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„Wir fühlten uns wie Wider­stands­kämp­fer”

Gedanken zu den Memoiren von Elisabeth Noelle-Neumann

aus: vorgänge Nr. 180 (Heft 4/2007): Parteien im Umbruch, S. 124-133

Elisabeth Noelle-Neumann hat wie kaum eine andere Sozialwissenschaftlerin das politische Leben der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1950 und 1980 mitgeprägt. Am 19. 12. 1916 in Berlin geboren, studierte sie Zeitungswissenschaft an den Universitäten Berlin, Königsberg und München. 1937/1938 hatte sie ein Stipendium in den USA und lernte dort die neuesten Methoden der Demoskopie kennen, über die sie 1940 promovierte. 1947 gründete sie zusammen mit ihrem Mann Peter Neumann das Institut für Demoskopie in Allensbach am Bodensee. Von 1964 bis 1983 war sie als Professorin für Publizistikwissenschaften an der Universität Mainz tätig. In der wissenschaftlichen Öffentlichkeit wurde Noelle-Neumann durch ihr Buch „Die Schweigespirale”[1] bekannt und in der politischen Öffentlichkeit engagierte sie sich viele Jahre lang in CDU- und Regierungsnähe.

Freilich weiß nur eine kleine Öffentlichkeit von Kommunikationswissenschaftlern auf Grund der Fachveröffentlichungen von Richard Albrecht, Leo Bogart und Christopher Simpson[2], dass sich die Journalistin, Wissenschaftlerin und Unternehmerin Elisabeth Noelle-Neumann während der Nazi-Zeit sehr stark dem damaligen Zeitgeist des Nationalsozialismus angedient hatte. Die große Öffentlichkeit jedoch muss über ihre Tätigkeit in der NS-Zeit das für bare Münze nehmen, was sie selbst in ihrem Buch „Die Erinnerungen” (München: Herbig 2006) veröffentlichte. Was sie selbstverständlich in Kenntnis der Arbeiten ihrer Kritiker tat. In Anknüpfung an bereits erschienene vernichtende Kritiken dieses Buches[3] soll im Folgenden zentralen Punkten ihrer Memoiren kritisch so nachgegangen werden, wie sie es selbst für Medien in einer Diktatur empfiehlt: indem man „feinste Zeichen entschlüsselt” und „zwischen den Zeilen liest” (103). Alle wörtlichen Zitate aus ihren Memoiren erscheinen in Anführungszeichen; jedem Zitat folgt die dazugehörige Seitenzahl in Klammern.

Vermeintliche Unterdrückung

Unbeschadet ihres reichen, großbürgerlichen Hintergrundes – „Geld war seit vielen Generationen selbstverständlich” (8) –, unbeschadet eines Studiums, in dem sie nach eigenen Angaben faul war und nur das tat, zu dem sie gerade Lust hatte (45, 49, 58, 85), unbeschadet des Privilegs eines Studiums in den USA mit anschließender Weltreise nach Asien und unbeschadet gut bezahlter und verantwortungsvoller Positionen bei mehreren NS-Zeitungen (Deutsche Allgemeine Zeitung, Das Reich, Frankfurter Zeitung, Illustriertes Blatt, Tele) durchzieht Noelle-Neumann ihre gesamten Memoiren von Anfang an mit dem Geist einer unbeugsamen Widerstandskämpferin gegen die NS-Diktatur: Der Einfluss der Schule bewirkte, „dass ich mich von den Nazis fernhielt” (35); der Professor „ärgerte sich fürchterlich, weil ich keine Anstalten machte, in eine Nazi-Organisation einzutreten” (49); ich schrieb diesen Artikel nur „auf ausdrücklichen Wunsch der Redaktion” (59); in meiner Dissertation musste ich „einige nationalsozialistische Lippenbekenntnisse ablegen” (84); ich bekam „Ärger mit dem Propagandaministerium” (99); ich stand „unter verschärfter Beobachtung” (104). Hätte der unbedachte Leser nicht erfahren, dass sie sich schon 1935 als „Widerstandskämpfer” (45) gefühlt hatte, dann hätte er nicht begreifen können, warum sie 1943 mit dem Satz angebrüllt wurde: „Die gehört ins KZ” (106).

Amnesie

In ihren Memoiren erinnert sich Noelle-Neumann daran, dass kurz nach Kriegsende eine Arbeitsstelle für Umfrageforschung der amerikanischen Besatzungsmacht in der Nähe von Frankfurt ihr Angebot zu einer Mitarbeit abgelehnt hatte: „Bis heute weiß ich nicht, was sich dort eigentlich zugetragen hat. Ich bin der Sache auch nie nachgegangen, denn ganz offensichtlich steckten Dinge dahinter, von denen ich nichts wissen sollte und wollte” (148).

Sie hat es sicherlich doch gewusst, denn ihre (der Öffentlichkeit nicht bekannte und hier erstmals präsentierte) Personalakte „Noelle, Elisabeth PK – i 0328 1. u. 2” aus dem ehemaligen Berlin Document Center (BDC) im Berliner Bundesarchiv kann diesen Vorfall gut erklären. Unter dem Datum des 3.12.1946 findet sich in dieser Akte eine Bewertung der journalistischen Arbeiten von Noelle-Neumann während der NS-Zeit, höchst wahrscheinlich vom amerikanischen Information-Control-Service[4]. Nach einer peniblen Auflistung ihrer vielen Amerika-Artikel im offiziösen NS-Organ „Das Reich” heißt es in diesem Gutachten resümierend:

„Die in tatsächlicher Hinsicht breit angelegten und reich bebilderten Artikel-Serien der Noelle im ,Reich‘ hatten eine äußerst gefährliche propagandistische Wirkung auf die deutsche Öffentlichkeit und haben das Ihre zur Aufrechterhaltung und Stärkung der faschistischen Kriegsmoral beigetragen. Es erscheint daher untragbar für die deutsche demokratische Pressepolitik, der Elisabeth Noelle weitere publizistische Wirkungsmöglichkeiten zu gestatten.”

Anders formuliert: Der amerikanische Geheimdienst war genauestens über Noelle-Neumann informiert und diese Dienststelle muss es als dreist empfunden haben, dass sich gerade diese Frau den Amerikanern als Mitarbeiterin angeboten hatte.

Die Akte aus dem BDC enthält weiteres, der Öffentlichkeit bislang unbekanntes Material. Während die Autorin in ihren Memoiren berichtet, sie sei außer in der „Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Studentinnen” in keiner weiteren NS-Organisation Mitglied gewesen, stellt sich das laut BDC-Akte anders dar. Hier findet sich z. B. ein Antrag von ihr auf Mitgliedschaft in die „Nationalsozialistische Studentenkampfhilfe” vom 1.9.1937. Ferner enthält diese Akte einen von ihr selbst ausgefüllten Fragebogen zur Bearbeitung ihres Aufnahmeantrages in die Reichsschrifttumskammer vom 15.5.1939, in dem sie schreibt, dass sie schon seit Herbst 1935 Mitglied im „National-sozialistischen Deutschen Studentenbund“[5] gewesen und dass sie außerdem „jetzt in Berlin als Mitglied der Gaustudentenführung” tätig sei.

Elisabeth Noelle-Neumann lernte Anfang 1940 ihren späteren Mann kennen, den Journalisten Erich Peter Neumann. Über ihn schreibt sie, dass er in „linken intellektuellen Kreisen” verkehrt und für Ossietzkys „Weltbühne” geschrieben habe und deshalb von der SA drangsaliert worden sei (97). Doch warum verschweigt die Autorin, dass ihr Ehemann unter der Mitgliedsnummer 4.316.797 seit dem 1.5.1937 auch Mitglied der NSDAP gewesen war?

Antisemitismus

Wer wie Noelle-Neumann seit seinen Arbeiten in der NS-Zeit unter dem begründeten Verdacht steht, Antisemit zu sein, umgibt sich in einer Rückschau auf das eigene Leben ständig mit „guten Hofjuden”. In reflexhafter Abwehr gegenüber Antisemitismus als dem wichtigsten Anathema des bundesdeutschen Selbstverständnisses und in durchaus ungewollter Anerkennung ihrer eigenen früheren antisemitischen Eskapaden gilt gleich der erste Satz ihrer Memoiren, der sich auf Juden bezieht, der Normalität: „Fast die Hälfte der Salemer Schüler waren Juden” (37). Will meinen: Ich hatte Zeit meines Lebens und immer guten Kontakt zu Juden. Oder: „Während in Deutschland die Nazis die Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte einwarfen […], saß ich […] in der rumänischen Botschaft in Kairo und plauderte” (77). Will sagen: Ich konnte beim besten Willen nichts über die NS-Gräuel an den Juden wissen. Nur allzu verständlich ist es in diesem Kontext, dass sich Noelle-Neumann dann später gerade ihrer Freundschaften mit Juden rühmte, ab 1945 mit dein Deutsch-Amerikaner Gad M. Lippmann (147ff.) und ab 1962 mit dem Sozialwissenschaftler Paul Lazarsfeld (204ff).

Am Ende ihrer Dissertation von 1940 taucht im Literaturverzeichnis das Buch „Public Opinion” des amerikanischen Soziologen Walter Lippmann auf. Dieser Namenserwähnung fügt Noelle-Neumann in Klammern das Wort „Jude” hinzu. In ihren Memoiren erläutert sie dieses Vorgehen damit, dass sie für Lippmann „fast grenzenlose Bewunderung” (84) gehegt habe, aber dass man in der NS-Zeit Juden nur dann hätte zitieren dürfen, wenn man „hinter dem Autorennamen in Klammern den Zusatz ,Jude” (84) angefügt hätte. Wissenschaftlich lässt sich eine solche Vorschrift aus der NS-Zeit nicht nachweisen, andere Zitate von Noelle-Neumann sind eindeutig antisemitisch.

Ganz im Gegensatz zu ihrer Autobiographie schrieb sie in ihrer Dissertation von 1940: „Seit 1933 konzentrierten die Juden, die einen großen Teil von Amerikas geistigem Leben monopolisiert haben, ihre demagogischen Fähigkeiten auf die Deutschlandhetze.“[8] Ein Jahr später, am 8.6.1941, wiederholte sie diesen Gedanken in dem Artikel „Wer informiert Amerika?” in der Zeitung „Das Reich”: „Juden schreiben in den Zeitungen, besitzen sie, haben die Anzeigenagenturen fast monopolisiert und können daher die Schleusen der Inserateneinnahmen für die einzelnen Zeitungen nach Belieben öffnen und schließen. Sie kontrollieren die Filmindustrie, besitzen die größten Radiostationen und alle Theater.” Ihren Artikel beendet Noelle-Neumann mit dem Satz: „Der akademischste dieser Schreiber ist Walter Lippmann, ein Jude deutscher Abstammung. […] Er ist der geschickteste Benutzer der sachlichen Tarnung.“[9]

Sind es ein schlechtes Gewissen und Scham oder ist es einfach Chupze, wenn Noelle-Neumann 1990 dem Reprint der deutschen Übersetzung von Walter Lippmanns Klassiker von 1922 „Die öffentliche Meinung” ein wohlwollendes Nachwort widmet? Ist also Lippmann nun ein „geschickter Benutzer der sachlichen Tarnung”, ein „suggestiver” Redner und „der Sprecher der Hochfinanz” (so die Autorin 1941) oder hat er „große Leistungen“[10] (so die Autorin 1990) vollbracht? Als „Der Stern” 1986 Noelle-Neumanns Institut für Demoskopie mit einer Umfrage über Antisemitismus in Deutschland beauftragte, da war es nur der stets unkonventionelle, sich freiwillig bekennende Homosexuelle und von den Nazis aus Deutschland vertriebene deutsch jüdische Kommunikationswissenschaftler und Antisemitismusforscher Alphons Silbermann, der dagegen laut protestierte, Noelle-Neumann methodische Ungenauigkeiten vorwarf und sie in der taz (presserechtlich ungestraft) einen „Altnazi” und eine „Altnazifrau” nannte.

Als Gegendarstellung auf Alphons Silbermanns Vorwurf, sie sei ein „Altnazi”, legte Noelle-Neumann der „taz” 1986 eine Kopie ihres Entnazifizierungs-Bescheids vom Badischen Staatskommissar für politische Säuberung in Freiburg vom 12.7.1950 vor.“ Dieser Bescheid ist insofern interessant, als er von einer deutschen Dienststelle (und nicht von einer der alliierten Besatzungsbehörden) ausgestellt wurde und das erst fünf Jahre nach Kriegsende. Zu diesem Zeitpunkt war die Bundesrepublik Deutschland schon wieder souverän und Noelle-Neumann hatte über ihre Beziehungen zu Konrad Adenauer bereits viele Beratungs- und Forschungsprojekte für ihr Demoskopie-Institut in Allensbach erhalten, war also beruflich gesichert und gut in das Nachkriegsdeutschland integriert (167).

Wahrscheinlich hatten das schon zitierte amerikanische Gutachten mit seiner Kernaussage, Noelle-Neumann sei „untragbar für die deutsche demokratische Pressepolitik” und das von ihr selbst initiierte Vorstellungsgespräch bei einer amerikanischen Forschungsgruppe für Umfrageforschung bei Frankfurt dazu geführt, dass sie von der amerikanischen Besatzungsbehörde keinen Entnazifizierungs-Bescheid bekommen hatte. So musste sich Noelle-Neumann wohl in die französische Besatzungszone begeben, da die französische Besatzungsmacht mit „Altnazis” sehr viel laxer umging als die amerikanische. Wie ihren Memoiren zu entnehmen ist, hatte Noelle-Neumann bereits seit Ende 1945 freundschaftliche Kontakte zu mehreren französischen Besatzungsoffizieren (Etienne Metzger, Friedhelm Doucet, Bernard Lahy), und ihr Allensbacher Institut finanzierte sich anfänglich ausschließlich von Forschungsprojekten der französischen Militärregierung (150ff.).

Unter der französischen Besatzung konnte der gesamte Bodenseeraum leicht zu einem braunen Refugium werden. Nur wenige Wochen nach Kriegsende erhielt der Journalist Johannes Weyl (1904-1989) von den französischen Behörden eine Lizenz für den Südkurier in Konstanz. In der NS-Zeit war Weyl bei der NS-Auslandspropagandaillustrierten „Signal” im Berliner Ullstein-Verlag tätig gewesen und unter seiner Chefreaktion wandte sich der Südkurier schon im Oktober 1945 gegen  Entnazifizierungsmaßnahmen.“ Neben Weyl ist auch auf Dr. Friedrich Georg Schmieder (1911-1988) mit seinen neurologischen Kliniken in Allensbach und Gailingen zu verweisen, die er dort 1950 gründete. Schmieder war in der NS-Zeit Mitarbeiter in der Heidelberger Euthanasieforschung von Prof. Dr. Carl Schneider gewesen (ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde 1986 aber aus Mangel an Beweisen einer aktiven Mittäterschaft eingestellt). [14] Noelle-Neumann und Schmieder sind resp. waren Träger des Bundesverdienstkreuzes – Weyl war Ehrensenator der Universität Konstanz!

Amerika

Vom Herbst 1943 bis zum Ende des Krieges lebte Noelle-Neumann bei einem Honorar von 1.000 Reichsmark im beschaulichen Bad Schandau in der Sächsischen Schweiz, von wo aus sie ihre Artikel zum Verlag der Frankfurter Zeitung schickte. In dieser Zeit muss sie u. a. auch das in der Öffentlichkeit fast unbekannte und in ihren Memoiren verschwiegene Nachwort zu dem amerikanischen Roman „Die Bestie. Denver Chronik” von Ben B. Lindsey geschrieben haben. Dieser in den USA schon 1910 publizierte Roman des Richters, Politikers und Schriftstellers Lindesy konnte noch 1944 – trotz eines enormen Mangels an allen Ressourcen und deswegen auch nur auf sehr holzhaltigem und schlechtem Papier – im renommierten Felix Meiner-Verlag in Leipzig erscheinen. Lindsey beschreibt in seinem Roman den tragischen Niedergang eines Richters angesichts einer die gesamte amerikanische Gesellschaft umfassenden finanziellen, politischen und moralischen Korruption. Es ist diese alles umfassende Korruption, die der Autor „die Bestie” nennt.

Noelle-Neumann nennt diese Korruption nicht „Bestie”, sondern in der besten völkischen und anti-demokratischen Tradition der damaligen deutschen Rechten „System”. Und wie sprachlich nicht anders erwartbar, wird das „System” vom „Geld” verraten. In ihrem Nachwort[15] heißt es ganz in diesem Sinne: „Gestrüpp der Geldinteressen” (266), „die vom Geld kontrollierte Demokratie” (273), „Theodor Roosevelt und die Geldmächte” (274), „käufliche Propaganda” (275), „ungefährdete Herrschaft der Geldmächte” (281). Dieses „System” krankt an „notorisch amerikanischen Denkfehlern” (271), „erschöpften Zivilisationserscheinungen” (270), „amerikanischem Legalismus” (271), an „Ungesetzlichkeit” (272) und „Mangel an Rechtsgefühl” (277) und selbstverständlich ist es ein „Endzustand der demokratischen Staatsform” (282) und eine „Schein-Demokratie” (282). In diesem „System” „erhält die „Existenz der Politiker […] etwas Flaches, Eintöniges, Betriebsames und Mechanisches, Unfruchtbares und von allem lebendigen Geschehen Abgelöstes” (278). Als Träger des gesamten Systems weiß Noelle-Neumann die „plutokratische Oligarchie” (281) auszumachen.

Gegenüber dieser amerikanisch-korrupten Gelddemokratie kennt die Autorin in einem „Gemeinwesen” (271) – natürlich benutzt sie hier nicht das Wort „Gesellschaft” – auch positive politische Kräfte. Diese bestehen nicht aus Gesetzen, sondern lassen sich an „Sauberkeit” und der „Begabung von Menschen” (271) festmachen. Und wenn Gesetze schon etwas Negatives sind, dann hebt Noelle-Neumann demgegenüber die „Heiligkeit des Rechts” (277) positiv davon ab. Sie ruft gar nach einer „konservativen Revolution”, wenn sie schreibt, dass das Geldsystem der USA nur mit dem „Eingriff einer gewaltigen Kraft, einer Revolution” (272) verändert werden könne. Mit diesem Ruf nach einer „konservativen Revolution” traf sich Noelle-Neumann inhaltlich gut mit einem ihrer wichtigsten Vordenker, nämlich mit dem Schriftsteller Ernst Jünger, mit dem sie (nicht zufällig) auch befreundet war (150).

Um es kurz zu machen: Mit diesem Amerikabild lag Noelle-Neumann gut im Trend ihrer Zeit – man findet diesen Antiamerikanismus damals mit gleichen Worten, Bildern und Argumenten bei Joseph Goebbels, in Schulungsmaterial der NDSAP[16] oder bei Sven Hedin[17[. Als antiwestlicher Modernisierungsdiskurs ist übrigens genau dieses Amerikabild von Noelle-Neumann gegenwärtig bei der Neuen Rechten wieder akut’s (konsequenter Weise nahm sie 2006 den Gerhard Löwenthal-Ehrenpreis für Publizistik der  rechtskonservativen Wochenzeitung „Junge Freiheit” an). Es bleibt freilich schwer verständlich, warum Noelle-Neumann einerseits in ihren Memoiren festhält: „Ich hatte mich in den USA nie wohl gefühlt” (70), sie andererseits aber an der Universität von Chicago zwischen 1978 und 1991 als Gastprofessorin tätig war.

Osteuropa

Es verwundert nicht sonderlich, dass sich Noelle-Neumann in ihren Memoiren vom Marxismus und allen Linkstendenzen scharf abgrenzt. Doch ganz so einfach sind die Fakten nicht. Denn sie berichtet auch, dass sie von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in den siebziger Jahren mehrfach zu Vorträgen nach Moskau eingeladen worden sei: „Als zusätzlichen Anreiz durfte ich mir bei jeder Reise noch einen zweiten Ort in der Sowjetunion aussuchen, den ich besuchen wollte. So kam ich unter anderem nach Leningrad, Tiflis und Novosibirsk” (272f). Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass ihr Rowohlt-Buch „Umfragen in der Massengesellschaft. Einführung in die Methoden der Demoskopie” von 1963 auch in Osteuropa verlegt wurde. 1968 erschien es in tschechischer und 1978 in russischer Übersetzung.[19] Und da sie in den Literaturverzeichnissen der beiden Übersetzungen ihres Buches von 1968 und 1978 nach wie vor auf ihre eigene Dissertation aus der NS-Zeit von 1940 hinweist, konnte ihr Verweis auf ein antiamerikanisches, antisemitisches und völkisch-nationales Buch ganz ungeniert und grenzüberschreitend in das Reich des offiziellen Marxismus wandern.

Des Weiteren gilt es bei Noelle-Neumanns scharfer Abgrenzung gegen links Folgendes zu bedenken. Als westdeutsches Gründungsmitglied der International Association for Mass Communication (IAMCR) hatte Noelle-Neumann in den Leitungsgremien dieser Vereinigung in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts häufigen Kontakt mit dem ostdeutschen Kommunikationswissenschaftler und Generalsekretär der IAMCR Prof. Dr. Emil Dusiska. Beide waren sie die „Schwergewichte” der Kommunikationswissenschaft in ihren jeweiligen Ländern, Dusiska als Direktor der Sektion Journalistik an der Karl Marx-Universität in Leipzig in der DDR (das so genannte Rote Kloster) und Noelle-Neumann als Vorsitzende der „Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft” in der BRD.

Auf der von Emil Dusiska 1974 in Leipzig organisierten IAMCR-Konferenz hielt der kanadische Kommunikationswissenschaftler Dallas Smythe einen Vortrag, in dem er in einer Fußnote sehr kritisch auf die NS-Dissertation von Noelle-Neumann verwies. In den in der DDR gedruckten Konferenzbänden fehlt diese Anti-Noelle-Neumann-Fußnote[20] – sie findet sich erst sehr viel später, nämlich zwanzig Jahre nach der Leipziger Konferenz, in der posthum veröffentlichten Gesamtausgabe der Schriften von Dallas Smythe in den USA wieder[21]. Hatte Noelle-Neumann Dusiska einen Wink gegeben? Oder hatte Dusiska Noelle-Neumann einen Gefallen tun wollen?

Man wird Noelle-Neumanns gute Osteuropakontakte nicht fehl interpretieren, wenn man konstatiert, dass sie Zeit ihres Lebens, wo immer möglich und völlig unabhängig von irgendwelchen politischen Überzeugungen Interesse an Kontakt mit jeglichen Machteliten aktiv suchte und fand, in der NS-Zeit genauso wie im kommunistischen Osteuropa. Genau deswegen erwähnt sie in ihren Memoiren persönliche Begegnungen mit Konrad Adenauer, Carlo Schmid, Ludwig Ehrhard, Hans Filbinger, Helmut Kohl und Adolf Hitler (53ff.) – ja, auch mit ihm!

Kommunion und Konfession

In ihrer Doktorarbeit von 1940 schrieb Noelle-Neumann mit Blick auf Adolf Hitler: „Die größten unserer Volksführer hatten und haben auch eine so lebendige Beziehung zu den von ihnen geführten Massen, dass sie jeglicher Hilfsmittel zu ihrer Erkenntnis entbehren können.“[22] Das heißt im Klartext: Im „ganzheitlichen Körper von Führer und Volk” ist es unnötig, den Wähler nach seiner Meinung zu befragen. Im französischen Präsidentenwahlkampf vom Frühjahr 2007 brachte Nicolas Sarkozy diese antidemokratische Maxime folgendermaßen auf den Punkt: „Wenn ein Mann und ein Volk zusammentreffen, ist das wie eine Kommunion, wie ein Liebesakt.“[23]

Was bereits der SPD-Politiker Erhard Eppler über Hans Filbinger bemerkt hatte, gilt ebenso für Elisabeth Noelle-Neumann: Sie hat ein „pathologisch gutes Gewissen” und deswegen handelt es sich bei ihren „Erinnerungen” um eine literarische Mogelpackung. Memoiren sind seit Augustinus‘ „Confessiones” und jeder confessio geht es immer um eine absolutio. Es bleibt sich eigentlich gleich, wer diese ausspricht und vollzieht – ein Gott, ein Priester, ein Zeitgenosse oder der Leser – immer ist es eine mit dem sich erinnernden Ich nicht identische, möglichst eine übergeordnete Instanz. Sofern das Ich sich mit einem Über-Ich verwechselt und sich selbst Absolution erteilt oder sich gar in einer Selbstdarstellung spiegelt, wird es eo ipso suspekt. Und weil Noelle-Neumanns „Erinnerungen” lediglich Selbstdarstellungen sind, kann es kein ego te absolvo geben.

1 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, München: Piper 1980.

2 a) Die Pionierarbeiten von Richard Albrecht: Albrecht, Richard: Rezension des Buches „Die Schweigespirale” von Elisabeth Noelle-Neumann, in: Publizistik, Nr. 3-4/1984, S. 617-621; Alb-recht, Richard: Für alle Jahreszeiten. Elisabeth Noelle Neumanns unbewältigte Vergangenheit, in: Tageszeitung, 10. Juli 1986, S. 13

Albrecht, Richard: Demoskopie oder Demagogie? Über Allensbacher Umfragen, in: Vorgänge. Nr. 1/1987, S. 29-34; Albrecht, Richard auf der Seite des Siegers”. N.-N.: Hinweis zu einer Kar­riere, in: Medium. Zeitschrift für Hörfunk, Fernsehen, Film und Presse, Nr. 2/1988, S. 49-50

b) Vereinzelte Folgearbeiten: Köhler, Otto: Volkskörperkunde aus Allensbach – Die Wunschadju­tantin des Propagandaministers: Elisabeth Noelle-Neumann, in: ders.: Wir Schreibmaschinentäter. Journalisten unter Hitler –und danach, Köln: Pahl-Rugenstein 1989, S. 40-57; Pöttker, Horst: Ver­gangenheit. Mitgemacht, weitergemacht, zugemacht. Zum NS-Erbe der Kommunikationswissen­schaft in Deutschland, in: Aviso, Nr. 28/2001, S.4-7; Domnitz, Christian: Nazi oder Karrierist? Ü-ber die wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit Noelle-Neumanns im Dritten Reich. Seminararbeit im Fach Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin vom 7. Februar 2005, in: amor.cros.hu-berlin.de/–h0444vhn/noeneut.pdf (Abfrage: 18. März 2007).

c) Die Stern-Debatte: Köcher, Renate: Der gefährliche Wunsch zu vergessen, in: Der Stern, 10. Ap­ril 1986, S. 5-10; Silbermann, Alphons: „Problem der ,Stern‘ -Studie sind die Fragen”, in: Tageszei­tung, 12. April 1986, S. 5.

Albrecht, Richard: Für alle Jahreszeiten. Elisabeth Noelle -Neumanns unbewältigte Vergangenheit, in: Tageszeitung, 10. Juli 1986, S. 13.

d) Die amerikanische Debatte: Bogart, Leo: Is There a World Public Opinion?, in: Polls. Jahrgang 1, No. 3/1966, S. 1-9; Bogart, Leo: The Pollster & the Nazis, in: Commentary, August 1991, S. 47-

49; N. N.: Chicago Professor Linked to Anti-Semitic Past, in: The New York Times, 28. November 1991, S. B16; Herf, Jeffrey. Letter to the editor, in: Commentary, January 1992, S. 15-17; Bogart, Leo: Letter to the editor, in: Commentary, January 1992, S. 17-19; Simpson, Christopher: Elisabeth Noelle-Neumann’s „Spiral of Silence“ and the Historical Context of Comnlunication Theory, in: Journal of Communication. Jahrgang 46, Nr. 3/1996, S. 149-173; Shea, Christopher: A German re­searcher’s controversial theory about „spiral of silence“ is said to reflect her totalitarian mentality, in: The Chronicle of Higher Education, 8. August 1997.

e) Methodenkritik an den Arbeiten von Noelle-Neumann: Atteslander. Peter: Ist Medieneinfluss bei Wahlen messbar, in: Media Perspektiven, Nr. 9/1980, S. 597-604; Atteslander, Peter: Die Schwei­gespirale: Eine neue Theorie der öffentlichen Meinung oder Quatsch mit wissenschaftlicher Soße? in: Bild der Wissenschaft, Nr. 9/1980, S. 96-97; Renckstorf, Karsten: 23 „Blinde” und eine Theo­rie. Vom Wahrheitsgehalt einer nützlichen These, in: Vorwärts, 2. Oktober 1980, S. 30; Merten, Klaus: Wirkungen der Medien im Wahlkampf. Fakten oder Artefakte?, in: Schulz, Winfried und Schönbach, Klaus (Hrsg.): Massenmedien und Wahlen, München: Ölschläger 1983, S. 424-441.

3 Vgl. Güllner, Manfred: Tischkarten vertauscht. Elisabeth Noelle-Neumanns Erinnerungen, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 4/2007, S. 77-79; Heinelt, Peer: Die Auserwählte. Von Hitler bis Kohl. Elisabeth Noelle-Neumaim und ihre Meinungsforschung im Dienst der Macht, in: Kon­kret, Nr. 2/2007, S. 28-30.

4 Der Information Control Service (ICS) war eine Polizei- und Medienkontrolleinheit des U.S. Group Control Council unter Leitung des amerikanischen Generalmajors Robert Alexis McClure, einem Spezialisten für psychologische Kriegsführung, die ihren Sitz im August 1945 von Frankfurt nach Berlin verlegt hatte.

5 In einem Personalbogen für den Reichsberufswettkampf der deutschen Studenten vom 15.2.1937 gibt Noelle-Neumann im Gegensatz dazu an, sie sei seit Ostern 1936 Mitglied im NSDStB gewesen (vgl. Staatsarchiv Würzburg, RSF/NSDStB, A-2,3, 6(5).

6 Vgl. freenet-homepage.de/niqel/bredel/news/mdb.pdf (Abfrage: 4.10.2007).

7 Vgl. Adam, Uwe Dietrich: Hochschule und Nationalsozialismus, Tübingen: Mohr 1977, S. 182f£; Heiber, Helmut: Universität unterm Hakenkreuz. Band 1: Der Professor im Dritten Reich, Mün­chen: Saur 1991, S. 226ff.

8 Noelle, Elisabeth: Amerikanische Massenbefragung über Politik und Presse, Limburg: Limburger Vereinsdruckerei 1940, S. 63.

9 Noelle, Elisabeth: Wer informiert Amerika? Journalisten, Radiosprecher, Filme, in: Das Reich, 8.6.1941, S. 6 und 7.

10 Noelle-Neumann, Elisabeth: Nachwort, in: Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung, Bochum: Brockineyer 1990, S. 299.

11 Zit. nach Silbermann, Alphons: „Problem der ,Stern‘-Studie sind die Fragen”, in: taz, 12.4.1986, 5. S

12 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: Gegendarstellung, in: taz, 2.5.1986, S. 6.

13 Vgl. Köpf, Peter: Schreiben nach jeder Richtung. Goebbels-Propagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse, Berlin: Links Verlag 1995, S. 182; Rutz, Rainer: Signal. Eine deutsche Aus­landsillustrierte als Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg, Essen: Klartext Verlag 2007, S. 401.

14 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945? Frank­furt: Fischer Taschenbuch-Verlag 2003, S. 548.

15 Noelle, Elisabeth: Nachwort. Mit einem Anhang: Erläuterung einiger Besonderheiten des amerika­nischen Rechtswesens, in: Lindsey, Ben B.: Die Bestie. Denver Chronik, Leipzig: Felix Meiner-Verlag 1944, S. 257-285. Alle wörtlichen Zitate aus diesem Nachwort erscheinen im Folgenden in Anführungszeichen; jedem Zitat folgt die dazugehörige Seitenzahl in Klammern.

16 Vgl. Otto, Hans-Georg: Europa und Amerika. Hrsg. vom Beauftragten des Führers für die Überwa­chung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSD AP, Mün-

chen: Zentralverlag der NSDAP. Franz Eher Nachf. 1942/43 (= Reihe: Reichsschulungsthema 2. Amt. Parteiamtliche Lehrmittel).

17 Vgl. Hedin, Sven: Amerika im Kampf der Kontinente. 5. Aufl., Leipzig: Brockhaus 1944.

18 Vgl. Herzinger, Richard und Stein, Hannes: Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek: Rowohlt 1995; Schwaabe, Christian: Antiamerikanismus. Wandlungen eines Feindbildes, München: Fink 2003, S. 62ff.

19 Noelleovä, Elisabeth: Vyzktun verejneho mineni: üvod do metod dernoskopie. S pitdmluvou Väclava Lamsera, Praha: Nakladatelstvi Svoboda 1968; Noelle, Elisabeth: Massovye oprosy: vve­denie v metodiku demoskopii. S predisloviem Nikolaia Sergeevicha Mansurova, Moskau: Progress Verlag 1978.

20 Vgl. Smythe, Dallas: The Role of Mass Media and Popular Culture in Defining Development, in: Sektion Journalistik der DDR (Hrsg.): Der Anteil der Massenmedien bei der Herausbildung des Bewußtseins in der sich wandelnden Welt. Konferenzprotokoll Band I, Leipzig: Karl Marx-Universität 1975, S. 367-374.

21 Vgl. Smythe, Dallas: The Role of Mass Media and Popular Culture in Defining Development, in: Guback, Thomas (Hrsg.): Counterclockwise: Perspectives on Conununication. Dallas Smythe, Boulder, Colorado: Westview Press 1993, S. 261, Fußnote 15.

22 Noelle, Elisabeth: Amerikanische Massenbefragung über Politik und Presse, Limburg: Limburger Vereinsdruckerei 1940, S. 1.

23 Zit. nach Fuchs, Michael: Sego oder Sarko: Wer gewinnt‘?, in: Kölner Express, 22.4.2007, S. 2.

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