Schutzpolizei – ein Herrenreiter in Polizeiuniform auf der sonntäglichen Wiesbadener Wilhelmstraße – holte die Vergangenheit ein, denn der ehemalige SS-Hauptsturmführer fungierte als Kompanieführer des berüchtigten Polizeibataillons 314, das in der Sowjetunion an Massenexekutionen von Juden beteiligt war. Im März 1942 soll Christ in Charkow seinem „Burschen” befohlen haben, eine russische Tänzerin des Stadttheaters, die von Christ schwanger war, zu erschießen. Anstatt wegen der ruchlosen Tat Beweisketten zu knüpfen, suchte das Wiesbadener Schwurgericht solche Ketten zu sprengen und sprach den Polizeioberrat frei. Dass solche Gerichtsentscheidungen kein Zufall waren, sondern Methode hatten, lernte ich erst später genauer zu beurteilen.
Blauäugig glaubte ich als junger Berufsanfänger an den demokratischen Rechtsstaat und sah mein Vertrauen alsbald erschüttert, denn der SOKO-Leiter berichtete mir, wie ihn seine Chefs – die auch meine Chefs waren – gängelten und mit zudeckender Loyalität verhinderten, die Arbeit der Sonderkommission mit Erfolg zu krönen. Stattdessen sollte er die Ermittlungen auf Sparflamme fuhren, musste Dienstreisen abbrechen, durfte keine selbständigen Besprechungen mit Generalstaatsanwalt Bauer abhalten, während sein Abteilungsleiter die Vernehmungen von beschuldigten BKA-Männern kontrollierend überwachte oder gar die Akten an der Sonderkommission vorbei direkt dem BKA zuleitete, das dann „gegen sich selbst” ermittelte. Der Leiter der Polizeiabteilung des Hessischen Innenministeriums er-mahnte den SOKO-Chef: Kriminalbeamte würden dringend zur Verbrechensbekämpfung gebraucht, es herrsche Personalmangel und er sollte mit Festnahmen etwas kürzer treten.
Ich erwähne diese Details um wenigstens anzudeuten, mit welchen Widerständen Generalstaatsanwalt Bauer zu kämpfen hatte, die ihm sicher über informelle Kanäle bekannt waren. Ebenso wusste er – davon kann man aus-gehen – wes ehemals nationalsozialistischen Geistes der eine oder andere „Amtsbruder” war, mit dem er bei den regelmäßigen Konferenzen der Generalstaatsanwälte an einem Tisch saß und die stringentes Ermitteln gegen NS-Täter vermissen ließen. Generalstaatsanwalt Adolf Voss aus Schleswig-Holstein zum Beispiel, der einst von Roland Freisler protegiert wurde und sich nicht von seiner Vergangenheit lösen konnte, sonst wäre er 1960 nicht in die Affäre Prof. Heyde alias Dr. Sawade verwickelt gewesen. Als der Verdacht aufkam, er hätte den Euthanasie-Verbrecher gedeckt, nahm Voss aus Gesundheitsgründen seinen Hut.
Aus zahllosen Ermittlungsakten erschließen sich heute in der Zusammenschau die strukturellen Methoden und das System der scheinlegalen strafrechtlichen Nichtverfolgung von NS-Verbrechern; die angewandten Mittel waren vielseitig und effektiv: Täter wurden zu Gehilfen, Beschuldigte zu Zeugen abgestuft, notwendige Ermittlungen unterlassen, Vernehmungen an sachunkundige Behörden delegiert, mittels der so genannten „biologischen Verjährung” abgewartet, bis Zeugen und Beschuldigte aus Altersgründen verhandlungsunfähig oder verstorben waren. Das Prinzip in dubio pro reo wurde überstrapaziert, weil sich belastende Aussagen von Zeugen und Schutzbehauptungen des Angeklagten angeblich auf-hoben, demnach trotz eindeutiger Beweislage Aussage gegen Aussage stand. Der Rechtfertigungsgrund des militärischen Befehls wurde anerkannt, selbst wenn im Einzelfall der Täter eine ganze Zigeunersippe erschossen hatte. Befehlsnotstand wegen angeblicher Gefahr für Leib oder Leben – das Einstellungs- und Freispruchinstrument erster Klasse – lag nach einhelligen historischen Forschungsergebnissen in keinem bisher festgestellten Fall tatsächlich vor.
Natürlich durchblickte Bauer alle diese juristischen Machenschaften, wenn er konstatierte: „Es hat nicht nur Hitler und Himmler gegeben, sondern Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen war, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen war, sondern weil es ihrer eigenen Weltanschauung entsprach, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben.” Und Bauers Juristenkollegen exkulpierten sich formalrechtlich nach dem Grundsatz des Gesetzespositivismus, da sie nur das geltende Recht angewandt haben wollten. Diese Richter und Staatsanwälte spürten – wie Bauer klar war – das Unbehagen darüber, dass sie selbst nicht viel anders dachten als die Menschen auf der Anklagebank, so dass die Widersprüche in Einstellungsverfiigungen oder Urteilsbegründungen „die Wurzeln im eigenen Tun und Lassen während des Unrechtstaates hatten” (Bauer).
Das Gedenken an Fritz Bauers einhundertsten Geburtstag und diese Preisverleihung finden auf historischem Boden statt: Die IG Farben waren intensiv in Kriegsverbrechen und Holocaust involviert. Nach dem Krieg wurde in den Diensträumen dieses Gebäudes unter der Federführung von CIA-Vorgesetzten das Bundeskriminalamt kreiert. Die Grundlagen hierfür lieferte Paul Dickopf im Jahre 1949, ehemals Kriminalkommissar und SS-Untersturmführer, Experte der Nazi-Sicherheitspolizei und der Militärischen Abwehr, Doppelagent von 1942 bis 1945 in der Schweiz und nunmehr CIA-Agent. Er erstellte Organigramme, Statistiken und Personal-Listen, machte das BKA zum organisatorischen Abklatsch des Reichskriminalpolizeiamtes und zur Versorgungsanstalt für ehemalige Angehörige der Gestapo und der SS – mit Wissen und Wollen der federführenden amerikanischen Besatzungsmacht.
Ob moralische Entrüstung darüber angebracht ist, dass ein CIA-Agent später BKA-und Interpol-Präsident geworden ist, hängt da-von ab, ob man die Counter Intelligence Agency als kriminelle Vereinigung betrachtet oder nicht. Gravierender ist allerdings die Tatsache zu bewerten, dass die Hälfte des BKA-Führungspersonals Nazi-Verbrecher waren. Zwei Dutzend von ihnen waren Schreibtischtäter des Reichskriminalpolizeiamtes, die „Schutzhaftbefehle” ausstellten, um Homosexuelle, Zigeuner oder sogenannte Asoziale in Konzentrationslager einzuweisen. Oder sie waren Angehörige der Einsatzgruppen zur Vernichtung der polnischen Intelligenz, sie leiteten Exekutionen und schossen dabei selbst – auch auf Frauen und Kinder. Sie befehligten die Geheime Feldpolizei, die an der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in Weißrussland beteiligt war. Jeder Dritte der späteren BKA-Führer gehörte der Gestapo an.
Die Unverfrorenheit erreichte ihren Höhepunkt, als Inhaber von Chefpositionen des ehemaligen Reichskriminalpolizeiamtes, das ja ei-ne Abteilung des berüchtigten Reichssicherheitshauptamtes bildete, genau dieselben Chefsessel im neu geschaffenen Bundeskriminalamt einnahmen. Alle diese BKA-Chefs zeigten weder Mitleid noch schworen sie ihrer Gesinnung ab, vielmehr schlüpften sie gleich zu Anfang durch die nicht ernsthaft betriebene Entnazifizierung und wurden als „entlastet” eingestuft. Damit fühlten sie sich rehabilitiert, beförderten sich gegenseitig und gingen mit satten Pensionen in den Ruhestand.
Sie waren offenbar unfähig zu trauern in dem Sinne, wie es die Mitscherlichs in ihrem gleichnamigen Buch analysiert hatten. Die bei-den Psychoanalytiker fragten sich, „was ein Kollektiv tun soll, in dessen Namen sechs Millionen Menschen aus aggressiven Gründen getötet wurden. Der Sturz des ,Führers‘ bedeutete eine traumatische Entwertung des eigenen Ich-Ideals, mit dem man so weitgehend identisch war. Als Folge blieb nur der Weg in Verleugnung oder Rückzug in Depression.” Verdrängung erlaubte es den Tätern, ihre Lebenslüge zu verinnerlichen, sich nicht mehr als Teil der eigenen Geschichte zu betrachten und sich schließlich sogar als Opfer von Verleumdungskampagnen zu stilisieren. Das erklärt auch die Arroganz, mit der Leute wie Dickopf oder Niggemeyer Kritiker mundtot machten.
Und nicht nur sie. Ende der siebziger Jahre lud ich Albert Speer zu einer Podiumsdiskussion in das Polizeipräsidium Gießen ein. Er, der zum engsten Zirkel um Hitler gehörte, wollte nichts von Auschwitz gewusst haben, was zu einer heftigen Kontroverse führte. Meine Kollegen warfen mir nach der Veranstaltung vor, ich hätte den elder statesman zu hart angefasst. Meine Kollegen störte keineswegs, dass Speer freimütig erklärte, er würde – könnte man die Judenmorde als nicht geschehen betrachten – alles noch einmal genau so wie früher machen.
Der Geist ehemaliger Nazis durchweht heute nicht mehr das Bundeskriminalamt. Trotz-dem wurden über Jahrzehnte Grundeinstellungen und Handlungsweisen geprägt, die Auswirkungen bis in diese Tage zeigen: Zum Bei-spiel in der halbherzigen Bekämpfung von Straftaten im Zusammenhang mit Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus; bei der Verwischung der Grenzen und Arbeitsmethoden zwischen Polizei, Verfassungsschutz und Geheimdienst; bei der Gewichtung von Wirtschaftsverbrechen; in der Praktizierung eines Führungsverhaltens, das noch weit vom kooperativen Führungsstil entfernt ist; bei der Leistung von polizeilicher Entwicklungshilfe an Diktaturen, versteckt
hinter dem Scheinargument, Organisierte Kriminalität zu bekämpfen.
Ich hätte es allerdings für unmöglich gehalten, dass sich das Bundeskriminalamt weigert, sich von seinen braunen Wurzeln zu distanzieren. Auch die Bundesregierung schloss sich dieser Haltung an und beantwortete eine durch mein Buch ausgelöste Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag mit dem sophistischen Schlüsselsatz: „Das Bundeskriminalamt hat keine nationalsozialistische Vergangenheit, weil es 1951 gegründet wurde.”
Es mag in meiner Person begründet liegen, dass sich das Bundeskriminalamt nicht auf mich einlassen wollte, vielleicht auch nicht konnte. Mit Fritz Bauer teile ich das Los, hier und da als Nestbeschmutzer bezeichnet zu werden. Und Fritz Bauer würde mir sicher zu-stimmen, wenn wir es mit Georg Büchner auf den kurzen Nenner bringen: „Die Ursache verklagt ihre Wirkung.”
Aber die wahren Gründe liegen tiefer. Es handelt sich hier nicht um Unfähigkeit oder Unvermögen, sondern um Unwillen zu trauern. Trauern heißt nicht nur Abschied nehmen, sondern auch Verarbeiten, Bilanz ziehen, Los-lassen, eigene Fehler einsehen. Trauern heißt Mit-Leiden, erst daraus erwächst Einsicht. Trauer zu unterdrücken rächt sich, weil das Problem nicht gelöst wird, sondern an anderer Stelle wieder hoch kommt. Trauer ist eine Form der Eigentherapie. Verhinderte Trauer verstärkt das schlechte Gewissen, nur offene Wahrheit macht frei. Trauer kann quälende Arbeit sein, aber sie bewirkt Ruhe und Frieden – auch mit sich selbst.
Ich wünsche mir ein BKA, das den Korps-geist mit seinen Gründungsvätern für überholt erklärt. Ich sehne mich nach einem BKA, das Betroffenheit zeigt, wenn ihm der Big-Brother-Award verliehen wird. Ich habe den Traum, dass BKA-Beamte nicht von einer Dienstreise aus einem Folterstaat zurückkehren, um gute Zusammenarbeit und Gastfreundschaft zu loben. Ich wünsche mir den BKA-Beamten, der nicht den Polizeiknüppel aus Thailand als Souvenir an die Wand seines Büros hängt, denn es enttarnt seine Einstellung zur Macht, man kann ihm nicht trauen. Ich möchte einen BKA-Präsidenten, der seinen Sitz im Exekutiv-Komitee der Interpol-Organisation quittiert, wenn neben ihm Foltergeneräle Platz nehmen. Ich halte den Innenminister für mein Ideal, der die Beachtung fundamentaler Menschenrechte zur Bedingung für die Mitgliedschaft anderer Staaten in der Interpol-Organisation macht.
Die Denkkategorien des Bundeskriminalamtes (der Landeskriminalämter, der Polizei schlechthin) sind ideologisch determiniert. Sie kennen überwiegend nur die Fragestellung: Wer verletzt unsere Sicherheit? und nicht die Überlegung: Wo verletzen wir als Polizei (als Verfassungsschutz, als Bundesnachrichten-dienst) durch unser Tun oder Lassen die Sicherheit – zum Beispiel durch ungenügende Verfolgung der Parallelmacht wirtschaftskrimineller Gewalt, durch exzessive Abhörmaß-nahmen oder durch sinn- und ergebnislose Rasterfahndung, die Terrorismusbekämpfung vorgibt, stattdessen Unschuldige einem Generalverdacht aussetzt und damit Sympathisantentum nährt. Bereits in den siebziger Jahren lösten Kontaktsperregesetz und Isolationsfolter alle Nachwuchssorgen der Rote Armee Fraktion. Eine Kosten-Nutzen-Analyse – bezogen auf den Bundesnachrichtendienst – und eine Skandal-Schadens-Analyse – bezogen auf den Verfassungsschutz – hätten das Ergebnis, dass beide Einrichtungen nicht mehr zeitgemäß sind.
Insgesamt handelt es sich um Instrumentalisierung, um falsch verstandene Sicherheit des Staates. Doch geht es nicht um den Staat. Des-sen Sicherheit war zu Zeiten der RAF genau so wenig gefährdet wie der Staat in seiner Substanz heute durch islamischen Fundamentalismus bedroht ist. Es geht vielmehr um die Sicherheit des Bürgers, den der Staat zwar vor Schaden bewahren soll, aber mit Augenmaß oder, wie es das Grundgesetz vorschreibt, unter Beachtung von Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots. Der Staat ist am besten durch
wache und mutige Bürger geschützt, die man nicht an jeder Straßenecke videoüberwacht, die man nicht mit SIMSI-Catchern einfängt, deren Ferngespräche nicht im Schmutzbeutel eines elektronischen Staubsaugers landen – Bürger, die nach dem Grundsatz in dubio pro libertate leben können, wie es unsere – durch innenpolitische Hardliner gebeutelte – Verfassung eigentlich vorsieht. Fritz Bauer stellte bereits in den sechziger Jahren fest: „In einer gefestigten Demokratie sind Maßnahmen des Staatsschutzes überflüssig.”
Demokraten der Tat sind gefragt. Solche, die Hierarchien in der Polizeiorganisation beseitigen, welche starre – häufig erniedrigende – Befehlsstrukturen hervorbringen und welche mit ihrem Beurteilungs(un)wesen ein Geflecht gegenseitiger Abhängigkeit und einseitigen Wohlverhaltens schaffen. Demokraten der Tat sind gefragt, die ein freies Universitätsstudium der Polizeiwissenschaften einführen anstelle der polizeilichen Ausbildungs-Inzucht – Demokraten, die paradigmatische Veränderungen bewirkten im Geiste von Fritz Bauer: Weg vom Ordnungshüter, hin zum Deeskalations-Experten, zum multikulturellen Sachbearbeiter. Demokraten der Tat sind gefragt, die bei der Polizei eine Supervision für erforderlich halten, Rotation von Führungs- und Einsatzkräften durchsetzen, wirkungsvolle Innenrevisionen implantieren, Anti-Mobbing-Konzepte entwickeln. Viel wäre bereits gewonnen, wenn als Anforderungsprofil an den Polizeinachwuchs nicht dem angepassten, sondern dem kritischen und diskussionsfreudigen Berufsbewerber der Vorzug gegeben würde. Doch istdie Polizei in ihren Traditionen gefangen, Re-formen müssen von außen kommen und bedürfen einer anderen Innenpolitik.
Fritz Bauer, ein Anwalt nicht der Staatsräson sondern des Schutzes des Bürgers vor dem Staat, hatte Brüderlichkeit und Nächstenliebe zu seinem kategorischen Imperativ erhoben. Er, der als Leitfigur seiner Zeit – und leider auch unserer – weit voraus war, galt als rigoroser Verfechter der Menschenrechte. Er verlangte die internationale Ächtung der Todes-strafe, wollte nach dem Muster skandinavischer Länder einen Ombudsmann einführen, schlug einen Internationalen Strafgerichtshof vor und eine konsequente Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als Ursache von Unterdrückung, Armut und Ungerechtigkeit und damit der Wurzeln von Terrorismus.
Manch Kalter Krieger fühlte sich von Fritz Bauer provoziert. Seine Gegner wollten glauben machen, er öffne dem Kommunismus Tor und Tür, doch er genoss Solidarität und Unterstützung der Hessischen Landesregierung, auch wenn die Opposition im Landtag seine Suspendierung oder gar Entlassung forderte. Bauer wusste eine Riege Gleichgesinnter hinter sich,
unter anderem in der HUMANISTISCHEN UNION.
Er hat Generationen kritischer und politisch denkender Jurastudenten geprägt.
Fritz Bauer ist auf seine Art ein „Gerechter unter den Völkern” zu nennen, denn er rettete die Ermordeten von Auschwitz vor dem Vergessen. Er wurde heute vor einhundert Jahren geboren – ohne ihn wäre die Welt inhumaner gewesen.

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