Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 180: Parteien im Umbruch

Konsens statt Konflikt

Das sozialdemokratische „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“,

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S. 67-75

Kaum eine bundesdeutsche Partei wird so sehr mit den Krisensymptomen des Typus Volkspartei in Verbindung gebracht wie die SPD. Und tatsächlich hat die deutsche Sozialdemokratie in der vergangenen Dekade nicht nur einen beeindruckenden Mitgliederschwund, offenkundige Veränderungen in der Wählerstruktur und programmatischinhaltliche Kurswechsel erfahren. Nein, auch das politische Personal, die Führungspersonen in Exekutive und an der Spitze der Partei wechselten, besonders deutlich nach dem Ende des rot-grünen Regierungsbündnisses 2005. Kaum eine Gruppierung innerhalb der SPD hat diesen personellen Wechsel so sehr gefordert wie das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“ – und kaum eine Gruppe hat so sehr davon profitiert. Denn mittlerweile sind zahlreiche „Netzwerker“ in zum Teil prominenten Führungspositionen der Partei und des Regierungsapparates angekommen: Mit Hubertus Heil hat ein „Netzwerker“ die Position des Generalsekretärs inne, Kerstin Griese und Sebastian Edathy sind Ausschussvorsitzende im Bundestag, Ute Vogt und Christoph Matschie Landesparteivorsitzende – und diese Liste ließe sich noch um Einige erweitern. Kurzum: Bei der Frage nach dem sozialdemokratischen Führungsnachwuchs, nach der zukünftigen inhaltlichen, organisatorischen und personellen Ausrichtung der SPD ist ein Blick auf das „Netzwerk Berlin“ und die darin organisierten Politiker notwendig.

Vorab zur Genese: Das „Netzwerk junger Abgeordneter Berlin“ wurde als eine Gruppierung junger Bundestagsabgeordneter – und damit lediglich als Flügel innerhalb der Bundestagsfraktion – zu Beginn des Jahres 1999 von den Abgeordneten Hubertus Heil (und dessen Mitarbeiter Jürgen Neumeyer), Hans-Peter Bartels und Kurt Bodewig gegründet. Ausschlaggebend waren die Erfahrungen mehrer jüngerer MdBs, die entweder 1998 oder in der vorausgegangenen Legislaturperiode in den Bundestag eingezogen waren: Wie üblich, hatten sie Versammlungen und Treffen des Seeheimer Kreises und der Parlamentarischen Linken besucht, sahen sich von diesen jedoch kaum angesprochen: Waren ihnen die einen zu kanzlertreu, zu wenig an grundsätzlichen Diskussionen interessiert und kulturell fremd, empfanden sie die Debatten der anderen als eingefahren, starr-hierarchisch und im Denken der achtziger Jahre verhaftet. Nirgends fühlten sie sich als politischer Nachwuchs so recht willkommen. Aus eben diesem Grund wurde das „Netzwerk“ dezidiert als offener Diskussionszusammenhang der Nach-68erGeneration gegründet (vgl. Netzwerk Berlin 2007). Es sollte ein Ort sein, an dem jenseits eingefahrener Diskussionsmuster und -hierarchien, fern der herkömmlichen Kategorien von rechts und links Politik ersonnen und gemacht werden konnte (vgl. Bartels 2001). Die Organisationsformen waren denkbar einfach: Eine offizielle Führungsstruktur im Sinne eines Vorstands oder Sprechers existierte nicht, Entscheidungen wurden im Konsens und nach Anhörung aller getroffen. Jeden Donnerstagabend in den Sitzungswochen des Bundestages wurde ein Gast geladen, der zu einem vereinbarten Thema vor „Netzwerkern“ und einer interessierten Öffentlichkeit referierte und anschließend mit dem Publikum diskutierte. Darüber hinaus entstanden einige politische Papiere, doch blieben diese Beiträge zur (partei)politischen Debatte zunächst eher sporadisch, schienen keinem langfristigen Konzept zu folgen.

Sowohl in organisatorischer als auch in machtstrategischer Hinsicht stellte die Bundestagswahl 2002 einen Einschnitt in der Entwicklung des „Netzwerks“ dar. Zunächst vergrößerte die Gruppe sich – auch aufgrund intensiver und professioneller Werbung – rein nominell; aktuell umfasst sie 48 Abgeordnete. Mit dieser quantitativen Veränderung ging auch eine qualitative einher. Zum einen richtete das „Netzwerk“ ein geschäftsführendes Büro ein, dessen Leiter seitdem Jürgen Neumeyer ist, und welches als organisatorische Zentrale fungiert. Zum anderen gab sich die Gruppierung eine auch nach außen sichtbare Führungsspitze durch die Wahl eines zuerst sechsköpfigen Sprecherkreises, seit 2005 durch eine Doppelspitze. In programmatisch-strategischer Hinsicht mischte sich das „Netzwerk“ im Herbst 2003 – für Außenstehende überraschend – in die Debatte um ein neues Grundsatzprogramm mit einem eigenen Programmbeitrag ein (vgl. „Netzwerk Berlin“ 2005).

Obwohl – oder vielleicht gerade weil – das „Netzwerk“ den multiplen Anspruch proklamierte, als „Nach-68er-Zusammenhang“ sowohl die nach Lebensalter jüngeren Sozialdemokraten als auch einen differenten politischen Stil und andere Inhalte zu vertreten, wurde massiv Kritik geübt. Die im „Netzwerk“ versammelten Politiker seien quasi Emporkömmlinge im politischen Geschäft, lediglich auf Posten und Positionen aus, ohne eigene Inhalte, und überhaupt sei nicht zu erkennen, wofür sie denn nun stünden, was das „Andere“ sei (vgl. bspw. Staud 2003). Doch so ganz stimmt diese Beurteilung nicht. Gut acht Jahre nach Gründung des „Netzwerks“ sind sehr wohl einige markante Eigenschaften dieser Politikergeneration – die zugleich eine Strömung innerhalb der Partei ist – auszumachen.

Auch wenn die meisten der „Netzwerker“ ihren vierzigsten Geburtstag bereits hinter sich haben, sind sie mit Geburtsjahrgängen, die in der überwiegenden Mehrheit zwischen 1960 und 1976 liegen, gegenüber den so genannten 68ern und „Enkeln“ in der deutschen Sozialdemokratie eine jüngere, nachfolgende Generation. Sie wurden in einer anderen historischen und kulturellen Umwelt sozialisiert, durch differente Fakten, Ereignisse, Diskussionen und Prozesse geprägt.

Zunächst: Die Jugend der meisten im „Netzwerk“ engagierten Politiker fällt in die auslaufenden siebziger und beginnenden achtziger Jahre und damit in die Hochzeit der Neuen Sozialen Bewegungen in der BRD. So berichtet denn auch die überwiegende Mehrheit der (westdeutschen) „Netzwerker“ von ersten politischen Erfahrungen im Umkreis und Themenfeld dieser Bewegungen[1] – sei es, dass sie sich gegen eine Mülldeponie oder ein geplantes Atommüllendlager engagierten oder an Friedensdemonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss teilnahmen. Dementsprechend sind ihnen die Themen und Wertüberzeugungen jener Zeit wohl vertraut, ja, sie haben sie sich größtenteils selbstverständlich zu Eigen gemacht.

Im Gegensatz zur parteiinternen Vorgängergeneration, den von Schröder, Scharping oder Wieczorek-Zeul repräsentierten „Enkeln“, mussten sie sich Zielvorstellungen wie Umweltschutz oder Ausdehnung der partizipatorischen Rechte nicht erst durch – innere und äußere – Konflikte erkämpfen und schmerzhaft in das Thementableau der Mutterpartei integrieren, sondern sie waren von Beginn an integrativer Bestandteil ihrer Sozialisation. Interessant ist in diesem Zusammenhang, warum die damals jugendlichen „Netzwerker“ dann doch die SPD statt der frisch entstandenen „Grünen“ als Ort ihres parteipolitischen Engagements wählten, zumal sie mit dieser Entscheidung in ihrer Generation eindeutig eine Minorität darstellten (Fischer et al. 1985:26 f.).[2] Die vorgebrachten Argumente zielen sowohl auf eine habituell-kulturelle als auch auf eine programmatisch-inhaltliche Ebene: Zum einen, so wird in Interviews deutlich, seien die Grünen den jungen „Netzwerkern“ zu „unordentlich“, „unorganisiert“ und „chaotisch“ gewesen; verglichen damit sei es bei den Sozialdemokraten „geordneter“ und „strukturierter“ zugegangen. Zum anderen habe bei den sich neu formierenden Grünen inhaltlich das „soziale“ Element gefehlt, welches wiederum bei der SPD durch die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit vertreten gewesen sei. Hier wird bereits früh ein Wesensmerkmal jener Politikerkohorten erkennbar: Ihnen ist das Unberechenbare und Spontane eher unangenehm, wenn nicht gar fremd. Auch deshalb wirken ihr politisches Handeln und Auftreten manchmal so bieder, brav und gesetzt.

Die genannte Prädisposition wurde im Verlauf der weiteren Parteisozialisation durch mehrere Faktoren verstärkt. Zunächst engagierten sich die Gründungsmitglieder und Hauptakteure des „Netzwerks“ in den achtziger bis hinein in die neunziger Jahre in der sozialdemokratischen Jugendorganisation, den Jungsozialisten, zumeist gar auf bundespolitischer Ebene.[3] Hier erlebten sie die tiefe Krise des Parteinachwuchses (vgl. Lösche et al. 1992:280 ff). Während um die Jusos herum Debatten um Atomkraftwerke, NATO-Doppelbeschluss, Umweltschutz und letztendlich den Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung tobten, widmete sie sich intern leidenschaftlich theoretischabgehobenen und realitätsfernen Diskussionen zur Überwindung des Kapitalismus (vgl. Oberpriller 2004:288 ff.). Die verschiedenen Strömungen aus „Stamokaps“, „Refos“ und „Undogs“ stritten erbittert um die Deutungshoheit innerhalb des Jugendverbands, feilten bis spät nachts am Klein-Klein von Tagesordnungsanträgen und detaillierten Positionspapieren, für die sich außerhalb des Verbands kaum jemand interessierte. „Netzwerker“ empfanden diese Diskussionskultur nicht nur als kaum erträglich, sondern auch als schlichtweg nicht zielführend und setzen sich zumeist für eine reformorientierte Politik ein. Damit wurde nicht nur der Grundstein für die stets beschworene „pragmatische“ Herangehensweise an Politik und Überwindung der Rechts-Links-Dichotomie gelegt. Sondern es entstanden auch soziale Beziehungen, die durch die Minoritätsposition von „Netzwerkern“ bei den Jusos gestärkt wurden und Jahre später in die Gründung des „Netzwerks“ mündeten.

Des Weiteren erlebten „Netzwerker“ in den neunziger Jahren den „Kampf der „Enkel“ (Walter 2002:220), die Selbstdemontage der eigenen Partei durch ihre führenden Vertreter. Aufgrund des Führungsstreits einer ganzen Generation, welcher allzu oft öffentlich über die Medien ausgetragen wurde, wechselten in rascher Folge die Parteivorsitzenden, und die inhaltlich-programmatische Diskussion erlahmte. „Netzwerker“ empfanden all dies zumeist als zermürbend, unangenehm und als der eigenen Partei schadend. Sie zogen aus dem Verhalten ihrer Vorgänger in mehrfacher Hinsicht Lehren: In der öffentlichen Parteikritik sind sie verglichen mit den „Enkeln“ zurückhaltend, was ihnen von diesen oftmals als Ängstlichkeit, fehlende Aufmüpfigkeit und mangelndes Heroentum vorgehalten wurde (vgl. bspw. Degerich 2003). Darüber hinaus halten sie ihr Privatleben soweit es geht unter Verschluss. Statt vielfach publizierter privater Aufnahmen ist von manchen Vertretern dieser jungen Generation noch nicht einmal der Lebenspartner bekannt. Zudem versuchen sie, einen intragenerationellen Zusammenhang zu schaffen4, da sie nicht nur das Verhalten und die Streitkultur ihrer Vorgänger als falsch empfanden, sondern, so sagen sie selbst, auch zu wenige seien, um sich gegenseitig zu destruieren (vgl. auch Knaup 2007).

Doch noch in anderer Hinsicht hinterließen die „Enkel“ und ihre Politik Spuren bei den „Netzwerkern“. Letztere waren aufgrund ihrer politischen Sozialisation mit der Zielvorstellung einer bundesweiten rot-grünen Koalition aufgewachsen, deren Zustandekommen 1998 zumeist durch den Einzug in den Bundestag auch einen persönlichen, nicht selten überraschenden Karrieresprung bedeutete. Aber genau in jenem Augenblick der individuellen und parteipolitischen Euphorie erlebten „Netzwerker“ eine aus ihrer Sicht herbe Enttäuschung. Denn entgegen ihrer Erwartungen war die damalige sozialdemokratische Führungsschicht kaum auf die Machtübernahme vorbereitet, lagen im wahrsten Sinne des Wortes keine Gesetzesentwürfe in der Schublade, die die jahrelang gepriesenen Ziele in operationalisierter Form zur Umsetzung gebracht hätten (vgl. allgemein Egle et. al. 2003). Stattdessen erlebten die hoch motivierten Jungpolitiker eine Art Déjà-Vu: Zwischen dem Parteivorsitzendem und dem Kanzler entfachte sich ein Machtkampf, der letztlich zur Demission Lafontaines führte. Für die hoffnungsvoll in den Bundestag eingezogenen Nachwuchspolitiker musste dies ein geradezu traumatisches Ereignis gewesen sein, aus dem sie einmal mehr die Lehre zogen, Politik müsse sachorientiert, möglichst wenig persönlich oder gar persönlich verletzend, in gewisser Weise auch geordnet und bar jeglicher chaotischer Führungs- und Richtungskämpfe verlaufen.

Dem bereits mehrfach erwähnten „Pragmatismus“, diesem von „Netzwerkern“ selbst als zentral erachteten Wesensmerkmal, entspricht auch die Zusammensetzung der Gruppierung. Neben der beschriebenen Juso-Sozialisation existieren – verallgemeinert – drei weitere Beweggründe, die zur Zugehörigkeit im „Netzwerk“ führten. Erstens rekrutiert sich stets ein recht großer Kreis aus „Neu-Abgeordneten“ und damit aus Personen, die in der jeweiligen Wahlperiode neu in den Bundestag gewählt wurden. Für sie sind die flachen Hierarchien, das „jugendliche“ Alter der „Netzwerker“ und nicht zuletzt der Anspruch, auch inhaltlich jenseits eingefahrener Rechts-Links-Muster zu diskutieren, ausschlaggebend gewesen. Zweitens begründet eine Gruppe von Kommunalpolitikern ihre Sympathie für das „Netzwerk“ damit, dass auf kommunalpolitischer Ebene (partei)ideologische Grenzen häufig verwischten und ein an zielgerichteter Umsetzung orientierter Politikstil notwendig sei, der seine Entsprechung am ehesten im „Netzwerk“ finde. Zum Dritten existiert eine Reihe ostdeutscher Politiker, die aufgrund der spezifischen Vergangenheit ihres Landesteils ideologisch aufgeladenen Diskussionen und Problemzugängen skeptisch gegenüber steht. Hinzu kommt, dass sie zumeist die althergebrachten Grabenkämpfe zwischen rechts und links, deren Argumentationsmuster und Rollenverteilungen nicht nachvollziehen können, da ihnen die Erfahrung bundesrepublikanischer SPD-Geschichte und das Hineinwachsen in deren Tradierungen fehlt. Insgesamt aber äußert sich der „Pragmatismus“ des „Netzwerks“ eben auch in der Heterogenität seiner Zusammensetzung, denn nicht wenige Mitglieder sind zugleich Mitglied der Parlamentarischen Linken oder des Seeheimer Kreises.

Zugleich jedoch ist es Anspruch des „Netzwerks“, sich von Seeheimern und Partei-oder Parlamentarischer Linker abzugrenzen, eine dritte Strömung der Partei darzustellen. Dabei ist nicht immer offensichtlich, wo und wie die Grenzziehungen verlaufen, was der Gruppierung nicht selten den Vorwurf der Beliebigkeit eingebracht hat. Dennoch sind einige Unterschiede wohl verallgemeinerbar, wobei es sich um ein Konglomerat sachlich-inhaltlich und kulturell-generationell bedingter Argumente handelt. So grenzt sich das „Netzwerk“ von beiden bislang bestehenden Parteiflügeln ab, indem es politische Diskussionen nicht von vornherein durch eine ideologisch gefilterte Wahrnehmung führen möchte. Bei der Behandlung eines Problems soll kein Argument diskreditiert werden können, weil es einer „linken“ oder „rechten“ sozialdemokratischen Tradition entspricht. Nichtsdestotrotz können die ex post gewonnenen Überzeugungen des „Netzwerks“ natürlich häufig sehr wohl in ein Rechts-Links-Schema eingeordnet werden.[5] Doch muss hier zum einen stark nach Themenfeldern differenziert werden, zum anderen sind die Diskussionen – darin besteht in den Berichten von „Netzwerkern“ Einigkeit – nicht von Beginn an durch ein ideologisches Korsett determiniert. Darin liegt das „Unideologische“ und „Pragmatische“ dieser Politikergeneration, das Schwäche und Stärke zugleich ist, und sich konsequent aus ihrer politischen Sozialisation erklärt.

Dabei ist die Kritik ebenso populär wie bekannt: Diese Politikergeneration besitze kein Normengerüst mehr und werde deshalb in ihren Entscheidungen unberechenbar, beliebig, ununterscheidbar und angreifbar (vgl. beispielsweise Soldt 2005). Und in der Tat ist es auffällig, wie oft bereits als großes Talent gelobte Nachwuchspolitiker enttäuschten: Als Ministerpräsidentenkandidaten konnten sich bislang weder Christoph Matschie in Thüringen noch Ute Vogt in Baden-Württemberg durchsetzen; Nina Hauer musste ihre Position als Parlamentarische Geschäftsführerin bereits nach kurzer Zeit wieder räumen, und Matthias Platzeck blieb gerade einmal ein knappes halbes Jahr im Amt des Parteivorsitzenden. Sicherlich lagen im Einzelfall nachvollziehbare und teils unterschiedliche Gründe vor, dennoch ist das Muster des Misserfolgs erkennbar. Darüber hinaus lässt das politische Handeln der „Netzwerker“ insgesamt teils den Eindruck entstehen, als erschreckten sie vor der eigenen Courage. Papiere sind häufig derart konsensorientiert, dass kaum mehr eine griffige Position erkennbar ist. Und wenn doch einmal etwas Anstoß erregt, wird oft versucht, die Provokation herunterzuspielen oder mit Schrecken der angerichtete Schaden betrachtet.[6]

Nichtsdestotrotz kann es auch ein Vorzug sein, Problemlösungen wertfrei zu diskutieren und – auch dies ist ein Wesenselement des politischen Stils im „Netzwerk“ – auf umfangreichen Sachverstand außerhalb der politischen Sphäre zurückzugreifen. „Netzwerker“ sind häufig sehr gute Fachpolitiker, was eben auch dem wertfreien Zugang zu politischen Problemlagen geschuldet ist. Darüber hinaus ist die Konzentration auf ein oder zumindest wenige Themen ebenso Resultat ihrer politischen Laufbahn: Als MdBs unterliegen sie sowohl klaren Ressortzuteilungen als auch einem raschen und – durch den gesetzgeberischen Prozess bedingt – kleinteiligen Tagesgeschäft. Hinzu kommt, dass sich beispielsweise die Position des Staatssekretärs, in die einige „Netzwerker“ im Laufe ihres Werdegangs schlüpften, wenig zur freien inhaltlichen Positionierung oder gar zur Ausbildung eines Generalistentums eignet, ist ein Staatssekretär doch klar dem jeweiligen Minister unterstellt und an die offizielle inhaltliche Ausrichtung des Ministeriums gebunden. Auch an dieser Stelle der Karriereverläufe besteht ein wesentlicher Unterschied zur Vorgängergeneration der „Enkel“, die ihren politischen Weg weitestgehend über die Landesparteien beschritten und eine Reihe von Ministerpräsidenten hervorgebracht hatten. Im Gegensatz dazu waren „Netzwerker“ zumeist bereits in jungen Jahren als Abgeordnete auf Bundesebene tätig. Während der erstgenannte Karriereweg quasi einen Blick „von außen“ auf die Bundespartei erlaubt und eher zu politischen „Generalisten“ führt, ist im zweiten Fall ein temporeiches und stark themenfokussiertes Arbeiten notwendig.

Auch der häufig als bieder kritisierte Habitus dieser Politikergruppierung lässt sich aus ihrem Werdegang heraus deuten. Denn zum einen wurden „Netzwerker“ auf Grund der ewigen Jugendlichkeit der „Enkel“ zu früh gealterten Jungen. Da die Rolle der „jugendlichen Rebellen“ auch noch im Alter von sechzig Jahren von den „Enkeln“ besetzt wurde, blieb den nachwachsenden Kohorten kaum etwas anderes, außer einer gewissen Altbackenheit als sozial-habituelle Nische, um sich von ihren Vorgängern zu unterscheiden. Zudem fiel, wie bereits erwähnt, bei der Großzahl der „Netzwerker“ die Übernahme der Regierungsverantwortung auf Bundesebene durch die SPD zusammen mit einem ganz individuellen Karriereschub. Ihre politische Rolle war so quasi von einem sehr frühen Zeitpunkt an – mit der Übernahme des Abgeordnetenmandats – eine staatstragende, die sie umso lieber erfüllten, als sie sich mit ihren bisherigen politischen Vorstellungen, einer rot-grünen Bundeskoalition, deckte. Demgegenüber konnten sich viele der „Enkelgeneration“ wesentlich besser aus ihrer Position in den Ländern heraus, die teilweise gar der politischen Peripherie gleich kam, als unorthodoxe Heroen gegenüber ihrer Mutterpartei gerieren. Während viele der „Enkel“-Generation also gegen die eigene Partei aufstiegen, taten „Netzwerker“ dies mit ihr. Aber noch einmal: Selbst wenn „Netzwerkern“ diese Möglichkeit, diese Position im politischen System, offen stünde, würden sie vermutlich kaum derart provokant gegenüber der eigenen Partei auftreten, da sie es auf Grund der Erfahrungen mit den „Enkeln“ nicht goutieren.

Ein weiteres Merkmal der Diskussionskultur der „Netzwerker“, das einen Grenzstein zur Vorgängergeneration bildet, besteht in dem Bemühen, Entscheidungsprozesse mit größtmöglicher Transparenz herbeizuführen und Beschlüsse in maximaler Eintracht zu treffen.[7] Während der politische Stil der „Enkel“-Generation mit dem Motiv des „Konflikts“ bezeichnet werden könnte, trifft für die hier betrachtete jüngere Generation eher das Motiv des „Konsens“ zu. Damit korrespondiert zum einen das Bestreben, Entscheidungsstrukturen möglichst flach zu halten oder gar nicht erst zu installieren. Zum anderen spiegelt das Verhältnis zu Öffentlichkeit einmal mehr dieses Motiv: An vielen inhaltlichen Diskussionen des „Netzwerks“ beteiligen sich nicht nur – teilweise gar weniger – die Politiker und Abgeordneten selbst, sondern auch Repräsentanten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Medien. Ganz augenscheinlich wird diese Diskussionskultur durch die vom „Netzwerk“ herausgegebenen Zeitschrift „Berliner Republik“ gespiegelt. Denn hier wird der Anspruch des „offenen Diskussionszusammenhangs“ par excellence umgesetzt, vermischt sich die politische mit der kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Sphäre, zeigt sich die gesamte inhaltliche Bandbreite der Gruppierung. Sicherlich existieren auch im „Netzwerk“ inoffizielle Führungsstrukturen, die nicht selten im Widerspruch zur proklamierten Offenheit stehen und zu Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe führen können. Dennoch kann es als ein Erkennungszeichen des politischen Stils dieser Generation angesehen werden, möglichst wenig hierarchisch zu führen und Politik konsensorientiert zu gestalten.

Neben dem Bereich des politischen Stils unterscheidet sich die durch das „Netzwerk“ repräsentierte Generation jedoch auch durch die von ihnen vertretenen Inhalte von ihren Vorgängern. Es wurde bereits deutlich gemacht, in welcher Weise der Problemlösungsprozess differiert. Daneben sind nicht nur die inhaltlichen Antworten auf politisch-gesellschaftliche Probleme teils andere, auch die Problemlagen an sich und die Rangfolge der Themenpräferenzen unterscheiden sich. Auf die beiden letztgenannten Punkte soll an dieser Stelle kurz eingegangen werden. Dabei sind die politischen Herausforderungen selbstverständlich andere als die, mit denen sich eine ältere Politikergeneration konfrontiert sah. Schlagwörter wie Globalisierung oder internationaler Terrorismus verdeutlichen dies symbolisch.

Inhaltliche Schwerpunkte des „Netzwerks“ liegen im Bereich Familien- und Bildungspolitik, wobei die Gruppierung sehr deutlich darauf hinweist, dass diese Bereiche ihrer Auffassung nach integriert diskutiert und gestaltet werden müssten. Hinzu kommen die Arbeits- und Wirtschaftspolitik, das Thema Haushaltskonsolidierung sowie generell öffentliche Finanzen. In diesen Gewichtungen spiegelt sich das Engagement einiger „Netzwerker“ mit ihren jeweiligen fachpolitischen Ausrichtungen – parallel zu ihrer Mitgliedschaft in Fachausschüssen des Bundestages – wieder. Demgegenüber sind Bereiche wie Umweltpolitik, Außen-, Sicherheits- und Entwicklungshilfepolitik eher schwach ausgearbeitet. Übergreifend ist den vom „Netzwerk“ vertretenen Inhalten das Grundprinzip der „Generationengerechtigkeit“ oder „Nachhaltigkeit“ zu Eigen, was sich einmal mehr aus der politischen Sozialisation heraus begründen lässt. Zwar war das Hauptziel des Engagements vieler „Netzwerker“ während ihrer Jugendzeit im Bereich der Neuen Sozialen Bewegungen das des Umweltschutzes, doch dürfte der zu Grunde liegende Gedanke der „Nachhaltigkeit“ quasi generalisiert und auf andere politische Bereiche übertragen worden sein. In Konfrontation mit den rot-grünen Regierungsjahren hat sich dieses Leitmotiv vermutlich noch verstärkt; aufgrund des desaströsen Zustands der öffentlichen Haushalte zu Beginn der rot-grünen Regierungsperiode erklärt sich für „Netzwerker“ beispielsweise das Ziel der Haushaltskonsolidierung durch das Prinzip der Generationengerechtigkeit. Auch die Vorstellung des „vorsorgenden Sozialstaats“ entspricht diesem Grundsatz.

Insgesamt ist auffällig, dass viele politisch-inhaltlich Forderungen des „Netzwerks“ in den letzten Jahren entweder bereits realisiert oder aber auf die politische Tagesordnung gesetzt wurden – und das nicht erst, seitdem Hubertus Heil Generalsekretär und das „Netzwerk“ generell in führenden Positionen von Partei und Fraktion vertreten ist. So sind beispielsweise in der Agenda 2010 Grundüberlegungen des „Netzwerks“ zur Umstrukturierung des Arbeitsmarktes enthalten. Auch die Forderung einer Bürgerversicherung im Gesundheitssystem wurde bereits einige Zeit in der Gruppierung diskutiert, bevor sie zum offiziellen sozialdemokratischen Standpunkt wurde. Ebenso verhält es sich mit der Forderung nach einem Ausbau der frühkindlichen Betreuung, der Ausweitung der Ganztagsschule oder des kostenlosen Kindergartenjahres: Vieles, was unter Rot-Grün umgesetzt oder doch zumindest thematisiert wurde, war Gegenstand von „Netzwerk“ -Diskussionen gewesen. Darin zeichnet sich ein Dilemma dieser Politiker-Generation, die so stark mit der vorhergehenden zusammen hängt: Denn durch die „Enkel“ in der Sozialdemokratie, durch die so genannten 68er wurden sie sozialisiert, von diesen versuchten sie sich inhaltlich und politisch-kulturell abzugrenzen, diese beteiligten sie lange nicht richtig an den Entscheidungsprozessen der Partei. Nun aber, im Moment der Verantwortungsübernahme, wurde die „Generation Netzwerk“ in seiner Modernität von der pragmatischen Wende der „Enkel“ eingeholt.

[1] Im Rahmen des Dissertationsprojekts der Autorin wurden leitfadengestützte qualitative Interviews mit „Netzwerkern“ geführt, die sich an den Themenbereichen Sozialisation und politischer Werdegang, Verhältnis zum und Engagement im „Netzwerk“ und Generationenbegriff und -zugehörigkeit orientierten und entsprechend dieser Kategorien ausgewertet wurden.

[2] Jugendliche zu Beginn der 1980er-Jahre polarisierten sich zwischen Anhängern oder Parteiangehörigen der Grünen oder der Unionsparteien. Der SPD neigten die wenigstens Jugendlichen zu, sie blieb in den Zuschreibungen merkwürdig konturlos.

[3] Exemplarisch können Kerstin Griese, Nina Hauer oder Christian Lange genannt werden.

[4] Auch wenn durchaus strittig ist, inwieweit ihnen dies gelingt.

[5] So sind die sozialstaatlichen Konzeptionen des „Netzwerks“ durchaus näher an denen des Seeheimer Kreises, während in umweltpolitischen Fragen Schnittmengen mit der Parlamentarischen und Parteilinken bestehen.

[6] Als Beispiel mögen etwa die Reaktionen von einigen „Netzwerkern“ auf die Kritik an ihrem Programmimpuls oder die Vorgänge um die Besetzung der Generalsekretärsposition im Herbst 2005 durch Nahles / Wasserhövel / Heil gelten.

[7] Dieses Merkmal ist es auch, welches das „Netzwerk“ gerade für Neuankömmlinge im Bundestag oder allgemein im politischen Prozess so attraktiv macht. Allerdings bleibt skeptisch abzuwarten, wie sich diese Vorgehensweise mit dem Wachstumsstreben und Machtanspruch der Gruppierung verträgt.

Literatur

Bartels, Hans-Peter: So weit. Zwei Jahre Netzwerk – eine Zwischenbilanz, in: Berliner Republik 2001, Jg. 2, H. 1, S. 27-30.

Degerich, Markus: Sigi Pop und die Lego-Gang, in: Spiegel-Online, 07.11.2003.

Egle, Christoph/Ostheim, Tobias/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002, Wiesbaden 2003.

Fischer, Arthur/Fuchs, Werner/Zinnecker, Jürgen: Einleitung, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.) 1985: Jugendliche und Erwachsene ´85, Bd.1: Biografien – Orientierungsmuster – Perspektiven, Leverkusen, S. 9-32.

Knaup, Horand 2007: Unter Kannibalen, in: Der Spiegel, Heft 46.

Lösche, Peter/Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei. Zur Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992.

Netzwerk Berlin: Das Netzwerk Berlin – Die neue SPD, http://www.netzwerkberlin.de/index.php?site=+ Selbstdarstellung (zuletzt aufgerufen am 05.12.2007).
Netzwerk Berlin/Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD – Die neue SPD: Menschen stärken – Wege öffnen, Bonn 2003.

Oberpriller, Martin: Jungsozialisten. Parteijugend zwischen Anpassung und Opposition, Bonn 2004.

Soldt, Rüdiger: Platzecks junge Garde, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.11. 2005.

Staud, Toralf: Die windelweichen Urenkel, in: Die Zeit, 06.11.2003.

Walter, Franz: Die SPD: vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002.

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