Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Revolte revisited

Ein aktueller Literaturbericht zur Protestforschung

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 92ff

Gibt es eine Renaissance des politischen Protests in der Bundesrepublik? Lange Jahre sah es nicht danach aus. Doch manche Auguren meinen, dass seit dem Auftauchen von Attac auch hierzulande ein neuer Frühling für soziale Bewegungen angebrochen sei. Protest in der Gegenwart tritt jedenfalls in vielfältigen Erscheinungsformen auf – und wird intensiv erforscht. Wer sich einen Überblick darüber verschaffen will, sollte zu einem Buch greifen, das seit seinem Erscheinen zum Standardwerk für die deutsche Protestforschung avanciert ist:

Dieter Rucht (Hg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Campus Verlag: Frankfurt/Main 2001, 324 S., ISBN 3-593-36451-4; 34,90 Euro

Der Sammelband, in dem neben Rucht u.a. Ruud Koopmans, Friedhelm Neidhardt, Anja C. Baukloh, Jochen Roose, Peter Hocke, Susann Burchardt und Christiane Eilders vertreten sind, verfolgt vor allem zwei Ziele: Zum einem soll hier das Phänomen Protest in der Bundesrepublik systematisch vermessen werden, zum anderen soll die Anwendbarkeit einer am Wissenschaftszentrum Berlin entstandenen Methode demonstriert werden: der Protestereignisanalyse. Auf die Auswertung von Tageszeitungen gestützt, ermöglicht es diese Methode, Intensität und Ausprägung von Protest für bestimmte Zeiträume systematisch zu erheben. In Fallbeispielen wird dies durchgespielt, u.a. am Bei-spiel rechtsextremistischer Mobilisierung oder der Ökologiebewegung in den 1980er Jahren. Hilfreich ist auch der von Neidhardt und Rucht verfasste Überblicksbeitrag zur Protestgeschichte der Bundesrepublik von 1950 bis heute, der noch einmal gegen das verbreitete Vorurteil argumentiert, erst mit 1968 hätte alles angefangen.
Aus der Protestforschungsproduktion des Wissenschaftszentrums stammt auch ein Sammelband zu den alljährlich wiederkehrenden Protestritualen beim Berliner 1. Mai, dem traditionellen Kreuzbergen Großkampftag:

Dieter Rucht (Hg.): Berlin, I. Mai 2002. Politische Demonstrationsrituale, Leske + Budrich: Opladen 2003, 248 S., ISBN 3-8100-3792-3; 17,90 Euro

Detailliert werden die diversen Veranstaltungen und Demonstrationen sowie deren Wahrnehmung durch Polizei, Justiz und Medien untersucht. Vor allem die Diskrepanz zwischen der von den Teilnehmern erlebten Realität und deren Darstellung in den Medien erstaunt. Auch die minutiösen Beschreibungen der einzelnen Demonstrationen und des konkurrierenden Verhältnisses der Gruppen untereinander sind nicht frei von Skurrilitäten, so wenn man erfährt, dass es 2002 drei verschiedene linksorientierte Demonstrationen gab, weil das Verhalten der Veranstalter zueinander „zuweilen an den Kampf der Volksfront von Judäa gegen die Judäische Volksfront im Spielfilm Das Leben des Brian von Monty Python erinnert” (89). Trotzdem legen die Autoren Wert auf die Feststellung, dass es sich bei den Protestveranstaltungen nicht ausschließlich um sinnentleerte Krawallmache handelt, sondern auch der Kreuzberger 1. Mai als sozialer Protest ernst genommen werden sollte.
Weitgehend friedlich ging es dagegen in einer viel beachteten Enquete-Kommission des Bundestages zu, deren Ergebnisse nun nach und nach bei Leske+Budrich erscheinen:

Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements des Deutschen Bundestages (Hg.): Bürgerschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen, Leske + Budrich: Opladen 2003, 198 S., ISBN 3-8100-3644-7; 19,80 Euro

Der vorliegende zehnte Band befasst sich mit dem im engeren Sinne politischen Engagement der Zivilgesellschaft, das — legt man den Freiwilligensurvey von 1999 zugrunde — nicht gerade einen Kernbereich bürgerschaftlicher Aktivitäten ausmacht. Dieter Rucht untersucht in seinem für die Enquete-Kommission verfassten Gutachten Formen des Engagements außerhalb festgefasster Institutionen, vulgo Protestbewegungen und plädiert dafür, auch diese als einen integralen Bestandteil der Demokratie zu betrachten. Gerd Mielke befasst sich in seinem Beitrag mit den etablierten politischen Parteien und ihrer Offenheit für bürgerschaftliche Partizipation, wobei die Frage im Zentrum steht, ob sich diese durch Organisationsreformen steigern ließe. Bodo Zeuner untersucht die „Besonderheiten des politischen Engagements in Ostdeutschland”, während Gerd Langguth das Verhältnis von Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen betrachtet. Ähnlich der Fokus von Ingrid Reichart-Dreyer: sie untersucht Parteien und bürgerschaftliches Engagement in ihren Wechselwirkungen. Von den Parteien fordert sie mehr argumentatives Räsonnement und mehr Programmarbeit, nur so ließe sich dem Inhalts-Defizit des Parteibetriebes entgegenwirken und die Partizipation der Bürgergesellschaft steigern.
Nach den Zukunftsperspektiven nun der Blick in die Protestvergangenheit der Bundesrepublik. Die Beschreibung der Irrungen und Wirrungen des politischen Aufbegehrens in den späten 1960er Jahren ist zum beliebten Gesellschaftsspiel geworden. Was man aus dem Stoff dennoch herausholen kann, demonstriert Gerd Koenen: Der Verfasser des Roten Jahrzehnts legt nach mit weiteren Innenansichten aus dem Tollhaus des deutschen Terrorismus:

Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Kiepen-heuer & Witsch: Köln 2003, 365 S., ISBN 3-462-03313-1; 22,90 Euro

Im Mittelpunkt des Buches steht eine Dreiecksgeschichte: Gudrun Ensslin, ihr Liebhaber Bernward Vesper (der Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper) und ihre zweite große Liebe Andreas Baader. Koenen hat zielsicher den Nachlass Vespers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach geborgen, um anhand von Korrespondenzen und anderen Aufzeichnungen den langen Weg in den Wahn nachzuzeichnen: In den frühen 1960er Jahren bemühen sich Vesper und Ensslin gemeinsam um eine Rehabilitation des Dichter-Vaters Vesper. Dabei schrecken sie nicht einmal davor zurück, die neu aufgelegten Vesper-Bücher an jüdische Rezensenten zu schicken. Ein paar Jahre später wird der Übervater Vesper dann aber zur Nazi-Figur, auf deren Demontage Bernward all seine Energie verwendet. In langen Drogenräuschen fabuliert er über sexuelle Befreiung und die Wiederkehr des Faschismus. Vor allem sein Manuskript gebliebener Roman Die Reise gilt als authentischstes literarisches Dokument des deutschen Linksextremismus. Ensslin hatte sich da schon lange mit Andreas Baader zusammengetan und gab mit ihm Bonny & Clyde in deutscher Version. Alle Versuche Vespers, sie zurückzuholen, schlugen fehl. Vesper endete 1971 im Selbstmord, Ensslin 1977 in Stuttgart Stamm-heim. Koenens Buch zeichnet nicht nur die individuelle Verwirrung zweier Linksaktivisten nach; das Buch lässt sich ebenso als kollektives Portrait einer Generation lesen.
Und noch ein deutscher Revolutionär kommt postum ausführlich zu Wort:

Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979; hrsg. von Gretchen Dutschke, Kiepenheuer & Witsch: Köln 2003, 430 S., ISBN 3-462-032224-0; 22,90 Euro

Aus den vielfach kryptischen Notizen („22. November 1967: Bußtag-Diskussion — Politik vs. chr[istliche] Utopie. Ca. 400-500 Leute in einem überfüllten Saal; scharfe Kritik der Kirche …“) erschließt sich das rastlose Leben eines Berufsrevolutionärs, der kaum Zeit findet, über seine Aktivitäten und seine stetig wachsende Bedeutung zu reflektieren. So zumindest im ersten Teil der Tagebücher. Dann die Zäsur: Am 11. April 1968 schoss der Arbeiter Josef Bachmann Dutschke in den Kopf. Im ersten Tagebucheintrag danach, im Mai, notierte Dutschke: „I. mal wieder die Namen der Freunde aufgeschrieben mit Hilfe von Gretchen im Krankenhaus Westend. Gaston, Christian Semler, Bernd Rabehl, Meschkat, Gollwitzer, Krippendorff, Wolfgang Neuss, Enzensberger“). So wird der Leser Zeuge jenes Kampfes, den Dutschke monatelang um sein elementares Sprech-
Schreib- und Denkvermögen führen musste. Danach werden die Einträge länger und länger, wirken nicht mehr so gehetzt, wie in den Jahren vor dem Attentat. Hier geht es um „Rekonvaleszenz, Exil und politischen Neuanfang” (Wolfgang Kraushaar). Trotz unübersehbarer editorischer Mängel und einer alles andere als unkomplizierten Lektüre, die dem Schreibstil Dutschkes geschuldet ist, wird die Tagebuch-Edition neben den drei
existierenden Biografien eine zentrale Quelle für die künftige Dutschke-Forschung und -Rezeption werden.
Der Journalist Jürgen Busche ist ein intellektueller Hans-Dampf in allen Gassen: Er versorgt die deutschen Feuilletons nunmehr seit vielen Jahren in nicht nachlassender Produktivität mit Texten zu allen möglichen Themen: Philosophie und Althistorie, hier vorzugsweise Jacob Burckhardt, aber auch die gesellschaftliche Gegenwart sind vor seinen Deutungen niemals sicher. Nun hat er sich auch (s)einer Generation angenommen und einen Essay in Buchform vorgelegt:

Jürgen Busche: Die 68er. Biographie einer Generation, Berlin Verlag: Berlin 2003, 189 S., ISBN 3-8270-0507-8; 17,50 Euro

Wenn Rot-Grün die Bundestagswahl 2002 verloren hätte, wäre Busche mit diesem Buch sicher ein erstes Fazit zum Werdegang der 68er gelungen. So jedoch irrlichtert der Band hin und her: wohlfeile und oft gehörte 68er-Kritik vermengt sich mit Generationensoziologie und aktueller Leitartikelprosa. Zu 1968 scheint einfach schon alles gesagt, obwohl es sich bei Busche oft gut liest. Nicht überzeugend erscheint die Umstandslosigkeit, mit der der Autor Fischer und Schröder zu den 68ern zählt; zu jung bzw. zu randständig waren beide damals. Überhaupt verblüfft das Buch durch die ungehemmte Lust, alle passenden und unpassenden, zumeist nicht neuen Geschichten, Namen, Fakten, Artikel aus der Bonner Republik seit 1949 hier unterzumengen — der Erkenntnisgewinn des Bändchens hält sich so in Grenzen.
„Das Bürgertum […] hat sich von dem Ansturm der linkssozialistischen Programmatik und der antiautoritären Ideen nie so recht erholt”, in anderen Ländern seien die konservativen Schichten „resistenzfähiger” gegenüber den „moralisch-politischen Zumutungen” der Linken gewesen: Derselbe Jürgen Busche schrieb das am 28. Juni 1985 in einem Leitartikel in der FAZ. Mit solchen Preziosen kann die CD-Rom aufwarten, auf der die große dreibändige Dokumentation von Wolfgang Kraushaar von 1998 er-schienen ist — eine Fundgrube für jeden Archäologen der Bundesrepublik:

Wolfgang Kraushaar: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschen-post zum Molotowcocktail 1946 bis 1995, Hamburger Edition: Hamburg 2003; ISBN 3-930908-92-1; 38,- Euro [CD-Rom]

Es war eine kluge Entscheidung, die Informationsmassen der Trilogie nun auch via CD-Rom zugänglich zu machen: die Recherchemöglichkeiten sowie die zahllosen Verknüpfungen und Verweise sprechen dafür. Gegliedert ist die CD-Rom wie die Trilogie in ei-ne umfassende Chronik von 1946 bis 1995; in einen Aufsatzteil mit wichtigen zeitgenössischen Texten von Kraushaar, Claussen, Demirovic und vielen anderen, ergänzt um ein Gespräch des Herausgebers mit Oskar Negt; in eine umfangreiche Dokumentation zeitgenössischer Artikel, Interviews und unveröffentlichter Briefe. Das geistige Klima der Bundesrepublik wird am Computerbildschirm sichtbar, die Prägungen durch die Frankfurter Theoretiker und die Nachwirkungen in den linken Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre: Konferenzen und Konflikte, viele längst vergessene Personen, die in
kurzen Porträts vorgestellt werden, wichtige und schwer zugänglich Zeitschriftenartikel werden miteinander verbunden. Demonstrationen, Besetzungen, Straßenschlachten — alles kann man hier finden. Die erstaunlich plastische Rekonstruktion der Debattenlage vermag auch den Nachgeborenen anschaulich zu vermitteln, welche Rolle z.B. Marcuses letzter Besuch in Deutschland hatte, wer sich alles im Mikrokosmos Frankfurt tummelte oder weshalb die Zeit 1980 nach langen Querelen um Habermas Berufungen und Attacken rechtskonservativer CDU-Politiker titelte: „Emigriert Habermas?” Kurz: eine gelungene elektronische Historisierung der Bundesrepublik.
Noch ist der 68er Diskurs immer noch weitgehend männlich dominiert; Helden, keine Heldinnen prägen sowohl die wissenschaftliche Wahrnehmung als auch die individuelle Erinnerung. Ein Buch des Feministischen Instituts der Heinrich-Böll-Stiftung ermöglicht den Perspektivenwechsel; es ist zu einer gern gelesenen Mischung aus Erinnerung und Analyse geworden:

Heinrich-Böll-Stiftung/Feministisches Institut (Hg.): Wie weit flog die Tomate? Eine 68erinnen-Gala der Reflexion, Heinrich-Böll-Stiftung: Berlin 1999, 255 S., ISBN 3-927760-32-3; 7,50 Euro

Gala und Reflexion zusammenzudenken, fällt nicht gerade leicht. Dass es dennoch funktionieren kann, zeigen prominente Autorinnen, die hier die Folgen des feministischen Aufbruchs vor mehr als dreißig Jahren deuten: u.a. Christina von Braun, Viola Roggenkamp, die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, Ingrid Kurz-Scherf und Frigga Haug sowie die Regisseurin Heike Sander. Ihr Bild, an dem sie gemeinsam arbeiten, ist wahrlich unorthodox: die Rolle des Rock ’n‘ Roll für die Entstehung der Frauenbewegung wird thematisiert, ebenso die Funktion von Frauenfesten als Initiationsritual oder welche Rolle der Feminismus in der DDR-Opposition der 1980er Jahre gespielt hat. Ergänzt von persönlichen Reminiszenzen stellt sich die Frage, ob die Frauenbewegung im Rückblick nicht die zentralen politisch-gesellschaftlichen Veränderungen initiiert hat, die sich im Gefolge vom 1968 beobachten lassen — von Jürgen Habermas auf die klassische Formel „Rita Süssmuth” gebracht, als er einst nach den wichtigsten Folgen dieser Zeit gefragt wurde.
Der vergleichende Blick vermag auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Frauenbewegung zu befruchten. Eine Dissertation analysiert den weiblichen Aufbruch in Frankreich und Deutschland nach 1968:

Kristina Schulz: Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968-1976, Campus Verlag: Frankfurt/ New York 2002, 273 S., ISBN 3-593-37110-3; 34,90 Euro

Innerhalb nur weniger Jahre gewann damals Frauenprotest enorm an Bedeutung in Europa und war keineswegs mehr eine marginale Randerscheinung. Die Autorin zeigt, dass es kaum eine vergleichbar lang anhaltende demokratische Protestbewegung gab, wie die der Frauen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das gilt für beide Länder, auch wenn es viele historisch bedingte Unterschiede gab; der Bogen wird im Buch auch
zu den Frauenbewegungen im 19. Jahrhundert geschlagen. Einige Protagonistinnen, wie z.B. Alice Schwarzer, werden in Kurzbiographien vorgestellt; der soziale Hintergrund der Proteste wird auf diese Weise klar gezeichnet. Der chronologische Aufbau in sechs Kapiteln vom amerikanischen Radikalfeminismus über die Gründung von Frauen- und Weiberräten in der Bundesrepublik bis hin zur Zersplitterung und zum allmählichem Verfall der Bewegung ermöglicht einen umfassenden Überblick, inklusive der Erfolge beim Kampf gegen die Kriminalisierung von Abtreibung oder gegen geschlechtsspezifische Ungleichheit.
Die Frauenbewegungen im Europa der Gegenwart stehen im Mittelpunkt eines Bandes, der sich diesem stiefmütterlich behandelten Thema endlich unter vergleichendem Blickwinkel nähert:

Ingrid Miethe/Silke Roth (Hg.): Europas Töchter. Traditionen, Erwartungen und Strate-
gien von Frauenbewegungen in Europa, Leske + Budrich: Opladen 2003, 291 S., ISBN 3-8100-3840-7; 24,90 Euro

Der Sammelband geht zurück auf eine Tagung an der Berliner Evangelischen Akademie im Jahre 2002 und versammelt west- und osteuropäische Perspektiven auf das, was Frauen in Europa bewegen und bewegen können. Ute Gerhard analysiert die Rolle, die die Institutionen der EU als „Rechtsgemeinschaft und politische Gelegenheitsstruktur” für feministische Politik spielt. Beatrice Durand macht auf wichtige Besonderheiten des französischen Falles aufmerksam: jenseits des Rheins lehnt man die Quote als Mittel auch unter „bewegten” Frauen ab, was sie auf die lange republikanische Tradition des Kampfs um Gleichstellung zurückführt, die stärker sei als postmoderne, identitäre Konzepte des amerikanischen Feminismus. Ebenso wird auf den Patriarchatsbegriff sowohl in der wissenschaftlichen als auch politischen Debatte verzichtet. Larissa Lissjutkina stellt die negativen sowjetischen Prägungen ins Zentrum ihres Beitrags, um zu erklären, warum von russischen Frauen in der Geschlechterdebatte ein stereotypes „Aber eine Frau muss eine Frau bleiben!” zu hören ist; hinzu kommen die unterschiedlichen religiös-kulturellen Traditionen im Vielvölkerreich, die eine stärkere Akzeptanz feministischer ldeen verhindern. Eine Bündelung der Beiträge versucht am Ende Silke Roth: es zeigt sich, dass simple Gegensätze wie „Nord-Süd” oder „Ost-West” auf den Zustand der modernen europäischen Frauenbewegungen nicht passen.
In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit der Gegenwart werden sie bislang weitgehend ignoriert: die Frauen und Männer, die sich in der DDR der Diktatur wider-setzten. Ein Taschenbuch will da Abhilfe leisten:

Karl Wilhelm Fricke/Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.): Opposition und Wider-
stand in der DDR. Politische Lebensbilder, C.H.Beck: München 2002, 374 S., ISBN 3-406-47619-8; 14,90 Euro

56 Lebenswege, verfasst von prominenten Autoren wie Carola Stern, Hermann Weber und Falco Werkentin, aber auch von Nachwuchswissenschaftlern und DDR-Experten, stellen die Facetten widerständigen Verhaltens anschaulich dar, ohne sich in methodi-
schen Diskussionen, worin sich denn Dissidenz, Opposition und Protest von Widerstand unterscheiden, zu verlieren. Ein besonderes Verdienst dieser Porträtsammlung besteht darin, prominente Oppositionelle wie Robert Havemann oder Wolfgang Harich ebenso zu berücksichtigen wie kaum bekannte Frauen und Männer, die Zivilcourage und Mut mit Verfolgung bezahlen mussten. Die unterschiedlichen Phasen der Unterdrückung in der DDR, von der Frühzeit bis zu den 1980er Jahren, Iassen sich so noch einmal anschaulich nachvollziehen. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, die Autoren der Beiträge von Seiten der Herausgeber zur stärkeren Vereinheitlichung ihrer Porträts anzuhalten: Qualität und Erkenntnisgewinn unterscheiden sich von Text zu Text doch erheblich — was die grundsätzlichen Verdienste dieses Sammelbandes nicht schmälert.
Schade, dass die Frau des DDR-Regimekritikers Robert Havemann ihre Erinnerungen an ihren Mann nicht selbst geschrieben hat; es hätte ein schönes Buch werden können. So ist ein eigenartiger Zwitter entstanden: nicht aus der Ich-Perspektive, sondern mit versuchter Distanz, wobei Politisches und Privates immer eine interessante, aber in ihrer Unentschiedenheit auf Dauer irritierende Symbiose eingehen:

Katja Havemann/Joachzm Widmann: Robert Havemann oder Wie die DDR sich erledigte, Ullstein: München 2003, 427 S., ISBN 3-550-07570-7; 24,- Euro

Dem Lebensweg des kommunistischen Antifaschisten, der das NS-Zuchthaus überlebte, in der DDR linientreu war bis zu seiner Kehre nach Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag und den Havemann selbst in seiner Autobiographie Fragen Antworten Fragen beschrieben hatte, fügt seine Frau eine schöne Facette hinzu: die Spätzeit aus den 1970er und 1980er Jahren. Viel Dissidentenklatsch erfährt man hier, aber eben auch, wie engagiert politische Grundsatzfragen diskutiert wurden, ob nun Eurokommunismus, Bahros Ideen oder die beginnende Friedensbewegung. Trotzdem gibt Katja Havemann zu wenig preis vom Leben an der Seite des wichtigsten DDR-Oppositionellen, obwohl das personelle Netzwerk, die Freundschaften und Verbindungen, auch über die Mauer hinweg, sichtbar werden. Viele Privatphotos geben den Nachlebenden Einblick in den Alltag eines Regimekritikers, der den Hausarrest in Grünheide bei Berlin erlebt und auf die Ausbürgerung seines engsten Freundes Wolf Biermann reagieren muss. Sowohl die große Havemann-Biographie als auch Katja Havemanns persönliche Erinnerungen an ihn vermag man in dem Buch aber nicht zu entdecken; beide stehen (hoffentlich) noch aus.
Zum politischen Protest gehören Medien, derer er sich bedient — auch in der DDR. Einer dicken Dokumentation fällt nun das Verdienst zu, zum ersten Mal systematisch die Publikationsgeschichte des politischen Samisdat in der DDR in den 1980er Jahren aufzuarbeiten:

Ilko-Sascha ICowalczuk (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der
DDR 1985-1989. Eine Dokumentation, Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.: Berlin 2002, 597 S., ISBN 3-9804920-6-0, (Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs, Bd. 7); 25,-Euro

Ein verblüffendes Werk ist in einer großen Fleißarbeit entstanden: Nach einer profunden einhundert Seiten umfassenden Einleitung des Herausgebers, die die wesentlichen Entwicklungen des Samisdat in der DDR vorstellt und strukturiert, lässt er in Interviews die damals Aktiven zu Wort kommen, um am Ende auf ca. 400 Seiten wichtige Texte jener Zeit zu edieren. Das Themenspektrum ist dabei weit gefasst, viele (Wieder)entdeckungseffekte stellen sich ein: die Situationen in Osteuropa, theoretische Betrachtungen zu Ernst Bloch und Hannah Arendt, Manifeste, offene Briefe, Frieden, Abrüstung, Ökologie, das Verhältnis von Kirche und oppositionellen Gruppen, der Veränderungswille von unten in der DDR, aber auch das Nachwirken der deutschen Frage gehören dazu. Prominente Autorinnen und Autoren der Texte aus jener Zeit sind dabei: Ulrike Poppe, Jürgen Fuchs, Wolfgang Ullmann, Rainer Eppelmann, Uwe Kolbe, Wolfgang Templin und Bärbel Bohley, aber auch viele mittlerweile unbekannte Namen lassen sich finden. Dieses Panorama der DDR-Opposition, unterstützt durch Fotos, Faksimiles und ein umfangreiches und höchst informatives Personenverzeichnis, zeugt von der Kreativität der Bewegung und der erstaunlichen Breite ihrer politisch-publizistischen Aktivitäten. Das Buch dürfte für geraume Zeit das Standardwerk zum Thema bleiben.
Gewaltloser Protest im 20. Jahrhundert ist in der historischen Rückschau mit dem Namen von Mahatma Gandhi verbunden. Vielen Menschen auch in der westlichen Welt galt er als Vorbild. Gleichzeitig gehört der von ihm inspirierte Kampf der Inder gegen den britischen Kolonialismus zu den großen Siegesgeschichten sozialen Protests. In der renommierten Taschenbuchreihe Wissen im Münchner Verlag C.H. Beck ist jüngst eine einführende Darstellung von Leben und Wirken Gandhis erschienen:

Dietmar Rothermund: Mahatma Gandhi, C. H. Beck: München 2003, 128 S., ISBN 3-406-48022-5; 7,90 Euro

Der Verfasser, der lange Zeit in Heidelberg die Geschichte Südasiens lehrte, zeichnet den Weg des 1869 geborenen Juristen nach. Seine Politisierung war nicht vorhersehbar: In Südafrika, wo er als Anwalt tätig war, begann er mit seinem Engagement für die indische Minderheit Mitte der 1890er Jahre, das ihn immer bekannter und zu einer politischen Größe machte. Ein lebenslang durchgehaltenes Keuschheitsgelübde ab 1906 und sein Manifest Indiens Freiheit aus dem Jahre 1909 kennzeichnen die neue Lebensphase: die Nichtzusammenarbeit mit der britischen Kolonialmacht wurde als bestes Mittel im Unabhängigkeitskampf Indiens beschrieben, in das er 1915 zurückkehrte. Dort begann endgültig Gandhis weltweiter Ruhm. Interessant an dem Bändchen sind die Perspektivenwechsel: einerseits ist Gandhi ein Charismatiker, andererseits der geschickte, durch-aus machtbewusste Politiker, der mit allen Seiten verhandeln konnte. Am Ende stand, nach vielen Gefängnisaufenthalten, neuartigen gewaltlosen Protestformen der Verweigerung und symbolischen Aktionen, Indiens Unabhängigkeit, bevor er 1948 von einem Attentäter erschossen wurde. Wie nur wenige regte er die späteren Protestbewegungen der westlichen Welt an — leider kommt in diesem Band Gandhis Nachleben zu kurz.
Protest taucht in vielerlei Gestalt auf — und dass Pop und Protest irgendwie zusammengehören, ist schon beinahe eine Binsenweisheit. Die Zeitschrift Testcard tritt in ihrer jüngsten Ausgabe jedoch den Beweis an, dass diese Allianz weit loser und variantenreicher ist, als man denken könnte. Die Grundhypothese der modischen Cultural Studies, dass jedem popkulturellen Artefakt in der einen oder anderen Form Momente des Widerstands oder der Emanzipation eingraviert sind, wird hier in Bausch und Bogen verworfen:

Testcard. Beiträge zur Popgeschichte #12: linke mythen, Juni 2003, Ventil Verlag:
Mainz, 302 S., ISBN 3-931555-11-9, 14,50 Euro

Diskutiert werden etwa der Weg der Agitrockband Ton Steine Scherben vom „Verfassungsfeind zum deutschen Aushängeschild” (Martin Büsser), der „linke Mythos RAF” (Christian Hißnauer) oder „Bad Religion und die Dialektik der Aufklärung” (Oliver Uschmann). Die insgesamt 32 Beiträge sind beileibe nicht durchgehend lesenswert, viele auch in einem Außenstehenden nur schwer verständlichen Slang-Deutsch geschrieben, doch den Charme der Authentizität erkennt man sofort: Hier schreiben Kenner linker Popkultur über ihren ureigenen Gegenstand.
Dass Musikstile Protestformen sein können, ist spätestens seit der Punk-Bewegung deutlich. Nun macht sich eine Saarbrücker Habilitationsschrift aus dem Blickwinkel der Zeitgeschichte auf, die politische Wirksamkeit von Rap in Frankreich zu untersuchen:

Dietmar Hüser: RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur, Böhlau Verlag: Köln u.a. 2003, 481 S., ISBN 3-412-03903-9; 49,90 Euro

Originell ist nicht nur das Thema, sondern der Autor vermag es auch, soziokulturelle Phänomene der letzten zwanzig Jahre zu deuten, jenseits der ausgiebigen Vermittlung von Rap-Musik-Kenntnissen. Es wird klar, dass die Krisenwahrnehmung von Rap als Unterschichtenproblem der sozial gefährdeten megalomanen Vorstädten nicht ausreicht: Rap erfüllt eine wichtige Integrationsfunktion zwischen Eigensinn und gesellschaftlicher Bindung. Damit widerspricht Hüser weitverbreiteten Vorurteilen, die durch verzerrte mediale Skandalisierung der Rapkultur entstehen. Der Autor hat beim ausgiebigen Musikhören von 130 Platten (eine Diskografie am Ende hilft dem Fan) und bei Liedtextlektüren feststellen können, wie wenig der französische Rap von Spaß, Fun und Party geprägt ist, wie wenig auch von Gewalt und sexueller Aggression. Der Anteil politisch-gesellschaftskritischer Themen ist erstaunlich hoch. Eine Kommerzialisierung lässt sich aber nicht nur an der Plattenproduktion, sondern auch an den vielen Rap-Zeitschriften und Internetforen erkennen. Hüser untersucht Rezeptionsverhalten, musikalische Traditionen, Lebensstil, Jugendkulturen und Protestcharakter, Rituale und Mechanismen dieser musikalischen (oft Immigrations-)Bewegungen, die sich häufig als interaktives Straßentheater verstehen. Interviews mit Praktikern fließen ebenfalls in seine spannende Darstellung ein, die einen Teil moderner kultureller Nationsbildung nachvollziehbar werden lässt.
Jenseits nationaler Begrenzungen rücken heute mehr und mehr weltweite Protestaktivitäten in den Mittelpunkt. 1999 traten sie in Seattle mit einem großen Paukenschlag
erstmals in das Bewusstsein der weiteren Öffentlichkeit: jene Gruppierungen und Zusammenschlüsse, die seither als Globalisierungsgegner oder -kritiker bezeichnet werden. Doch woher kommt der Widerstand, woraus speist er sich? Systematisch nachgegangen wird diesen Fragen in:

Heike T’Valk/IVele Boehme (Hg.): Globaler Widerstand. Internationale Netzwerke auf der Suche nach Alternativen im globalen Kapitalismus, Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2002, 221 S., ISBN 3-89691-515-0; 20,50 Euro

Die Beiträge dieses Sammelbands durchleuchten das Spektrum der Globalisierungskritik in seiner ganzen Breite und Heterogenität. Neben theoretischen Überlegungen zur Herkunft und Zukunft der Bewegung (Elmar Altvater, Pierre Bourdieu, Ulrich Brand, Dieter Rucht) stehen Beiträge zu einzelnen Facetten der Kampagnenführung und Öffentlichkeitsarbeit (Gottfried Oy, Albrecht von Lucke) und zu den der Globalisierungskritik inhärenten Nord-Süd-Widersprüchen (Ronald Köpke). Zudem kommen die „Praktiker” der Bewegung zu Wort: Kaisa Eskola und Felix Kolb schreiben über Attac, Friederike Habermann über Peoples Global Action, Daniel Mittler über Friends of the Earth und Jürgen Kaiser über Erlassjahr.de. Gerade die Mischung aus akademischer Reflexion und Praxisbericht macht das Buch zu einem attraktiven Kompendium über Verfasstheit und Ziele der Globalisierungskritik.
Inneneinsichten in das Entstehen und Wirken von Attac Frankreich finden sich in dem folgenden Bändchen:

Ruth Jung (mit Beiträgen von Jos~ Saramago, Ignacio Ramonet und Bernard Cassen): Attac: Sand im Getriebe, Edition Nautilus: Hamburg 2002, 120 S., ISBN 3-89401-400-8, 9,90 Euro

In einem reportagehaften Essay schildert die Autorin die Gründung und den Aufstieg Attacs und anderer globalisierungskritischer Gruppen vorwiegend in Frankreich. Sie zitiert ausgiebig die führenden Protagonisten der Bewegung, was ein lebendiges Bild von den Positionen und Intentionen der Akteure entstehen lässt. Tiefenanalyse kommt bei dieser Konstruktion leider eindeutig zu kurz, historische Exkurse erscheinen nicht immer ganz sicher platziert. Attac für Anfänger sozusagen. Von Distanz zum Gegenstand ist bei diesem Buch wenig zu spüren. Im Anschluss an den nur 52 Seiten langen Hauptteil finden sich Reden und Dokumente aus dem Umfeld von Attac, so von Jos~ Saramago, Ignacio Ramonet und Bernard Cassen, die zum Teil schon in den Blättern für deutsche und internationale Politik sowie in Le Monde Diplomatique veröffentlicht wurden.
Das folgende Buch muss man da als weitaus gelungener würdigen:

Claus Leggewie: Die Globalisierung und ihre Gegner, C.H. Beck: München 2003, 206 S., ISBN 3-406-47627-9; 9,90 Euro

Der Autor, nach eigenem Bekenntnis ein Sympathisant der Globalisierungskritiker, der jedoch zugleich auf seinem Recht zum unabhängigen Urteil beharren möchte, unternimmt hier den Versuch, die Globalisierung und ihre Kritiker politikwissenschaftlich zu beschreiben und zu systematisieren. Zur Kennzeichnung der Globalisierung wählt er die Begriffe Entgrenzung (Ablösung des Nationalstaats als Bezugseinheit durch größere Entitäten), Glokalisierung (das ständige Zusammenspiel globaler und lokaler Faktoren) sowie Hybridität (die Entstehung von kulturellen Mischgebilden, die teils lokal bzw. national und teils global geprägt sind). In einem zweiten Analyseschritt werden dann die Kritiker der Globalisierung unter die Lupe genommen. Leggewie unterscheidet zwischen Globalisierungskritik von rechts (etwa neo-nationalistischen Strömungen), von links („Die Kritik der Straße“), aus den einschlägigen Institutionen des globalen Kapitalismus heraus (etwa der Börsenspekulant George Soros), durch linke Intellektuelle, die im Zuge dessen eine eindrucksvolle Renaissance erleben, und durch die katholische Kirche. Seziert werden dann all diese Gruppen im Hinblick auf ihre Organisations- und Protestformen, ihr Zukunftspotenzial und vor allem ihren möglichen Beitrag für eine künftige Weltgesellschaft mit neuen demokratisch legitimierten Strukturen. Gerade durch den systematisierenden Anspruch ist dieses Buch eine hervorragende Einführung in die Welt des entfesselten Ökonomie und der durch sie hervorgebrachten Gegenbewegungen.

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