Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 180: Parteien im Umbruch

Immobi­lismus und Schein­po­litik

Strategiefähigkeit im Fünf-Parteien-System,

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S. 24-33

Das Problem

Das Getöse der Parteien der Großen Koalition ist heftig. Als könnten sie jederzeit auch anders. Wahrscheinlicher ist, dass dem deutschen Parteiensystem eine längere Phase des Immobilismus und der Scheinpolitik bevorsteht.

Blockiert scheinen die Mechanismen eines Regierungs- oder Machtwechsels. Zweier-Koalitionen sind rechnerisch unwahrscheinlich geworden. Bei denkbaren Dreier-Koalitionen macht mindestens eine der Parteien nicht mit, sie sind politisch unwahrscheinlich. Nur die Große Koalition ist jederzeit möglich, aber sie ist meist in sich blockiert.

Die Linkspartei entzieht sich bisher normaler Koalitionsbildung und reduziert damit den Spielraum für Mehrheitsbildung – keiner will mit ihr koalieren, und sie will es selbst nicht. FDP und Grüne blockieren sich wechselseitig. Beide können durch Lagerwechsel dem jeweils anderen Lager zur Mehrheit verhelfen, keiner von beiden will es tun. So haben die drei Kleinparteien sich schon nach der Bundestagswahl 2005 verhalten. In der Zwischenzeit ist ihre Manövrierfähigkeit nicht größer geworden.

Die 2005 mangels tragfähiger Alternativen erzwungene Große Koalition, die Blockaden auflösen sollte, ist, schon nach relativ kurzer Zeit, selbst ein Blockade-Faktor. Die Kraft zu lagerübergreifender Problemlösung ist, verglichen mit 1966, gering und sie wird zunehmend geringer. Eine Fortsetzung der Großen Koalition hieße aber auch Fortsetzung von Scheinpolitik, bei der politisches Reden von zielorientiertem Entscheidungshandeln abgekoppelt wird. In der Koalition ist man schon nach zwei Jahren am Ende seiner Möglichkeiten angekommen. Man betreibt Konkurrenz – statt Regierungspolitik. Was macht man, wenn das Wahlergebnis 2009 noch einmal Schwarz-Rot „erzwingt“, also noch sechs Jahre solcher bloß rhetorischer Kontroversen vor uns liegen? Auch außerhalb der Großen Koalition wächst die Scheinpolitik, mit der Linkspartei als treibender Kraft und Rückwirkungen auf andere Parteien, die auf dem Markt des Populismus nicht zu spät kommen wollen.

Das Parteiensystem steht also vor einem doppelten Belastungstest. Ermöglicht es Regierungs- bzw. Machtwechsel? Trägt es zur Koordination von Regierungs- und Wahlpolitik oder mehr zu deren Entkoppelung auf dem Wege von Scheinpolitik bei? Die Antworten auf diese Herausforderungen hängen auch davon ab, wie stark die Parteien ihre Strategiefähigkeit entwickelt haben. Stimmt die Grundeinschätzung, dass die Strategiefähigkeit der Parteien schwächer geworden ist, muss weiterhin mit Immobilismus und Steuerungsschwäche des Parteiensystems gerechnet werden. Das Grundproblem liegt in wachsenden Strategieproblemen bei nachlassender Strategiefähigkeit der Parteien.

Eigentlich bietet das Fünf-Parteien-System ja mehr Variationen und Optionen als das frühere, „gemütliche“ Drei-Parteien-System. Tatsächlich verschärfen sich die Tendenzen zur Blockade und zum Immobilismus. Dieses Paradox erklärt sich durch die mit der Fünfer-Konstellation einhergehende Ideologisierung vor allem der Kleinparteien und die gleichzeitig notwendige Entideologisierung der Koalitionsfrage. Es kann nur auf zwei Wegen aufgelöst werden. Entweder die Wähler gewinnen an Eindeutigkeit und verhelfen z.B. einer der beiden heute allein denkbaren, gleichwohl unwahrscheinlichen Zweierkoalitionen zur Mehrheit (Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün). Oder die Parteien verbessern ihre Strategiefähigkeit in einem Maße, das größere Manövrierfähigkeit zur Folge hätte und auch schwierige Koalitionen ermöglichen könnte. Warten die Parteien nur auf die Wähler, verstärkt dies den Immobilismus.

Nicht das Fünf-Parteiensystem ist die wichtigste Ursache der Strategie- und Steuerungsprobleme. Vielmehr erschweren die längerfristigen Trends der Schwächung der Strategiefähigkeit die Fähigkeit, mit den verschärften Problemen eines sich pluralisierenden Parteiensystems fertig zu werden. Die kritische Entwicklung der Strategiefähigkeit ist auf Individualisierung, Fragmentierung, Mediatisierung und viele andere entstrukturierende Prozesse zurückzuführen. Immobilismus und Scheinpolitik sind keine Eigenschaften des Fünf-Parteiensystems, sie sind systemische Konsequenzen des eigeninteressierten Handelns der Parteiakteure.

Akteure im Fünf-­Par­tei­en­system

Deutschland ist mit dem Fünf-Parteien-System in der europäischen Normalität angekommen. Dort sind fünf und mehr Parteien üblich, es gibt nur wenige Ausnahmen, die darunter liegen (vgl. Niedermayer/Stöss/Haas 2006). Spannender als der Blick von außen ist der nach innen, wo sich strategische Orientierungen der Parteien in Auseinandersetzung mit den Wettbewerbsstrukturen bilden. Wie also sehen die tatsächlichen Konkurrenzbeziehungen aus? Zunächst, banal, aber folgenreich: Nicht jeder konkurriert mit jedem.

Es gibt eine doppelte Konkurrenz: einerseits zwischen den Großparteien, andererseits innerhalb der beiden Lager. Großpartei konkurriert mit Großpartei, greift sie an, benutzt sie als Kontrastfolie ihres eigenen Profils, will den Machtwechsel durch Stärkeverschiebung zwischen den beiden Großen erreichen. Auf der geheimen Agenda ist häufig die Konkurrenz zur Kleinpartei im eigenen Lager mindestens ebenso wichtig. Die größeren Ströme der Wählerwanderung laufen meist zwischen beiden Großparteien, aber es gibt auch wichtigen Austausch mit der oder auch den Kleinparteien im eigenen Lager. Direkter Angriff wertet sie auf. Gleichzeitig gibt es Hoffnungen, dass Verschiebungen im eigenen Lager nicht „verloren gehen“, sondern einer Lagerkoalition zugute kommen.

Aus der Sicht der Kleinparteien ist die Konkurrenz zum „Gravitationszentrum“ des jeweiligen Lagers die wichtigste. Ihm gegenüber ist die Abwerbechance am stärksten. Dafür sprechen die Größenordnung potentieller Abwanderung, die ideologische Nähe zur Großpartei und die Spezialisierung in Bezug auf das Angebot der Großpartei.

Ein weiteres Merkmal ist die Asymmetrie der Lagerkonkurrenz. Auf der Linken konkurrieren drei, im rechten Lager nur zwei Parteien. Das hat im linken Lager eine verschärfte Konkurrenz zur Folge. Die Grünen profilieren sich als postmaterialistische Modernisierungs-Linke, sie nutzen Spielräume in der ökologisch-libertären Dimension, da hier ihre Stärke gegenüber der internen Lager-Konkurrenz liegt. Die Linkspartei verschafft sich Profil durch Radikalisierung ihrer Positionen in der Verteilungsfrage. Die SPD versäumt Profilierung über Produktions- und Verteilungskompetenz, sie passt sich eher an die Linkspartei an – ohne deren Forderungs-Niveau erreichen zu können.

Bei solchen Konstellationen innerhalb des Parteiensystems bestehen massive Probleme der Mehrheitsbildung. Im Fünf-Parteien-System sind nur noch schwierige Bündnisse möglich, Wunschkoalitionen werden unwahrscheinlicher. Das bedeutet Stress, vor allem für Wähler und Aktive. Die Diskrepanz zwischen Eliten und Wählern wächst: die Wähler bleiben überwiegend lagerorientiert (was z.B. an den Koalitionspräferenzen ablesbar ist), die Eliten müssen sich zunehmend lagerübergreifend orientieren. Es fehlt die disziplinierende Wirkung eines klar antizipierten Bündnisses (wie bei Rot-Grün oder Schwarz-Gelb). Parteien formulieren nur Wünschenswertes, das sie anschließend trennt.

Im rechten Lager wäre eine Mehrheitsbildung problemlos – wenn die Wähler beiden Lagerparteien zusammen eine Mehrheit verschafften. Im linken Lager fehlen bisher sowohl ein Eliten-wie ein Wählerkonsens über die Möglichkeit und Wünschbarkeit eines Linksbündnisses (viele verstehen sich noch nicht einmal als Teil eines „Lagers“ unter Einschluss der Linkspartei). Bei hoher interner Differenzierung bleibt die linke Mehrheit, die rechnerisch besteht, politisch blockiert.

Lagerübergreifend sind die heterogenen Dreierkoalitionen und die Große Koalition möglich. Bei lagerüberschreitenden Dreierkoalitionen besteht ein doppeltes Risiko: drei Parteien an der Regierung sind ebenso unpopulär wie die Tatsache, dass eine von den drei Parteien dem gegnerischen Lager als Mehrheitsbeschafferin dient. Nicht geringer sind die Probleme der Großen Koalition. Die CDU/CSU haben 2005 wie bereits 1966 den Bundeskanzler gestellt. Damit verfügen sie über die strukturelle Chance, aus einer Großen Koalition als Gewinner hervorzugehen. Wie Richard Stöss analysiert (aber noch nicht veröffentlicht) hat, kann die SPD als Juniorpartner die Verliererrolle unter zwei Bedingungen vermeiden. Entweder sie ist inhaltlich treibende Kraft in der Großen Koalition, dann werden deren Leistungen vorzugsweise ihr zugeschrieben. Oder sie gewinnt durch Einbeziehung eines weiteren Akteurs die Mehrheit für eine neue Regierung. Beides ist beim aktuellen, zweiten Anlauf einer Großen Koalition nicht gegeben. Weshalb die SPD schon frühzeitig wie der Verlierer aussieht und dieses Bild auch nicht durch Streitvermehrung aufbessern kann.

Auch unter dem Aspekt der Strategiefähigkeit haben sich die Dinge für die SPD im Vergleich zu 1966 verschlechtert. Heute ist die Führung fragmentiert. Die Richtung in Kernfragen (z.B. Agenda 2010) bleibt strittig. Strategiekompetenz ist nicht an ein funktionierendes strategisches Zentrum angeschlossen. Eine Große Koalition ist nicht von vorneherein eine Verliererkonstellation für die SPD, aber ohne einen hohen Grad eigener Strategiefähigkeit (den sie nicht zuletzt auch bei einem erweiterten Bündnis brauchte), lässt sich die strukturelle Restriktion nicht überspielen.

Dimensionen der Strate­gie­fä­hig­keit

Strategiefähigkeit ist die grundlegende Voraussetzung des weiteren Strategieprozesses (vgl. Raschke/Tils 2007). Strategiefähigkeit, dieser Speicher strategischer Handlungsmöglichkeiten, besteht aus drei Grundelementen: Führung, Richtung, Strategiekompetenz. Wenn es bei der Strategiefähigkeit nicht stimmt, ist der gesamte strategische Prozess gestört. Führung, Richtung, Strategiekompetenz, diese Trias muss entwickelt und aufeinander abgestimmt sein.

Klärung der Führungsfrage heißt: Abgrenzung und Akzeptanz eines strategischen Zentrums sowie Stabilisierung einer Führungshierarchie mit einer Nr. 1 an der Spitze. Aufbau und Sicherung eines strategischen Zentrums ist der Kern von Strategiefähigkeit.

Klärung der Richtungsfrage heißt, für die Formation einen inhaltlichen Korridor festzulegen, durch Themen, Positionen und Symbole.

Aufbau von Strategiekompetenz schließlich bedeutet, strategisches Wissen und Know-how aufzubauen, vor allem in den Bereichen Problemlösung, Konkurrenz und Öffentlichkeit.

Normalerweise bauen die Elemente aufeinander auf: erst Führung, dann Richtung, erst danach kann Strategiekompetenz greifen. Ohne Klärung der Führungsfrage bleibt die Richtung frei schwebend. Ohne die Einheit von Führung und Richtung fehlt der Strategiekompetenz die Anbindung. Seltener wird zuerst die Richtung festgelegt: dann muss die Führung folgen.

Ohne Strategiefähigkeit laufen die Strategiebildung und die strategische Steuerung ins Leere. Nie ist die Strategiefähigkeit endgültig gesichert, eher permanent von Zerfall bedroht. Immer muss an ihrem Aufbau und Erhalt gearbeitet werden, von oben und von unten.

Zur aktuellen Strate­gie­fä­hig­keit der Parteien

SPD                                                                                                                    Führung. Kurt Beck ist zwar die Nr. 1 der SPD, aber eine schwache. Er hat – im Verbund mit Angela Merkel – Franz Müntefering besiegt, damit aber gleichzeitig die sozialdemokratische Achse der Großen Koalition entfernt. Es ist unwahrscheinlich, dass Steinmeier die Führungsrolle innerhalb der SPD-Regierungsmannschaft übernehmen kann, die Müntefering hatte. Dafür fehlen ihm vor allem die sozialdemokratische Autorität und die Zeit für die Innenpolitik, auf die es ankommt.

Nicht selbst in die Regierung zu gehen, diese Entscheidung von Beck bedeutet, der Kanzlerin mehr als bisher das Feld der Regierung zu überlassen, damit auch die Reklamierung der Regierungsleistungen. Der frei schwebende Parteivorsitzende Beck wird durch seinen Verzicht definitiv zum Oppositionsführer mit dem Handicap, dass seine Partei an der Regierung beteiligt ist. Ihm kann vorgeworfen werden, nichts als Parteiinteressen zu vertreten.

Schon sein Agieren vor und auf dem Hamburger Parteitag war taktisches Reagieren aus Schwäche. Er musste etwas tun, um selbst ein gutes Wahlergebnis zu bekommen und um die demoskopischen Werte der SPD zu verbessern. Er ging den Weg des geringsten Widerstands (und der begrenzten Wirkungen) und passte sich an die innerparteiliche Linke und die Linkspartei an – ohne Rücksicht auf die bisherige Linie und den regierenden Teil der SPD. Man kann die Agenda 2010 und Hartz IV nicht nachträglich durch Revision gewinnen – dafür sind schlechte Erfahrungen und Negativimage zu sehr festgeschrieben. Sehr wohl aber kann man diese Reformen wirklich „weiterentwickeln“, um über sie und ihre Gerechtigkeitsdefizite hinaus zu kommen, indem man z.B. die Linie vertritt: „in Arbeit, nicht in Arbeitslosigkeit investieren“. Dies wäre allerdings ein strategisches Großmanöver gewesen, mit mehr Vorlauf und Komplexität, deutlich mehr als die bloße Anpassungsreaktion, die gab.

Kurt Beck verfolgt minimalistische Strategien, mit eng begrenzten Effekten, anspruchsarm und unterkomplex. Er wird von Insidern und Beobachtern hinsichtlich seiner strategischen Fähigkeiten als schwach eingeschätzt und, was noch schlimmer ist, er kennt seine eigene Schwäche nicht. Er ist strategisch nicht beratbar, er baut in seinem Umfeld keine strategische Beratung auf, um seine Defizite zu kompensieren.

Resümee: Eine schwache Nr. 1, noch keine Klarheit bei der kollektiven Führung, der Dualismus zwischen Partei und Regierung ist nicht überwunden.

Richtung. Was ist, was wird die Linie der SPD? Die SPD kann nur mit einem Doppelprofil von Modernisierung/Innovation und Gerechtigkeit erfolgreich sein und über 30 Prozent kommen. Bisher hat sie nur eine kleine Nachholbewegung beim Gerechtigkeitspol gemacht, hat bestenfalls ihre Basis konsolidiert. Der Claim, auf den sie stolz ist, „Das soziale Deutschland“, hat keine Botschaft für das Modernisierungsspektrum.

Die Austarierung der Führung passt nicht zur eingeschlagenen Richtung. Beck selbst bringt ein eher sozialliberales Profil mit – quer zu seiner aktuellen Linksanpassung. 1998 hatte man an der Spitze zwei mit Profil, jetzt hat man einen ohne Profil. Nahles ist die Sprecherin der Linken – nach außen mit deutlich geringerem Gewicht als die Mitte-Repräsentanten Steinbrück und Steinmeier. Was also ist die Linie, wenn man sich (auch) an Personen orientieren will?

Bislang bringen ihre Richtungsmanöver die SPD selbst bei ihren Wählern nicht voran. Das Verblassen des sozialdemokratischen Mitte-Profils ist eine Chance für die CDU. Die Anpassung nach links hilft vor allem dem „Original“ einer monothematischen Sozialalternative: „Jeder Kurswechsel der SPD bestätigt die LINKE.“ (Bartsch 2008)

Strategiekompetenz. Vorbereitung und Aufbau eines funktionsfähigen Bündnisses sind wichtige Bestandteile von Strategiekompetenz. Als Alternative zur Großen Koalition gibt es für die SPD, die das Linksbündnis ausschließt und für Rot-Grün zu schwach ist, nur die Ampel. Dafür ist sie mit Kurt Beck, der in Rheinland-Pfalz ja immer die Koalition mit der FDP gesucht hat, eigentlich gut aufgestellt. Schafft er 2009 ca. 34 Prozent (das ist das Ergebnis von 2005), könnte es mit FDP und Grünen reichen.

Aber um sich von einem Koalitionspartner FDP beim Mindestlohn ausbremsen zu lassen, muss es die SPD mit der Mobilisierung des Mindestlohn-Themas erst einmal in die Regierung schaffen! „Mit FDP und Mindestlohn zu neuen Ufern“ – dieser Beitrag der SPD zur Scheinpolitik braucht sich hinter dem der Linkspartei nicht zu verstecken. Das Lockangebot an die FDP, mit ihr die Große Koalition zu überwinden, ist ohne strategische Fundierung.

Grüne                                                                                                          Führung. Die Führungsfrage der Grünen ist ungeklärt. Das hat zur Konsequenz, dass personelle Rivalitäten auf die Politik durchschlagen. Die Grünen haben eine kollektive Führung ohne Hierarchisierung. Joschka Fischer war die Nr. 1 an den Strukturen vorbei. Einen zweiten Fischer gibt es nicht. Nun wird die Partei von dem Problem, das sie immer gehabt hat, eingeholt: das der Doppelspitzen. Es funktioniert bei ihnen eben nicht so wie bei den Sozialdemokraten, dass dem Vorsitzenden unbestritten das Zugriffsrecht auf die Spitzenkandidatur gehört. Die Grünen haben keinen Vorsitzenden. Sie haben viele Vorsitzende.

Dieses kleine, aber folgenreiche Moment der Hierarchisierung – wollen wir bei der Bundestagswahl einen Spitzenkandidaten oder zwei, und: wenn nur einen, wer soll es sein? – brach beim Göttinger Parteitag die ganze Partei und ihre bis dahin austarierte Richtung auf. Nur weil die beiden Spitzenleute, die es betrifft (Jürgen Trittin und Renate Künast), sich untereinander nicht einigen können.

Richtung. Die Richtung der Grünen als einer postmaterialistisch-ökologischen Partei der linken Mitte schien klar. Anders als der FDP werden ihnen Kompetenzen in mehreren Politikfeldern zugetraut; sie haben – auf der Höhe der Zeit – das am besten durchgearbeitete Grundsatzprogramm aller Parteien. Erst die Verbindung von Führungsquerelen (mit Nebenfolgen bei Richtungsfragen) und neuen Stimmungen an der Parteibasis (die sich nach sieben harten Regierungsjahren auch nach „Wonnen der Opposition“ sehnte) ließen die Richtungsunsicherheit entstehen.

Beim Göttinger Parteitag scheiterte die Führung daran, die positive Botschaft hervorzubringen, zu der die Partei bereit war und auf die es angekommen wäre: „Die Grünen stehen zum Afghanistan-Engagement.“ Auf dem Nürnberger Parteitag setzte sich die geschlossen agierende Parteiführung in der Sozialpolitik durch. Es war ein bisschen wie ein Ernstfall inszeniert, und so ging es, wenn auch mit einem Füllhorn von Steuermitteln. Man kann bezweifeln, dass das inhaltlich hinreichend verfugt und finanzierbar ist. Kritiker mögen sagen: „So kann man nicht regieren“ – aber man ist ja auch weit davon entfernt. Wer den Beschluss wörtlich nähme, würde oppositioneller Scheinpolitik aufsitzen.

Strategiekompetenz. Nur eine starke, in Richtungsfragen durchsetzungsfähige Führung könnte die Partei auch in schwierige Bündnisse führen. Tatsächlich reicht die Manövrierfreiheit der grünen Führung allenfalls für eine Ampelkoalition, die als erweitertes Rot-Grün erlebt wird, nicht für den Lagerwechsel, den eine Jamaika-Koalition bedeuten würde. Damit bleiben die Grünen die Partei eines zerbröselnden rot-grünen Lagers und fester Bestandteil des bundesrepublikanischen Immobilismus.

Die internen Führungskonkurrenzen können auch zu Unsicherheiten in der Koalitionspolitik führen. Eine Ampelkoalition unter Beck/Westerwelle/Künast wäre extrem voraussetzungsvoll. Diese Variante eines etwas schrägen Machtwechsels hätte die öffentliche Meinung und einen Unions-dominierten Bundesrat gegen sich. Sie müsste Westerwelle, unabhängig vom Stimmenanteil der FDP, zum Außenminister machen und der FDP eine Unternehmerverbände bedienende Bremserrolle einräumen. Ein solches macht- und interessenopportunistisches Bündnis bleibt, schon wegen ideologischer Widerstände aus allen drei Parteien, doch eher unwahrscheinlich.

Linkspartei                                                                                              Führung. Gregor Gysi und Oskar Lafontaine sind als Spitzenleute derzeit unangefochten, auch wenn die Richtung von Lafontaine nicht unumstritten ist. Zu besonders sind ihre historischen Rollen, ihr Mobilisierungspotential bei Wahlkämpfen, ihr massenmediales Passformat. An Lafontaine und Gysi zeigt sich besonders deutlich die letztliche Unverantwortlichkeit von Spitzenleuten, die über ein großes politisches Kapital verfügen, die aber persönlich nichts mehr werden wollen und deshalb in ihren höchst persönlichen Motiven unkontrollierbar sind (entgegen dem gängigen Verständnis, dass die Gefahr vor allem in zuviel Ehrgeiz liege). Lafontaine, mit seinen bekannten autoritäraggressiven Neigungen bzw. Fähigkeiten und seinem „strategischen Populismus“ (Hübner/Strohschneider 2007) übt im Parteiapparat zunehmend Dominanz aus, er ist der entscheidende Akteur bei der Linienbestimmung. Gysi hingegen ist Agitator und Integrator, letzteres vor allem in Bezug auf den ostdeutschen PDS-Sektor, insbesondere den Pragmatikern und Regierungswilligen sowie den Modernisierern, zu denen er selbst im alten PDS-Spektrum gehörte.

Richtung. Strittig ist weniger die Grundrichtung, die auf eine Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge bzw. der öffentlichen Güter und einer Umverteilungspolitik von oben nach unten zielt, als vielmehr die Radikalität der Forderungen sowie Fragen der Bündnis- und Regierungspolitik (vgl. Neugebauer 2007). Bis zur Bundestagswahl wird man sich im Windkanal einer reinen Mobilisierungsstrategie voranbewegen, erst dann werden die heute schon von einem Vordenker wie André Brie deutlich benannten Gegensätze aufbrechen. Dann erst wird sich zeigen, wieweit das jetzige strategische Zentrum die Partei auch auf einem offenen und kontroversen strategischen Feld führen kann, das die engen Grenzen von Wahlkampfmobilisierung überschreitet.

Strategiekompetenz. Die Strategiekompetenz der Linkspartei wird bisher nur auf einem eher niedrigen Aufgabenniveau gefordert: der Artikulation und Mobilisierung von Protest. Dabei sind Wahlkampf- und Öffentlichkeitsarbeit professionell entwickelt. Erst im Übergang „vom Protest zur Interessendurchsetzung“, auch mit zunehmender parlamentarischer Präsenz in den alten Bundesländern wird der Partei „in der Bundespolitik mehr zugetraut und mehr abverlangt als die Rolle des sozialen Gewissens von SPD und CDU-Arbeitnehmerflügel“ (Bartsch 2008). Erst dann ist eine strategische Kernaufgabe anzugehen: die Verzahnung von Reform-, Bündnis- und Öffentlichkeitspolitik mit der Perspektive Regierungspolitik als Härtetest – Ergebnis völlig offen.

Perspek­tiven

Mehr Programm, mehr Programmtreue, mehr Programmpartei sind keine Rezepte, um Immobilismus und Scheinpolitik zu überwinden. Im Gegenteil, sie selbst tragen dazu bei, die Probleme des Parteiensystems zu verschärfen. Nur Parteien, die Programm- und Machtperspektive beieinander halten können, haben Chancen, wenigstens Scheinpolitik einzudämmen. Ob das zur Überwindung von Immobilismus beiträgt, liegt dann immer noch bei den Wählern.

Derzeit sieht es so aus, als könnte vor allem die Union etwas gegen Immobilismus und Scheinpolitik tun. In der Großen Koalition hält sie eine Balance zwischen machtpolitisch Machbarem und programmatisch Überschießendem; angesichts der latenten Oppositionshaltung der SPD fällt es ihr leicht, sich mit der Großen Koalition und ihren Leistungen aktiv zu identifizieren; aus heutiger Sicht ist sie Zweierkoalitionen, die am ehesten Blockaden aufbrechen könnten, prozentual am nächsten.

Derzeit profitiert die Union von der Schwäche der SPD und von der bei ihr selbst eingespielten Machtlogik, die einen erfolgreichen Kanzler stützt. Die Führungsfrage ist geklärt, solange Angela Merkel Erfolg hat. Gehen die alten Machtspiele wieder los, wenn die Kanzlerin schwächer wird? Die Richtungsfrage ist bei der Union ungeklärt. Vor allem bleibt ungewiss, wie viel von Merkels sozialen und kulturellen Öffnungsversuchen nach 2005 am Ende als Scheinpolitik abzubuchen ist: das Reklamieren sozialer, ökologischer und (modernisierter) familienpolitischer Kompetenz, ohne überzeugende Realisierung. Die für die Unionsparteien hier noch schwachen oder schwankenden demoskopischen Kompetenzwerte sprechen dafür, skeptisch zu bleiben.

Die Strategiekompetenz der Union bleibt reduziert, vor allem wegen der Richtungsunklarheit, die Angela Merkel nicht beseitigen kann. Merkels Strategie einer Überwindung der ökonomischen Engführung ist von drei Seiten unter Druck: vom Linksschwenk der SPD, verletzten Wertvorstellungen der eigenen Anhängerschaft sowie von der Tatsache, dass ihre Strategie trotz außerordentlich günstiger Bedingungen dem bürgerlichen Lager bisher keine Mehrheit gebracht hat.

Angela Merkel kann dem sozialpolitischen Linkstrend der SPD nicht weiter folgen, ohne Interessen ihrer Kernklientel zu beschädigen, deshalb forciert sie Abgrenzungen bei Themen, die allgemein als besonders „sozial“ gelten (deutlich z.B. bei der Mindestlohnfrage). In der Familienpolitik verletzt von der Leyens Modernisierungskurs massiv traditionelle Wertvorstellungen, die in CDU und CSU stark, aber auch noch in der Wählerschaft relevant vertreten werden (vor allem in Süddeutschland). Wie sehr ist sie bereit, ihre Linie abzuschwächen, durch Konzessionen beim Betreuungsgeld, Kindergeld und bei familienpolitischen Programmentscheidungen?

Sind die sozialen und kulturellen Fragen geeignet, beim Bundestagswahlkampf in die Offensive zu gehen? Oder schwächen sie die Union, weil sie selbst und ihre Kernwählerschaft in diesen Fragen gespalten sind? Dienen sie wenigstens einer Sympathiewerbung, die für einige Wähler, die die CDU sonst nicht gewählt hätten, soziale und kulturelle Vorbehalte abbaut, ohne dabei die Union mit nicht-ökonomischen Themen in die Offensive zu bringen? Reicht das, um die Wahl zu gewinnen?

Das Land hat drei Mehrheiten: eine ökonomische, eine soziale, eine kulturelle (Raschke 2003). 2002 wie 2005 hat die Union die Bundestagswahl verloren, weil sie sich allein auf die ökonomische Mehrheit verließ. Ohne ein zweites, starkes Mobilisierungsthema außerhalb der Ökonomie ist das bürgerliche Lager nicht mehrheitsfähig.

Nimmt die Union ihre soziale Öffnung und die kulturelle Modernisierung (vor allem bei der Familienpolitik) halb zurück, dominiert der Eindruck nur symbolischer Politik, kann ihr derzeit großer Stimmenvorsprung im Wahljahr – wegen der eigenen strukturellen Widersprüche und der Angreifbarkeit – wieder zusammenschrumpfen. Dann ist auch sie Teil des relativ stabilen Immobilismus und der damit verbundenen Scheinpolitik.

Wo bleibt das Rettende bei solcher Realanalyse, die nicht in der Absicht, aber im Ergebnis negativ ist? Sie kann widerlegt werden durch eine andere strategische Praxis. Die überlasst sich nicht situativ dem Spiel der rechnerischen Möglichkeiten, die sich ohne Vorbereitung als politische Unmöglichkeiten herausstellen. Gute strategische Praxis lebt von einer doppelten Antizipation: wünschenswert-möglicher Koalition und möglich-wünschenswerter Regierungspolitik. Die jeweils passende Strategie wird sehr unterschiedlich ausfallen (von Schwarz-Gelb bis zum Linksbündnis). Ohne einen entsprechenden Führungs- und Richtungswillen muss man sich darüber nicht den Kopf zerbrechen.

Hilfreich wäre dabei ein Umdenken im Koalitionsverständnis, das man auf die Formel „vom kooperativen zum arbeitsteiligen Bündnis“ bringen könnte. Im stärker arbeitsteiligen Bündnis würde man Koalitionen nicht mehr über „gemeinsame Schnittmengen“ oder als (gemeinsame) „Projekte“ definieren. Eher würden sie zu Rahmenbündnissen, die auch Dissens produktiv machen können. Zum Beispiel durch die parteibezogene Abgrenzung von Arbeits-, Erfolgs-, Profilierungsschwerpunkten, von denen sich Koalitionspartner mindestens teilweise auch distanzieren dürfen.

Leicht ist es, sich an Wählerstimmungen anzupassen. Leicht fällt auch manchen, sich an „Notwendigkeiten“ des Regierens anzupassen. Schwer aber ist es, beidem gleichzeitig gerecht zu werden. Das parteigebundene Einwirken auf Regierung und Wähler, die Verflüssigung von „Sachzwängen“ und die Veränderung von Stimmungen, ist nur durch Strategiefähigkeit voran zu bringen. Verstärkung der Strategiefähigkeit ist in dieser Konstellation zwar kein Allheilmittel, aber die wesentliche Voraussetzung, um auch im Fünf-Parteiensystem Effizienz, Legitimation und Wandel zu ermöglichen.

Literatur

Bartsch, Dietmar: Günstige Gelegenheiten zur Strategiebildung,, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 21. Jg., Heft 1/2008.

Hübner, Werner/Strohschneider, Tom: Lafontaines Linke. Ein Rettungsboot für den Sozialismus?, Berlin, Dietz Verlag 2007.

Neugebauer, Gero: Die Partei DIE LINKE: Eine Bestandsaufnahme, unveröff. Manuskript, 2007.

Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard/Haas, Melanie (Hrsg.): Die Parteiensysteme Westeuropas, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften 2006.

Raschke, Joachim/Tils, Ralf: Politische Strategie. Eine Grundlegung, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften 2007.

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