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Editorial

aus: vorgänge Nr. 180 (Heft 4/2007): Parteien im Umbruch, S. 1-3

Erbarmen mit den Parteien. Längst ist „die originellste Innovation der Demokratie“, wie Norbert Blüm sie einst nannte, zum Sinnbild ihres Niedergangs mutiert. Parteienverdruss taugt mittlerweile zum Zeitvertreib einer maulenden Mehrheit wie zur Selbstverständigung einer sich darob kritisch wähnenden Presse. Billiger ist kaum Zuspruch zu erzielen, als mit der Schelte der „Organe der politischen Willensbildung“, denen man vieles zutraut, nur nicht die Erfüllung dieses verfassungsrechtlichen Auftrages. Die Rede von Niedergang der Parteien ist mittlerweile Routine, die sich meist in einem kraftvollen „selber schuld“ erschöpft, ohne die Konsequenzen dieser real stattfindenden Deformation des demokratischen Systems zu bedenken. Die sind gravierend, denn egal was man von Parteien hält, sie sind ohne Alternative. Sie sind die einzige gesellschaftliche
Organisation, die in der Lage ist, den Willen der Bevölkerung dauerhaft zu bündeln und in parlamentarisch kontrollierte Macht umzusetzen.

Vor vierzig Jahren leiteten die Ereignisse des Jahres 1968 eine Hochphase der Parteien in Deutschland ein, mit dem Fall der Mauer und der deutschen Vereinigung schien eine zweite Blüte zu folgen. Doch gerade dort, wo seinerzeit der demokratische Aufbruch von einem breiten gesellschaftlichen Engagement getragen wurde, weist die Parteiendemokratie mittlerweile ihre größten Defizite auf. Eine Mitgliederzahl, die dem Begriff der Volkspartei Hohn spricht, geht einher mit einer Wahlbeteiligung, die immer neue Tiefstände zu verzeichnen hat. Was zunächst als strukturelles Erbe einer jahrzehntelangen Diktatur diagnostiziert wurde, ist spätestens ein bundesweiter Trend, seit von der rot-grünen Bundesregierung ein Reformprozess in Gang gesetzt wurde, der in der Bevölkerung, aber vor allem innerhalb der SPD, auf massive Ablehnung stieß. Seitdem
hadert nicht nur die SPD mit der Frage, wie Akzeptanz für eine Politik erreichbar ist, die mit Einschnitten in soziale Besitzstände verbunden ist. Das Ende der rot-grünen Koalition geht einher mit der Gründung der Partei „Die Linke“. Damit hat sich in Deutschland ein Fünf-Parteien-System etabliert. Ob es von Dauer sein wird, ist derzeit nicht prognostizierbar. Doch es hat gravierende Folgen für kommende Regierungsbildungen. Die inneren Grenzen einer Großen Koalition sind alltäglich erfahrbar, die inneren Spannungen einer Drei-Parteien-Koalition sind zwar absehbar, aber noch nicht messbar. Derzeit scheint keine Partei in ihrer Struktur und Willensbildung auf eine solche Bündniskonstellation vorbereitet. Zudem gibt mit dem Ende der rot-grünen Ära eine Politikergeneration allmählich das Heft aus der Hand, deren politische Sozialisation mit der Ziffer 68 markiert ist. Dies alles sind genug Zäsuren, dem Umbruch des Parteiensystems die vorliegende Ausgabe der vorgänge zu widmen.

Elmar Wiesendahl sieht die Volksparteien auf Grund des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels der zurückliegenden Jahre an die Grenzen ihrer Integrationskapazitäten angelangt. Ihnen mangele es zudem an zündenden Ideen, wie der Entsolidarisierung Einhalt zu gebieten sei. Heiko Biehl vertieft die pessimistische Analyse mit einem Blick auf die soziale Zusammensetzung der Parteien. Dort dominieren mittlerweile die Akademiker. Von einer Repräsentanz aller sozialen Schichten kann keine Rede mehr sein, vor allem die gering Gebildeten treten als Subjekte politische Prozesse nicht mehr in Erscheinung. Joachim Raschke vergleicht die Strategiefähigkeit der Parteien und konstatiert vor allem auf Seiten der drei linken Parteien erhebliche Defizite. Immobilismus und Scheinpolitik sind zu einem Markenzeichen der Großen Koalition geworden, doch auch die kleineren Parteien sind strategisch kaum auf die neuen Herausforderungen eines Fünf-Parteien-Systems vorbereitet. In seiner Diagnose des gewachsenen Handlungserfordernisse und der geschrumpften Handlungsmöglichkeiten ist Matthias Machnig ähnlich skeptisch, doch begreift er das eher als eine Aufforderung zur Erneuerung der Parteien.

In ihrem Bemühen, sich der lästigen Konkurrenz an ihrer linken Seite zu erwehren, operiert die SPD verstärkt mit dem Vorwurf des Populismus. Ein untauglicher Versuch, wie Karin Priester darlegt, denn die Partei „Die Linke“ habe mit Populismus so viel gemein wie Marx mit Proudhon. Zudem plädiert Priester dafür, den Begriff nicht allein in diffamatorischer Absicht zu gebrauchen, sondern sich der vielschichtigen Bedürfnisse, die in ihm zum Ausdruck kommen, differenziert zu nähern.

Überaus faktenreich legt Manfred Güllner den Niedergang der SPD dar und räumt dabei gleich mit zwei Legenden auf: Die Verluste haben viel früher eingesetzt, als dass sie allein mit der Schröderschen Agendapolitik begründet werden könnten, und der vermeintliche Linksruck, der seit Wochen durch die Feuilletons und Parteizentralen geistert, lässt sich empirisch nicht belegen. Bezeichnender ist für Güllner ein anderer Zusammenhang: der zwischen der Neigung zu ideologischer Selbstbespiegelung und mangelnder Wählerakzeptanz. Mit dem von Kurt Beck eingeschlagenen Kurs werde die SPD weiter an Vertrauen verlieren.

Daniela Forkmann durchleuchtet den rasanten Aufstieg der „Netzwerker“ in der SPD, die mittlerweile, trotz einiger Rückschläge, an den Schaltstellen der Macht Platz genommen haben. Dabei half ihnen nicht zuletzt, was sie so farblos erscheinen lässt: ein kooperativer und wenig konfrontativer Politikstil, der lieber Netze bildet als ideologische Gräben zieht. Auch bei den Gewerkschaften macht sich eine neue Generation bemerkbar. Sie ist, wie Stephan Klecha darlegt, auf die eigenen Interessen und eine erkennbare Distanz zu allen Parteien bedacht. Darin unterscheidet sie sich von denjenigen, für die der Schulterschluss mit der SPD noch eine Selbstverständlichkeit war, aber auch von denen, die sich der Partei „Die Linke“ zuwenden. Allerdings werden SPD und Gewerkschaften strategisch auch weiterhin aufeinander angewiesen sein. In Deutschland ist die CDU die klassische Partei der Mitte. Warnfried Dettling sieht darin das Geheimnis ihres Erfolges. Den zu verteidigen wird in Zukunft allerdings schwieriger, denn die Mitte ist kein sozial homogener Ort, sie ist vielmehr in widerstreitende Interessen zerklüftet, die nur bündeln kann, wer Eigenverantwortung und soziale Sicherheit auf neue Weise tariert. Am unteren Rand haben CDU und SPD bereits ihren Zugang zum Prekariat verloren. Dieses schwankt, wie Tim Spier darlegt, zwischen Apathie, Linkspartei und rechtem Populismus. Gary S. Schaal weitet das Krankheitsbild der Parteien zu einer Analyse der Krise des repräsentativen Systems. Diese sieht er weniger durch desinteressierte Bürger, selbstbezügliche Parteien oder korrupte Politiker heraufbeschworen. Vielmehr, so lautet sein paradox klingender Befund, nehme der Bürger das zentrale Ideal liberaler Demokratien, die Responsivität, zu ernst. Unter dem Vorzeichen des Neo-Liberalismus führe das zu Frustration, Vertrauensverlust und letztlich Instabilitäten des politischen Systems. Thomas Philipp verteidigt gegen die einseitige Hervorhebung der Freiheit oder der Gerechtigkeit die Solidarität als die zentrale Kategorie einer Linken, die sich der liberalen Demokratie verpflichtet weiß.

In seinem Essay spiegelt Jörg Becker die Memoiren Elisabeth Noelle-Neumanns im Lichte seiner eigenen Recherchen. Hervor kommt eine in ihren Verdrängungen und biografischen Schönfärbereien typisch deutsche Karriere. Björn Hackers Rezension der Vision Stefan Collignons von einer demokratischen Europäischen Republik runden diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr

Dieter Rulff

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