Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 180: Parteien im Umbruch

Die Krise als Heraus­for­de­rung

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S.34-42

Einleitung

Parteien haben einen denkbar schlechten Ruf. Parteimitgliedschaft gilt als wenig sexy, die Parteien erfüllen ihre Aufgaben, so die landläufige Meinung, mehr schlecht als recht. Die Programme, monieren die Kritiker, seien unzulänglich, die Personalauslese zufällig, die Reformpolitik der letzten Jahre ohne Fundament und Rückhalt in der Gesellschaft. Kein Wunder, dass ihnen daher die Mitglieder wegliefen, sich die Mehrheit der Bevölkerung mit ihrer Arbeit unzufrieden zeige und sich die Parteienlandschaft auffächere. Das Wort von der Krise der Repräsentation macht die Runde.

Was ist dran an dieser These? Trifft die Analyse ins Schwarze? Will man die Fragen angemessen, ausgewogen und frei von Polemik beantworten, gilt es, die einzelnen Funktionen der Parteien unter die Lupe zu nehmen: Erstens die Artikulation und Bündelung gesellschaftlicher Interessen, zweitens die Mobilisierung der Bürger, drittens die programmatische Zukunftsfähigkeit, viertens die Regierungsbildung und die Beeinflussung der Regierungspolitik.

Artiku­la­tion und Bündelung gesell­schaft­li­cher Interessen

Nach langwierigen Diskussionsprozessen haben sich die beiden großen Regierungsparteien jüngst neue Grundsatzprogramme gegeben, um angesichts elementar veränderter Rahmenbedingungen auf der Höhe der Zeit zu sein. Seit den letzten Grundsatzprogrammen haben sich die Welt und mit ihr die prinzipiellen Herausforderungen gewandelt: Erinnert sei nur an die anschwellenden Handelsströme, das entfesselte Kapital, erstarkte globale Mächte, neue terroristische Bedrohungen, die demografischen Verwerfungen in einigen westlichen Industrieländern und natürlich die ökologische Herausforderung, vor der wir stehen und die wir gemeinsam bewältigen müssen.

Die Programmdebatten der Parteien verliefen dabei offener als in der Vergangenheit. Die Parteien waren verstärkt bemüht, Mitglieder zu aktivieren, externen Sachverstand zu gewinnen und engagierte Bürger in den Diskurs einzubeziehen – vor dem Hintergrund einer geschrumpften Mitgliederbasis und angesichts eines geschwächten Kontakts zu Vorfeldorganisationen eine grundlegende Voraussetzung für die programmatische Erneuerung. Die Parteien griffen, um die Beteiligung zu erhöhen, auch auf neue Möglichkeiten und Chancen politischer Kommunikation zurück, die sich durch das Internet eröffnet haben. Allerdings war, wie die Zahl der Eingaben belegt, die Resonanz auf die Öffnung der Programmdebatte, insbesondere über die neuen Medien, im Ergebnis ernüchternd.

Die Strategie der Parteien, der sozialen Entwurzelung durch abgesenkte Hemmschwellen, innovative Beteiligungsformen und neue Anreize entgegenzuwirken, ist richtig. Wollen die beiden großen Parteien, die traditionell gesellschaftlich ebenso breit wie tief verwurzelt gewesen sind, programmatisch zukunftsfähig, gesellschaftlich verankert und bürgernah bleiben, müssen sie verstärkt versuchen, ihre gesellschaftlichen Lebensadern zu bewahren und ihre gesellschaftlichen Kapillarsysteme zu verfeinern.

Allerdings ist die organisatorische Modernisierung der Parteien nicht entscheidend vorangekommen: Der Austausch mit der Wissenschaft, der Dialog mit der Wirtschaft, die Diskussion mit der Kultur und der Kontakt mit der Zivilgesellschaft sind zentral. Inhaltliche Aufgeschlossenheit erfordert flexible und dezentrale Strukturen, feste und temporäre Netzwerke sind das Gebot der Stunde. Parteien müssen neben den klassischen Organisationsstrukturen zu modernen Netzwerkorganisationen werden. Denn die Volksparteien bilden sozialstrukturell in ihrer Mitgliedschaft die siebziger und achtziger Jahre ab und organisieren eben nicht die Kompetenzen einer modernen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Um diese zu erreichen sind Netzwerke für Parteien unersetzlich, nur so lassen sich programmatische Antworten auf der Höhe der Zeit formulieren. Das bedeutet jedoch ein neues, weiterentwickeltes Organisationsverständnis und eine Reform der innerparteilichen Strukturen. Diese sind heute nur allein Macht-, Sprachregelungs- und Rekrutierungsstrukturen, aber keine Wissens-, Programm- oder Kompetenzstrukturen. Diese lassen sich nur jenseits, aber verkoppelt mit den klassischen Parteienstrukturen etablieren. Parteireformen sind überfällig.

Mobili­sie­rung: Wettstreit um knappe Aufmerk­sam­keit

Mobilisierung ist nicht leichter geworden. Grundsätzlich hat der Glaube an die Gestaltungskraft der Politik nachgelassen – und damit das Gefühl, politisch selbst einen Unterschied machen zu können. Über die Ursachen lässt sich trefflich streiten. Manche mögen an politischen Antworten auf komplexe Sachverhalte zweifeln, andere die Frage nach dem Primat von Wirtschaft und Politik stellen. Die Globalisierung wird vielfach als Automatismus wahrgenommen, der das eigene Leben beschleunigt, der mit Unsicherheit verbunden ist und dem die Politik wenig entgegenzusetzen hat. Und Politik verspricht gegenwärtig nur in Grenzen Aufstiegsmobilität und vermittelt angesichts notwendiger Veränderungen eben nicht Sicherheit durch Wandel.

Die rückläufigen Mitgliederzahlen, mit denen die Parteien seit Jahren zu kämpfen haben, sind wohlbekannt. Der Schwund betrifft nicht nur Parteien, sondern alle gesellschaftlichen Großorganisationen, von den Kirchen über die Gewerkschaften bis zu den Verbänden. Aller Voraussicht nach wird der Trend anhalten. Denn die Hintergründe dafür sind in einschneidenden gesellschaftlichen Umbrüchen zu finden. Die Lebenslagen differenzieren sich, die „Postmoderne“ schlägt sich in Individualisierung und Pluralisierung nieder, traditionelle Milieus lösen sich auf und mit ihnen die Stammwählerschaft. Parteibindung von der Wiege bis zur Bahre ist die Ausnahme.

Den Parteien ist starke Konkurrenz durch gesellschaftliche Initiativen erwachsen. Sie bieten projektbezogenes Engagement statt kontinuierlicher Parteiarbeit. Daran ändern auch die technologische Innovation des Internets und gesunkene Kommunikationskosten wenig. Letzten Endes ist ein Typenwechsel, von der Honoratioren-, über die Massen- und die Volkspartei bis zu den Wählerparteien (von Beyme) zu beobachten.

Parteien treten in Konkurrenz zu einer Vielzahl medialer Angebote, einer wachsenden Informationsmenge sowie schneller werdenden Informationszyklen in einer pluralisierten und kommerzialisierten Medienlandschaft. Die daraus resultierenden knappen Aufmerksamkeitsressourcen der Bürger stellen die Parteien vor zusätzliche Herausforderungen.

Wahlenthaltung muss nicht automatisch Verdruss bedeuten, sie kann ebenso das Ergebnis eines rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls sein (Downs). Polarisierung und die Auswahl aus klaren Politikalternativen politisieren und mobilisieren, sie vermitteln das Gefühl, mit Parteimitgliedschaft und Stimmabgabe einen Unterschied machen und politisch etwas ändern zu können. Hingegen haben die konsensdemokratischen Strukturen der deutschen Aushandlungsdemokratie eine demobilisierende und depolitisierende Wirkung.

Strate­gie­fä­hig­keit in der Medien­ge­sell­schaft

Strategie heißt gezielte politische Führung, das Aufstellen präziser Regeln, die Festlegung verbindlicher Abläufe und darauf aufbauend die Organisation politischer Planungsprozesse. Strategie basiert auf Erfahrungen, Wissen, Antizipation, und ist der Versuch, diese Elemente fortzuschreiben und nutzbar zu machen. In der heutigen komplexen politischen Landschaft scheint dies schwierig, viele halten es gar für unmöglich. Vieles muss neu gedacht, neu entwickelt werden, ohne genau zu wissen, wie sich Themen, Ereignisse, Prozesse entwickeln, wie sie sich – häufig abrupt – verändern und neu sortieren.

Strategisches Denken wird häufig verwechselt mit programmatischen Entwürfen. Sicherlich gehören auch komplexe Wert- und Zielorientierung dazu, gewissermaßen als Koordinatensystem. Unter den Bedingungen der Mediendemokratie brauchen Parteien um strategisch erfolgreich sein zu können aber vor allem:

• Ein Gesicht (Personifizierung), denn Personen stehen für Kontinuität, Orientierung, Werthaltungen und vermitteln Vertrauen über ihre Lösungs- und Zukunftskompetenz.

• Ein Etikett (Botschaften), denn wegen der enormen Komplexität von Sachthemen und konkurrierenden Akteuren kann Politik einem breiten Publikum nur über eine symbolische Kasuistik Themen vermitteln.

• Ein Aroma (Stilistik), denn Parteien brauchen in der differenzierten Mediengesellschaft Widererkennungsmuster.

• Einen Markenkern (Leitbilder), denn Werte und Leitbilder sind für die Orientierung, das Vertrauen und die Zustimmung der Menschen wichtiger als einzelne Instrumente, die häufig die politische Debatte beherrschen.

In der Politik gelten andere Regeln und Voraussetzungen als im Gros der anderen „Branchen“. Das Produkt hat ständig wechselnde thematische Facetten, die Definition des Produktes ist umkämpft, eine Vielzahl von Akteuren ist engagiert. Die Budgets für politisches Marketing sind vergleichsweise niedrig und das Produkt „Politik“ sowie seine Macher sind schwer im Zaum zu halten. Die Herausforderung, täglich schnell und flexibel zu reagieren, unterscheidet politische Kommunikation von der Marken-Kommunikation. Die schnelle Abfolge von Ereignissen und handelnden Personen schafft eine wahrscheinlich einzigartige Wettbewerbssituation.

Was setzt den Maßstab für Strategiefähigkeit? Erfolg wird an der Zustimmung in der eigenen Organisation, an den Bewertungen in den Medien, am Verhalten von organisierten Interessengruppen, in erster Linie aber an den Wahlergebnissen gemessen. Oberstes Ziel politischer Steuerung ist die Gewährleistung einer längerfristigen strukturellen Mehrheitsfähigkeit bei gleichzeitiger Problemlösungskompetenz.

An diesem übergeordneten Ziel muss sich politisches Management, muss sich der Versuch politischer Steuerung orientieren. Denn ohne das Mandat einer Mehrheit bleiben Programme Papier, bleibt Organisation Selbstzweck. Dies heißt nicht Beliebigkeit, dies heißt nicht Stimmungen, Wahlergebnisse oder Meinungsforschung zum alleinigen oder auch nur vorrangigen Maßstab seines Handelns zu machen. Aber es heißt, politische Initiativen und Diskurse immer wieder unter diesem Blickwinkel zu bewerten.

Politische Kommunikation und ihre Steuerung ist ein wesentliches Element der Strategiefähigkeit:

• Politische Kommunikation macht Politik sichtbar und erfahrbar.

• Politische Kommunikation vermittelt Orientierungs-, Vorstellungs- und Deutungsmuster.

• Politische Kommunikation bietet Werte und Konsensformen an.

• Politische Kommunikation ermöglicht emotionalen Zugang.

• Politische Kommunikation konfrontiert mit Themen.

Politische Kommunikation ist umkämpft – es existieren Deutungen und Gegendeutungen. Zudem ist das mediale Angebot nahezu exponentiell gewachsen. Vieles bleibt im Kommunikationsdickicht dieses Angebotes hängen und gelangt nicht zum Wähler. Das stellt klare Anforderungen an die kommunikative Kompetenz:

• Botschaften brauchen Programmatik: Ein Thema muss für die Wähler von Interesse und Relevanz sein, kann aber Personen, Werte und Inhalte, die im Mittelpunkt der politischen Debatte stehen, nie ersetzen.

• Botschaften müssen inklusiv und exklusiv sein: Möglichst breite Wählerschichten müssen sich angesprochen fühlen, dennoch muss das Profil von Parteien erkennbar sein. Parteien mit ausschließlich exklusiven Botschaften sind Nischenspieler im politischen Prozess.

• Botschaften müssen glaubwürdig sein: Nur wer glaubwürdig ist, kann überzeugen. Dazu müssen Personen, Programm und Botschaften in sich stimmig sein. Wer erfolgreich diese drei Elemente verknüpft, kann nachhaltig wirken.

• Botschaften müssen wiederholt werden. Nur so werden sie öffentlich wahrgenommen.

• Botschaften müssen individualisiert werden: Nur wenn Botschaften dem Kommunikationsverhalten von Zielgruppen entsprechen, werden diese sie aufnehmen.

• Politische Botschaften müssen personalisiert werden: Sie sind nur dann erfolgreich, wenn Personen sie verkörpern, denn Personen stehen für Inhalte. Sie ermöglichen dem Publikum die Identifikation mit der Politik, da handelnde Menschen Kontinuität und Orientierung in ständig wechselnden Konstellationen repräsentieren.

Erfolg ist aber im hohem Maße davon abhängig, inwieweit sich aus formalen Führungselementen ein allseits akzeptierter Kern herausbildet, der sich nach selten fixierten gleichwohl verbindlichen Regeln richtet, mit verteilten Rollen und gleichwohl akzeptierten Autoritäten operiert und bei aller Interessenvielfalt einen Kern von gemeinsamen Zielen herausbildet. Ein akzeptierter Kern, der

• Themen, Akteure und Vorgehensweisen regelmäßig, verlässlich und nachvollziehbar koordiniert,

• auf das Wesentliche, auf Schlüsselthemen und deren personelle, symbolische und inhaltliche Besetzung konzentriert,

• Klarheit, Anerkennung und unterschiedliche Wertfundamente von Entscheidungen in Kontroversen kenntlich machen.

Nur wenn es gelingt, diese vier „Ks“: Kompetenz, Koordination, Konzentration und Kontroversen zu verbinden, kann politische Strategie und Kommunikation gelingen. Die Politische Kommunikation steht zu neuen Herausforderungen; sie setzt Strategiefähigkeit voraus.

Voraus­set­zungen für Reform­po­litik und Reform­kom­mu­ni­ka­tion

Strategiefähigkeit hat Voraussetzungen. Das strategische Paradox der Partei muss überwunden werden. Dieses Paradox besteht darin, dass wie in kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich, die Notwendigkeit von Strategiefähigkeit und Strategiebildung des Kollektivakteurs konfrontiert ist mit der Dominanz nicht-kollektiver, sondern individueller Strategiemotive. Die Parteienforscher Raschke und Tils bringen dieses Strategieparadoxon auf die folgende Formel:

„Politik ist voll von Taktik, arm an Strategie. Strategie muss dem politischen Betrieb abgerungen werden, nie tendiert er von selbst dazu. Selten gibt es Zeit, Räume und Ressourcen, Strategie vertiefend zu behandeln. Drei Ursachen der Strategiemalaise heißen: Permanenz individueller Macht- und Konkurrenzkämpfe (die für Strategiebildung notwendiges Vertrauen zerstören); Strategie-Paradox der Organisation (strategische Fähigkeiten sind zwar kein Auswahlkriterium für Spitzenleute, anschließend aber eine wesentliche Erwartung an sie); Doppelrolle als Spitzenpolitiker und Stratege in einer Person (verantwortlicher Produzent und zugleich wichtigster Anwender von Strategie).“(Raschke/Tils 2007 (b))

Dieses Paradoxon zu verändern, ist Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Politik. Diese kann sich allerdings nicht in der Vermeidung falschen Verhaltens erschöpfen. Erfolgreiche Politik basiert vielmehr auf der Verknüpfung mehrerer Elemente:

• Strate­gi­sches Zentrum

Die erste und wichtigste Voraussetzung lautet: Politik braucht ein strategisches Zentrum. Dieses definiert sich nicht allein über die Tatsache, in welchem Ministerium wer sitzt. Es geht vielmehr darum, die richtigen AkteurInnen zum richtigen Zeitpunkt unter den richtigen Fragestellungen zusammen zu bringen und Entscheidungsprozesse zu organisieren. In dieser Hinsicht herrscht in der deutschen Politik ein Strategiedefizit. Dazu gehören eine inhaltliche sowie eine kommunikative Dimension. Man muss sich darüber im Klaren sein, welches mediale Umfeld, welche Veto-SpielerInnen und welche Mehrheitsverhältnisse zu berücksichtigen sind.

• Program­matik und Leitidee

Reformen brauchen zwei Dinge: eine umfassende Programmatik und eine Leitidee. Diese beiden Elemente sind für die Kommunizierbarkeit, die Akzeptanz und die interne Durchsetzbarkeit von entscheidender Bedeutung.

• Reform­kom­mu­ni­ka­tion als Werte­de­batte

Will Reformkommunikation erfolgreich sein, muss sie eine Werte- und darf keine Instrumentendebatte sein. Das ist nicht neu und wunderbar nachzulesen bei George Lakoff. Er untersucht seit vielen Jahren kommunikative Prozesse und kommt immer wieder zu dem Ergebnis, dass erfolgreiche Kommunikation eben einen Wertekontext, einen ‚frame‘, schaffen muss, um Instrumente plausibel kommunizierbar zu machen1. Das illustriert die Debatte über den Spitzensteuersatz, die nie eine steuerpolitische Diskussion war. Im Kern war sie eine Gerechtigkeitsdebatte – und insofern eine Wertedebatte über die Frage, welche Schultern welche Lasten in dieser Gesellschaft zu tragen haben.

• Wachstum und Beschäf­ti­gung als klar vermittelte Reformziele

Wir müssen die Reformen und die Reformdebatte in Deutschland vom Kopf auf die Füße stellen. Die politischen AkteurInnen verlieren sich zu häufig in Diskussionen über einzelne Reformsegmente oder einzelne Reforminstrumente. Hingegen wird die entscheidende Frage, nämlich welche Voraussetzungen wir für Wachstum und Beschäftigung in den nächsten Jahren brauchen, nicht thematisiert. Die Zukunft des Sozialstaats wird zwar intensiv erörtert. Doch in der öffentlichen Auseinandersetzung scheint es nur die eine Strategie, die des ‚down-sizing‘ zu geben, der Anpassung durch Kürzungen, Beschränkungen und Sparmaßnahmen. Das ist den BürgerInnen nur außerordentlich schwer zu vermitteln. Von daher sollten die innovativen Zukunftsfragen in den Vordergrund gerückt werden: Welches sind die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung? Was tun wir an der investiven Front? Was tun wir im Qualifikationsbereich? Wie sieht moderne Industriepolitik aus?

Eine Bemerkung an dieser Stelle: der Aufschwung, den wir gegenwärtig erleben und über den viele rätseln, hat mit dieser Reformpolitik wenig zu tun. Der Aufschwung ist die Folge eines über die Jahre aufgebauten Investitionsstaus, der sich nun auflöst. Zusätzlich gab es unbestritten einige hilfreiche Strukturentscheidungen. Doch der Kapitalstock in Deutschland war so veraltet, dass diese Investitionsentscheidungen auch ohne begleitende Reformen nicht mehr länger hätten hinausgeschoben werden können.

• Dialektik von Sicherheit und Wandel

Ein weiteres Prinzip erfolgreicher Reformpolitik und Reformkommunikation heißt: Sicherheit im und durch Wandel. Man kann Menschen nur für Reformen gewinnen, wenn man ihnen bei notwendigen Anpassungen sagen kann, was letztlich bleibt, was bei den Veränderungen für sie kalkulierbar ist. Schließlich geht es dabei um ihre persönliche Lebensplanung. Teile unserer Reformdebatte haben den Eindruck vermittelt, man müsse Deutschland komplett neu erfinden. Das führte zu großer Verunsicherung in der Bevölkerung. Daher geht es vielmehr darum, die Dialektik von Sicherheit und Wandel – also auch die Sicherheit durch Wandel – in den Vordergrund zu rücken (siehe Müntefering/Machnig, 2001).

• Leadership

Die letzte und mithin wichtigste Voraussetzung für Reformprozesse ist Leadership. Reformprozesse brauchen unbedingt Führungskompetenz. Max Weber hat in seinem Vortrag Politik als Beruf 1 von 1919, dies auf den Begriff gebracht:
„Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ,dennoch!‘ zu sagen vermag, nur der hat den ,Beruf‘ zur Politik.“

Program­ma­ti­sche Zukunfts­fä­hig­keit

Programmatik ist mehr als Regierungshandeln, das politische Alltagshandeln muss aber an sie anschlussfähig sein. Sie muss die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundkoordinaten klar analysieren und klare Prioritäten setzen, sie muss Leitbilder entwerfen und gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglichen. Eine realpolitische Wertepolitik kann der Politik neue Anziehungskraft verleihen. Sie gibt Menschen gerade in komplexen und schwer überschaubaren Zeiten Orientierung (Morris). Parteiprogrammatik hat die Aufgabe, die Leitbilder auf verschiedenen Politikfeldern kurz-, mittel- und langfristig zu konkretisieren. Diese Leitbilder und die aufgezeigten Lösungswege müssen mit der Parteitradition kontextualisiert und verknüpft werden. Denn es geht, technisch gesprochen, um den „Markenkern“ der Partei und um ihren „Wiedererkennungswert“. Für die Sozialdemokratie liegen die Werteschwerpunkte in einer Neubestimmung der sozialen Gerechtigkeit und im ökologischen Umbau der Wirtschaft und der Gesellschaft, beides unter dem Vorzeichen globaler Umwälzungen.

Programmatik muss veränderte politische Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft berücksichtigen. Denn ohne politische Mehrheiten bleiben Programme Papierarbeit.

Zugleich darf, um der politischen Glaubwürdigkeit willen, zwischen Parteiprogrammatik und Regierungshandeln keine allzu große Diskrepanz bestehen. Gerade in einem konsensgeprägten politischen System wie dem deutschen besteht die Gefahr, dass politische Entscheidungen in der Öffentlichkeit nicht als das Ergebnis notwendiger politischer Kompromisse wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Ausdruck von Allerweltsparteien.

Programmprozesse der Parteien stehen im Widerspruch zur Logik der Medien (Th. Meyer). Dieser Widerspruch ist durch die medialen Umbrüche der letzten Jahre, durch die Auffächerung und Kommerzialisierung der Medienlandschaft und den Wettstreit um knappe Aufmerksamkeitsressourcen, verschärft worden. Politische Programme lassen sich nur schwer medien- oder gar kameragerecht übersetzen. Das für die Aussagekraft von Programmen notwendige Maß an Komplexität, der Blick sowohl auf die innerparteiliche wie die gesellschaftliche Umsetzbarkeit vertragen sich schlecht mit den medialen Wunschprojektionen von der erlösenden Formel und dem ersehnten Königsweg. Diese unterschiedlichen Funktionslogiken von Programm- und Medienprozessen erschweren den gesellschaftlichen Dialog über Inhalt und Stellenwert von Parteiprogrammen.

Regie­rungs­bil­dung und Regie­rungs­po­li­tik: die Herrschaft des kleinsten gemeinsame Nenners

Eine Kernfunktion der Parteien besteht darin, Macht zu gewinnen, um gestalten zu können. Wie der Blick ins Ausland zeigt, ist die Koalitionsfähigkeit der Parteien nicht selbstverständlich, im Falle der Bundesrepublik wegen des Wahlsystems jedoch essentiell für die Regierungsstabilität. In Deutschland ist die Regierungsstabilität im internationalen Vergleich hoch, wie sich an der Lebensdauer der Regierungen und augenscheinlich an der kurzen Reihe der Nachkriegskanzler ablesen lässt.

Die Kehrseite der Koalitionsregierungen ist häufig eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das Fünfparteiensystem erhöht die Zahl der Vetospieler. Ursächlich für die Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners ist aber nicht bloß die Zahl der Koalitionspartner. Die Machtstreuung, die der Parlamentarische Rat dem Grundgesetz unter dem Eindruck der historischen Erfahrungen einprägte, hat im Laufe der Jahrzehnte durch Verfassungsänderungen, durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und auf Grund der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Länder zugenommen. Steht das Land vor großen systemimmanenten Herausforderungen, ist es starken exogenen Schocks ausgesetzt und treten dazu womöglich noch unterschiedliche Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, werden die Nachteile der Konstruktion offensichtlich: mühsam und intransparent ausgehandelte Kompromisse auf kleinstem gemeinsamen Nenner oder parteipolitische Blockaden. Die Architektur des politischen Systems erzwingt durch die vielen Vetopositionen Kooperation, begrenzt die Politisierung und letztendlich die Teilhabe der Bürger.

Auch die Föderalismusreform hat an den Grundzügen der „gefesselten Republik“ (Scharpf) grundsätzlich nichts verändert. Deren Ziel, die Zustimmungsquote entscheidend zu senken, scheint verfehlt, so dass auch weiterhin parteipolitische Vetos im Bundesrat oder informelle große Koalitionen drohen. Der Strukturbruch zwischen Bundesstaat und Parteienwettbewerb besteht fort. Das politische System bleibt reformresistent, das Korsett des Konsenses eng geschnürt, der politische Prozess in vielen Punkten intransparent – von der Dunkelkammer des Vermittlungsausschusses bis zur Verflechtung zwischen Ländern, Bund und der Europäischen Union. Es existiert auch in der Regierungspolitik ein Widerspruch zwischen medialen Imperativen und den langsam mahlenden Mühlen der Aushandlungsdemokratie. Wachsende Komplexität, zunehmende Wechselwirkungen und institutionelle Restriktionen bleiben unterbelichtet.

Fazit

Gekriselt hat es in der bundesrepublikanischen Parteiengeschichte immer wieder, sei es in Form der außerparlamentarischen Opposition oder in Gestalt „ausfransender Ränder“ innerhalb des Parteiensystems. Um nicht in wohlfeile Parteienschelte zu verfallen und den Parteien gerecht zu werden, muss man die komplizierten Rahmenbedingungen bedenken, unter denen sie agieren müssen: gravierende gesellschaftliche und mediale Wandlungsprozesse, das enge Korsett des politischen Systems und die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen. Die Erneuerung der Parteien muss gerade deswegen oben auf der Tagesordnung stehen.

[1] U.a. Lakoff, George (2004): Don’t think of an elephant! Know your values and frame the debate, White River Junction: Chelsea Green Publishing; oder Lakoff, George / Johnson, Mark (2004): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.

[2] Weber, Max (1992; 1919): Politik als Beruf, Ditzingen: Reclam, Wiederauflage.

Literatur

Beyme, Klaus von: Parteien im Wandel: von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien. Wiesbaden, Westdeutscher Verlag 2000.

Downs, Anthony: An economic theory of democracy. New York, Harper 1957.

Machnig, Matthias: Politik 2.0? In: Ahrens, Rupert et. al.: Die neuen Kommunikations- und Medienwelten. Kommunikationsmanagement in der Online-Gesellschaft. Berlin, UMC University Press, im Erscheinen.

Müntefering, Franz; Machnig, Matthias; Sicherheit im Wandel, Berlin 2001.

Meyer, Thomas: Medienlogik und Programmdebatte. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 7 + 8/2007, S. 75-79, Bonn 2007.

Morris, Dick: Die sozialdemokratischer Herausforderung: Der Übergang von Wirtschaftsthemen zu Wertvorstellungen. In: Machnig, Matthias und Bartels, Hans-Peter (Hrsg.): Der rasende Tanker. Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation, S. 171-184. Göttingen, Steidl, 2001.

Raschke, Joachim; Tils, Ralf (a): Strategie – Eine Grundlegung; Wiesbaden 2007.

Raschke, Joachim; Tils, Ralf (b): 10 Thesen Politische Strategie – eine Grundlegung, hektographiert, 2007.

Scharpf, Fritz W.: Die gefesselte Republik. In: Die Zeit -Agenda Deutschland, Nr. 35, 9, 2002.

nach oben