Wen wählt das Prekariat?
Zwischen politischer Apathie und populistischem Protest,
Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S.94-101
Dass das politische Handeln von Menschen zu einem guten Teil durch ihre gesellschaftliche Lage mitgeprägt wird, gehört zu den fundamentalen Erkenntnissen der politischen Soziologie. „A person thinks, politically, as he is, socially“, so hat es Paul F. Lazarsfeld, der österreichisch-amerikanische Begründer der modernen Wahl- und Einstellungsforschung in seinem englischsprachigen Hauptwerk (Lazarsfeld et al. 1944: 27) auf den Punkt gebracht – ohne in seinen weiteren Ausführungen einem starren sozialen Determinismus das Wort zu reden. Eine vergleichbare Verortung von Personen im System gesellschaftlicher Schichtung führt nicht nur zu ähnlichen Bedürfnissen und Interessen, auch die Reaktionsweisen auf bestimmte Erfahrungen werden durch das – in aller Regel auch heute noch recht homogene – soziale Umfeld geprägt oder weiter verstärkt. Dieser Gedanke begründet das Erkenntnisinteresse an der politikwissenschaftlichen und soziologischen Analyse der Sozialstruktur. Über diese lassen sich bestimmte typische Mentalitäten und Verhaltensweisen erklären und – bei gesellschaftlich „unerwünschten“ Formen – in sozialtechnokratischer Art und Weise Ansatzpunkte für Gegenmaßnahmen generieren.
So verwundert es doch ein wenig, dass der damalige Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering im Oktober 2006 die aufkeimende Debatte um das Phänomen einer wachsenden „Unterschicht“ in Deutschland mit einem Machtwort zu beenden suchte: „Es gibt keine Schichten in Deutschland“, dies sei eine Kategorie „weltfremder Soziologen“, für das politische Handwerk völlig ungeeignet. Bei aller politischer Korrektheit in der Wahl einer nicht diffamierenden Bezeichnung für eine gesellschaftliche Gruppe scheint es doch verfehlt, diese begrifflich wegzuretuschieren, ganz als ob es sie nicht gäbe. Dies gilt umso mehr, als die Studie der SPD- nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) (Neugebauer 2007), die diese Reaktion auslöste, weit präziser und nahezu ohne jede Wertung den Begriff des „abgehängten Prekariats“ zur Charakterisierung eben jenes Milieus verwendet, das Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein soll.
Konturen des „abgehängten Prekariats“
Stritt die deutsche Sozialwissenschaft lange noch erbittert darum, ob soziale Ungleichheit besser über Klassen- oder Schichtkonzeptionen erfasst werden könne, erwuchs den Kontrahenten in ihren postmodernen Kritikern der achtziger Jahre ein gemeinsamer Gegner, der behauptete, dass sich derartige Stratifikationsmuster im Modernisierungsprozess insgesamt auflösten. Ulrich Beck (1986) bemühte das einprägsame Bild des Fahrstuhls, der in der Wohlstandsphase der Nachkriegszeit alle Schichten um eine Etage nach oben transportiert hätte. Seiner Meinung nach profitierten die unteren Schichten hiervon so stark, dass individuelle Selbstverwirklichung an die Stelle der absichernden Einbindung in vermeintlich überkommene soziale Strukturen trat.
Doch heute spricht auch Beck davon, dass die unteren Schichten der Gesellschaft mit dem Fahrstuhl stecken geblieben sind, es für sie sogar wieder nach unten geht. Die prozentuale Einkommensarmut etwa hat seit den späten neunziger Jahren deutlich zugenommen, in Westdeutschland erreichte sie sogar den höchsten Wert seit Beginn der Messungen Anfang der 1980er Jahre (Noll/Weick 2005: 3ff). Dabei geht insbesondere die Schere zwischen den einkommensstärksten und – schwächsten Teilen der Bevölkerung auseinander – ein Befund, der den Begriff des abgehängten Prekariats plastisch werden lässt. Es bilden sich Bevölkerungssegmente aus, die nicht nur unsichere Beschäftigungs-
und Lebensverhältnisse aufweisen, sondern aufgrund ihrer materiellen wie immateriellen Armut vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen sind.
Dabei ist das abgehängte Prekariat nur der Nukleus der prekären Milieus, in dem die unterschiedlichen Formen der Ungleichheit und Benachteiligung kumulieren. Folgt man der FES-Studie (vgl. auch im Folgendem Neugebauer 2007: 82ff), so macht es etwa acht Prozent der wahlberechtigten deutschen Bevölkerung aus, wobei dieses Milieu im Osten mit zwanzig Prozent deutlich stärker ausgeprägt ist als im Westen mit vier. Männer gehören ihm deutlich häufiger an als Frauen. Es handelt sich um die Gruppe mit der höchsten Arbeitslosenquote und dem geringsten Haushaltseinkommen. Aber auch die Erwerbstätigen dieses Milieus befinden sich in einer unsicheren Berufssituation: Rund zwei Drittel haben bereits Erfahrungen der Arbeitslosigkeit hinter sich, der derzeitige Arbeitsplatz erscheint zudem subjektiv nicht sicher zu sein. Finanzielle Rücklagen oder gar Wohneigentum sind kaum vorhanden, Schulden hingegen häufig. Selbst die Familie bietet in diesem Milieu wenig Rückhalt – wenn denn im traditionelleren Sinne überhaupt eine vorhanden ist.
Die Zone der Prekarität und Verunsicherung reicht jedoch weit über dieses abgehängte Milieu hinaus (Dörre 2006: 8f). Die „autoritätsorientierten Geringqualifizierten“ – so die Terminologie der FES-Studie – haben mit ähnlichen sozialen Problemen zu kämpfen, die „selbstgenügsamen Traditionalisten“ ebenso. Aber hier wird ein geringes Einkommen und Arbeitslosigkeit teilweise durch andere Ressourcen kompensiert oder die Prekaritätserfahrungen werden anders verarbeitet. Erstere haben sich häufig in den vergangenen Jahrzehnten einen bescheidenen Wohlstand aufgebaut, von dem sie jetzt zehren. Letztere finden Halt in Familie und Religion. Die Mitglieder beider Milieus sind daher deutlich häufiger mit dem Wenigen zufrieden, was sie haben. Zusammen machen die drei prekären Milieus rund 26 % der deutschen Bevölkerung aus – was in etwa dem unteren Drittel der vielzitierten „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ entspricht.
Psychosoziale Verarbeitungsformen der Prekarität
Aufgrund der Kumulation der verschiedenen Armutsformen lassen sich anhand des abgehängten Prekariats besonders deutlich die sozialen und psychologischen Folgen der Prekaritätserfahrungen aufzeigen, auch wenn viele Beobachtungen für die zwei anderen prekären Milieus gleichfalls gelten. In der Diskussion wird zur Beschreibung gerne der Begriff des „Modernisierungsverlierers“ bemüht. Dieser ist zwar recht unspezifisch und teilweise noch überkommenen normativen Modernisierungstheorien verhaftet, hat aber den Vorteil, dass er den Blick auf den Zusammenhang von sozialem Wandel, negativen Konsequenzen für Verlierergruppen und der Begünstigung von bestimmten Einstellungs- und Verhaltensmuster lenkt (Spier 2006). Er ist gewissermaßen ein wiederkehrender Topos für die Verwerfungen und Umbrüche im Gefolge des gesellschaftlichen Wandels, ein Ausdruck für die „Konsequenzen der Moderne“ (Giddens 1995).
Im Einzelnen sind die Verarbeitungsformen der Prekarität recht unterschiedlich, immer nur in der Tendenz vorhanden, aber durchaus signifikant. Prägend ist in jedem Fall die tief greifende Verunsicherung, die sich in diesem Milieu breit macht (Neugebauer 2007: 83). Im Fall der Erwerbsarbeit ist es vor allem die Furcht vor dem Verlust dieser Einkommensquelle, die nicht nur eine materielle Absicherung, sondern auch eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Leistung bedeutet. Die prekären Beschäftigungsformen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie in ihrer Dauer befristet sind, in ihrem Ausmaß nicht an Vollzeitstellen herankommen, in Fällen wie der Zeit- bzw. Leiharbeit eine hohe Flexibilität erfordern und in fast allen Fällen schlecht entlohnt werden. Die Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation ist dementsprechend groß, eine positive Identifikation mit der Arbeit ist unter diesen Umständen kaum möglich.
Sich wiederholende Zeiten der Arbeitslosigkeit lassen im Übrigen Zweifel am Sinn der eigenen Bemühung um Beschäftigung aufkommen. Es muss noch gezeigt werden, ob die rot-grünen Arbeitsmarktreformen hier wirklich Anreize zur Arbeitsaufnahme geschaffen haben, oder nur durch neue autoritative Maßnahmen der Arbeitsagenturen einen Trend verstärken, sich apathisch zurückzuziehen oder sich ohne Eigeninitiative dem zu fügen, was gefordert wird.
Dass Unsicherheit und Unzufriedenheit hier in ein Gefühl der Ohnmacht umschlagen, ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich. Die psychosozialen Folgen wurden schon früh von Erich Fromm (1937) beschrieben: Derart betroffene Menschen fühlen sich auf der einen Seite minderwertig, ziehen sich ängstlich zurück, klagen sich selbst an oder lassen sich von anderen ausnutzen. Auf der anderen Seite hegen sie Groll und Aggressionen oder leben Racheaffekte aus, um die Ohnmacht psychologisch zu kompensieren. Hier liegt eine Quelle dessen, was mit dem schillernden Begriff Autoritarismus beschrieben wird, eines Syndroms von Charakterzügen und Persönlichkeitsmerkmalen, das vor allem durch das Verharren in Konventionen, die blinde Unterordnung unter Autoritäten, die ausgeprägte Neigung zur Unterwerfung Schwächerer sowie Ethnozentrismus bzw. Antisemitismus gekennzeichnet ist (Adorno 1999: 45ff).
Wichtig ist in diesem Zusammenhang insbesondere das Verhältnis von Frustration und Aggression, von der als persönliche Kränkung und Demütigung erfahrenen sozialen Benachteiligung und der kompensatorischen Suche nach „Sündenböcken“. Ausländerfeindlichkeit ist nur ein möglicher Ausdruck hiervon, das Objekt der autoritären Aggression ist prinzipiell austauschbar. Sie kann sich genauso gut auf andere Benachteiligte beziehen, die – im Gegensatz zur Wahrnehmung der eigenen Situation – vermeintlich unverdient Sozialleistungen in Anspruch nehmen und der Gesellschaft als „Sozialschmarotzer“ zur Last fallen. Oder sie kann sich symbolisch gegen Teile der wirtschaftlichen Elite richten, wie man es aktuell an der – vermutlich recht bewusst geschürten – Diskussion über die Unangemessenheit von hohen Managergehältern beobachten kann. Darüber hinaus macht sich Misantrophie und ein zynisches Menschenbild breit, von einem gewissen sozialen Grundvertrauen – wichtige Grundlage für Kommunikation, Kooperation und Toleranz – kann keine Rede mehr sein.
Politische Apathie und Abwendung von den Volksparteien
Wie wirkt sich die Prekaritätserfahrung mit ihren psychosozialen Konsequenzen auf den Ebenen der politischen Einstellungen und Verhaltensweisen aus? Dramatisch sinkt zunächst das allgemeine Vertrauen in die Politik, gesellschaftliche Probleme, insbesondere natürlich die selbst erfahrene Benachteiligung, erfolgversprechend bekämpfen zu können. Hier von „Politikverdrossenheit“ zu sprechen, kommt einem Euphemismus gleich: Häufig wird der gesamten Politik – Parteien, Politikern wie staatlichen Institutionen – pauschal abgesprochen, auch im Interesse der „kleinen Leute“ zu agieren. Die Verärgerung über „die Politik“ geht bis hin zur Ablehnung der Demokratie als Regierungsform – die FES-Studie belegt dies zumindest für das abgehängte Prekariat.
Die Verbitterung über „die Politik“ wirkt sich auf alle Formen der politischen Partizipation lähmend aus. Mitglieder des abgehängten Prekariats sind nur etwa halb so häufig in Parteien, Bürgerinitiativen oder anderen Nichtregierungsorganisationen organisiert wie der Schnitt der Bevölkerung (Neugebauer 2007: 98f). Und auch die prinzipielle Bereitschaft, in diesen Formen politisch zu partizipieren, ist deutlich geringer ausgeprägt. Die politische Apathie des Prekariats entspringt gerade dem Gefühl der Ohnmacht und dem Mangel an sozialem Vertrauen. Ein interessengeleiteter Veränderungswille und ein darauf ausgerichtetes politisches Engagement entstehen unter diesen Bedingungen nur äußerst selten, und wenn, dann zumeist in Verbindung mit einem höherem formalen Bildungsniveau als es in diesem Milieu üblich ist.
Die politische Apathie wirkt sich auch unmittelbar auf das Wahlverhalten des abgehängten Prekariats aus. 18 % der Mitglieder dieses Milieus bezeichnen sich in der FES-Studie als Nichtwähler (Neugebauer 2007: 103) – dies ist nicht nur der höchste Wert in allen Milieus, sondern dürfte in Anbetracht des Phänomens der sozialen Erwünschtheit in Interviewsituationen real vermutlich noch höher liegen. Die Nicht-Wahl erscheint vor dem Hintergrund der verbreiteten pauschalen Politikablehnung erklärlich zu sein, dürfte aber auch zu einem guten Teil auf ein damit zusammenhängendes allgemeines politisches Desinteresse zurückgehen.
Der Teil des Prekariats, der an Wahlen teilnimmt, scheint dabei ein Verhaltensmuster an den Tag zu legen, welches sich durchaus von dem unterscheidet, das zumindest für die alte Bonner Republik noch galt. Über weite Teile der Nachkriegszeit, insbesondere in den Zeiten wirtschaftlicher Prosperität, hatten die beiden Volksparteien CDU und SPD auch und gerade die unteren Segmente der Bevölkerung fest an sich gebunden. FDP und – deutlich später – die Grünen reüssierten nicht in den unteren Schichten, sondern in den Bildungs- und Besitzbürgerlichen Milieus. Und nach der Wiedervereinigung war die PDS im Osten nicht etwa Partei der Unterschichten – sie vereinte auf sich vor allem die Stimmen der durchaus arrivierten ehemaligen DDR-Dienstklasse, hatte überdies Züge einer regionalen Volkspartei (Walter 2007: 325ff). In Westdeutschland war sie elektoral bis 2005 ohnehin zu vernachlässigen.
Diese Muster des Wahlverhaltens haben sich grundlegend geändert. Neben der bereits erwähnten Gruppe der Nichtwähler ist im abgehängten Prekariat insbesondere die Linkspartei erfolgreich, ganze 28 Prozent der Wahlberechtigten geben eine entsprechende Parteienpräferenz an (Neugebauer 2007: 100ff). Mit 14 bzw. 13 Prozent kommen Union und Sozialdemokratie hier nicht einmal zusammen auf die Werte der Linken – selbst wenn man die Überrepräsentation dieses Milieus in Ostdeutschland in Rechnung stellt, ist dies erstaunlich. Schließlich würden 8 Prozent einer rechtsextremen Partei ihre Stimme geben, in keinem anderen Milieu sind Republikaner, DVU und vor allem NPD so erfolgreich. Über 40 Prozent aller Unterstützer dieser Parteien entstammen dem abgehängten Prekariat.
Wandel der Repräsentation der sozialen Frage
Die Abwendung der Prekariats von den Volksparteien dürfte vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen sein. Der erste ist der Wandel der parteipolitischen Repräsentation der sozialen Frage. Dass das abgehängte Prekariat besonders stark ausgeprägte sozialstaatliche Einstellungen aufweist, ist ob ihrer sozialen Situation verständlich. 94 Prozent tendieren etwa bei der Entscheidung zwischen den Polen „sozialstaatliche Absicherung“ kontra „Eigenverantwortung der Bürger“ zur ersten Option, im Konflikt zwischen „Staatsinterventionismus“ kontra „Freie Entfaltung der Wirtschaft“ neigen immer noch rund 80 Prozent der befragten Milieuangehörigen der staatlichen Regulierung zu (Neugebauer 2007: 87f). Die Nachfrage nach Sozialstaatlichkeit ist hier also nach wie vor sehr groß, jedoch hat sich das politische Angebot deutlich verändert.
Die beiden großen Volksparteien sind zwar seit jeher programmatisch und von ihrer Anhängerschaft her distinkte politische Strömungen, doch waren beide in der Vergangenheit gleichermaßen Sozialstaatsparteien, die durch ihren Beitrag zum Auf- und Ausbau des Nachkriegs-Wohlfahrtsstaates großes Vertrauen in der Bevölkerung genossen (Nachtwey/Spier 2007: 51ff). Sie zählten hinreichend große Teile wohlfahrtsstaatsaffiner Wähler zu ihren Anhängern, und diese wirkten wie eingebaute Leitplanken und Haltelinien gegen die Politik des Wohlfahrtsstaatsrückbaus: Falls eine Partei sich zu stark wirtschaftsliberalen Positionen annäherte, konnte die jeweils andere sich als Bewahrer des Wohlfahrtsstaates profilieren und ihr große Wählersegmente streitig machen. Nicht ohne Grund waren die Arbeitnehmerflügel von Union wie Sozialdemokratie sehr wichtig für den Erhalt der parteipolitischen Bindungen in den unteren gesellschaftlichen Schichten.
Spätestens im Laufe der neunziger Jahre kam es jedoch zu einer konvergenten Entwicklung beider Parteien hin zu einem wirtschaftsliberalen Paradigma. Bei der SPD lässt sich das mit der Regierungsübernahme 1998, der programmatischen Zuwendung zur „Neuen Mitte“, der „Agenda 2010“ und den Hartz-Gesetzen prägnanter nachvollziehen, als dies bei der Union der Fall war, die eher schleichend in der Opposition ihr Profil neu schärfte und in den Wahlkämpfen 2002 und 2005 pointiert wirtschaftsliberal auftrat. Die Arbeitnehmerflügel beider Parteien wurden marginalisiert, ihre führenden Vertreter in den politischen Ruhestand geschickt, etwa Rudolf Dreßler bei den Sozialdemokraten oder die „Herz-Jesu-Sozialisten“ Norbert Blüm und Heiner Geißler in der Union. Es entstand eine Lücke der politischen Repräsentanz der sozialen Frage, die aufgrund soziokultureller Ferne zu den unteren Schichten auch die Grünen nicht zu füllen vermochten.
In diese Lücke stieß 2005 das Bündnis der postsozialistischen PDS und der SPD-Abspaltung WASG. Mit Lafontaine hatte die neue Linkspartei den idealen Spitzenkandidaten gefunden, der wie kein anderer Glaubwürdigkeit in der sozialen Frage mit einem populistischen Politikstil zu verbinden vermochte. Kaum verdeckt unterstützten auch Gewerkschaften und soziale Bewegungen die neue Formation. Rund eine Million Wähler wechselten mit der Bundestagswahl 2005 von der SPD zur Linken, noch einmal 430.000 kamen aus dem Lager der Nichtwähler hinzu. Und selbst eine Viertel Million ehemaliger Unionswähler zog die Partei Lafontaines vor. Zumindest im Westen wurde die Linke dadurch sozialstrukturell zu einer Partei der Unterschichten, während im Osten diese Wählersegmente zur bisherigen Wählerschaft der bereits bestehenden regionalen Volkspartei Ost hinzustießen (Walter 2007: 330ff).
Affinität zu populistischen Politikformen
Ein zweiter Grund für die geänderten Wahlmuster im abgehängten Prekariat liegt in der großen Affinität zu populistischen Politikformen in diesem Milieu. Der Appell an die „kleinen Leute“, die aggressive Frontstellung gegenüber dem politischen wie wirtschaftlichen Establishment, die Fokussierung auf charismatische Führungsfiguren und das Schüren von Ressentiments gegenüber „Sündenböcken“ korrespondiert in idealer Weise mit der psychosozialen Situation in den prekären Milieus (Spier 2006: 34ff). Den orientierungslosen und sozial isolierten Menschen wird durch den Rekurs auf das „einfache Volk“ ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt und ihnen eine soziale Identität verschafft. Die pauschale Gegenüberstellung von „korrupter Elite“ und „hart arbeitendem Volk“ spricht die latente Wut und Aggression von sich politisch ohnmächtig fühlenden Menschen an. Der tiefen Verunsicherung in den prekären Milieus entspringt ein Bedürfnis nach politischer Klarheit, nach Führung, die die als richtig wahrgenommenen Entscheidungen propagiert und durchsetzt. Schließlich fördern Gefühle der individuellen Unterlegenheit und Schwäche, des Verletztseins und der Ungerechtigkeit immer auch die Suche nach „Sündenböcken“, die für die eigene Misere verantwortlich gemacht werden können.
In vielen Ländern Westeuropas hat das Phänomen des „working-class authoritarianisms“ rechtspopulistischen Parteien einen enormen Zustrom von Wählern aus den unteren Schichten verschafft (Scheuregger/Spier 2007). In Deutschland konnten sich derartige Formationen bisher kaum langfristig etablieren, auch wenn Republikaner, DVU und Schill-Partei diesen Politikstil pflegten und selbst die NPD, Traditionskompanie des eher biederen parteipolitischen Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, sich in den letzten Jahren betont populistisch gab. Außer in einigen Landtagswahlen konnten rechtspopulistische Parteien in der Bundesrepublik nicht reüssieren. In Deutschland steht der Wahl rechtsextremer bzw. rechtspopulistischer Parteien immer noch eine gesellschaftliche Norm entgegen, die sicher mit den traumatischen Erfahrungen der Folgen des „Dritten Reiches“ zusammenhängt. Dies mindert im Vergleich mit anderen europäischen Staaten den Erfolg solcher Formationen, auch wenn inzwischen deutliche Erosionstendenzen zu erkennen sind – gerade im Osten des Landes.
Die populistische Politikform ist nicht auf die rechten parteipolitischen Ränder beschränkt und hat nur in einem sehr weiten Sinne eine ideologische Qualität. Viele Wähler rechtspopulistischer Formationen haben kein geschlossenes rechtsextremes Weltbild, sondern sind durchaus bereit, zwischen rechten und linken Parteien – auch im Sinne von Volksparteien – zu wechseln. Lafontaines Auftreten im Wahlkampf 2005 kombinierte etwa starke sozialpopulistische Elemente mit einer sehr dosierten, aber wahrnehmbaren Dosis von Xenophobie, die ihm viel Kritik einbrachte. Die Erregung der aufgeklärten Öffentlichkeit verstärkt aber die Wirkung des populistischen Appells an die „kleinen Leute“ häufig noch.
Für die nüchterne wissenschaftliche Analyse ist die pejorative Konnotation des Populismus-Begriffs ohnehin eher abträglich. Es ist keinesfalls so, dass die etablierten Parteien, insbesondere die Volksparteien, auf solche Politikstile verzichten würden. Roland Koch versucht im hessischen Wahlkampf 2008 erneut mit populistischen Methoden die Kampagne für sich zu entscheiden. Und für die SPD ist es vielleicht viel eher Ausdruck ihrer strukturellen Schwäche, dass sie die ihr ureigne Form des klassischen Sozialpopulismus zwischenzeitlich verlernt hat, nun aber mit Kampagnen um die Höhe von Managergehältern zurück zu gewinnen versucht. In beiden Fällen sind es gerade die unteren Segmente der Bevölkerung, die durch solche Politikformen angesprochen werden sollen, denn sie sind nach wie vor für die Volksparteien unentbehrlich, wollen sie eigene Mehrheiten zustande bringen.
Literatur
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Fromm, Erich, Zum Gefühl der Ohnmacht, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 6 1937, S. 95-118.
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Noll, Heinz-Herbert/Weick, Stefan: Relative Armut und Konzentration der Einkommen deutlich gestiegen. Indikatoren und Analysen zur Entwicklung der Ungleichheit von Einkommen und Ausgaben, in: Informationsdienst soziale Indikatoren, H. 33 2005, S. 1-6.
Scheuregger, Daniel/Spier, Tim: Working-class authoritarianism und die Wahl rechtspopulistischer Parteien. Eine empirische Untersuchung für fünf westeuropäischen Staaten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 59 2007, H. 1, S. 59-80.
Spier, Tim: Populismus und Modernisierung, in: Decker, Frank (Hrsg.), Populismus. Nützliches Korrektiv oder Gefahr für die Demokratie?, Wiesbaden 2006, S. 33-58.
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