Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 180: Parteien im Umbruch

Die Dominanz der Akademiker

Wandel der Mitgliederstruktur und Repräsentationsverlust der Parteien,

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S. 15-23

Parteien in der Krise – zur Aktualität eines Dauerthemas

Das deutsche Parteiengesetz sieht in Paragraf 1 vor, dass die Parteien „für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen“. Die Einbindung aller gesellschaftlich relevanten Gruppierungen und Bevölkerungskreise und deren Integration in das politische System gewährleisten die Parteien, indem sie an der politischen Willensbildung mitwirken, auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, Personal für die Wahl zu öffentlichen Ämtern und Mandaten aufstellen, auf politische Entscheidungen in Parlament und Regierung Einfluss nehmen und nicht zuletzt durch die aktive Beteiligung von Bürgern am politischen Leben. In repräsentativen Demokratien stellt somit die Parteizugehörigkeit einen zentralen Zugang zum politischen Geschehen dar.

Der anhaltende Mitgliederrückgang wirft jedoch die Frage auf, inwieweit die Parteien ihrer – auch gesetzlich fixierten – Integrations- und Repräsentationsfunktion noch gerecht werden. Der massive Schwund an Parteiangehörigen gilt vielen Beobachtern als Ausdruck tief greifender Mobilisierungs- und Akzeptanzschwierigkeiten und gibt der Diagnose von den „Parteien in der Krise“ ihre aktuelle Brisanz. Neben dem offenkundigen und breit wahrgenommenen Mitgliederschwund verzeichnet die Forschung seit einiger Zeit aber auch strukturelle Veränderungen in den Mitgliedschaften, denen bislang nur begrenzte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dabei ist die veränderte Zusammensetzung der Mitglieder für die Organisation der Parteien, für ihre Funktionserfüllung sowie hinsichtlich der Konsequenzen für das politische System mindestens ebenso folgenreich wie der schiere Schwund an Parteiangehörigen. Im Folgenden wird dargelegt, wie die Nivellierung der Mitgliedschaften und die damit einhergehende Dominanz von höher Gebildeten dazu führt, dass Parteien einen wesentlichen Teil der Bevölkerung kaum noch erreichen und immer weniger repräsentieren. Hierin liegt die Gefahr schwerwiegender Integrationsdefizite, die die Bindung ressourcenschwacher Bürger an das politische System insgesamt beeinträchtigen können. Zudem wandelt sich der Charakter der Parteien. Sie entwickeln sich zunehmend zu Mobilisierungsagenturen und Interessenvertretungen für Privilegierte.

Um diese These zu erläutern, werden zunächst der Schwund der Mitgliedschaften und die damit einhergehende Akademisierung der Parteien illustriert. Danach wird dieser Wandel unter parteitheoretischen und normativen Prämissen beleuchtet und nach Vertretungs- und Integrationsmöglichkeiten insbesondere bildungsferner Bevölkerungskreise gefragt.

Der Schwund der Partei­mit­glied­s­chaften[1]

Es gibt immer weniger Parteimitglieder. Seit über zwei Jahrzehnten hält der Rückgang der Mitgliedschaften mittlerweile an. Unterbrochen wurde er nur durch den Zusammenschluss der ost- und westdeutschen Parteien im Zuge der deutschen Einheit. Wiesen die im Bundestag vertretenen Parteien 1983 noch knapp unter zwei Millionen Mitglieder auf, so ist deren Umfang bis Ende 2006 – trotz zusätzlicher Berücksichtigung der Grünen und der Linkspartei und trotz der hinzugekommenen Parteigliederungen in den neuen Bundesländern – auf weniger als 1,5 Millionen gesunken. Allerdings sind nicht alle Parteien in gleichem Maße betroffen.

Die höchsten Mitgliederverluste hat die SPD zu verzeichnen, die mit rund 561.000 Angehörigen aber immer noch die mitgliederstärkste Partei Deutschlands ist. Die personellen Zugewinne der Mobilisierungswelle in den siebziger Jahren, die die Zahl der SPD-Mitglieder zeitweise auf über eine Million anwachsen ließ, sind somit hinfällig. Zwar schrumpft auch der Mitgliederbestand der CDU, aber sie verzeichnet mit mittlerweile knapp 553.000 fast ebenso viele Angehörige wie die SPD. Der Umfang der CSU-Mitgliedschaft erweist sich seit etwa zwanzig Jahren als recht stabil. Gegenwärtig gehören ihr rund 167.000 Bürger an. Die Mitgliederentwicklung der Liberalen wiederum ist erheblichen Schwankungen ausgesetzt. Dem steten Aufbau der siebziger Jahre steht ein Rückgang in den achtziger Jahren gegenüber. Durch die Übernahme der mitgliederstarken ehemaligen Blockparteien LDPD und NDPD wuchs die Zahl der Parteiangehörigen mit der Vereinigung schlagartig, sank in den Folgejahren aber auch wieder umgehend. Mittlerweile verzeichnen die Liberalen rund 65.000 Mitglieder und erreichen damit das Niveau der sechziger Jahre. Die Grünen als relativ junge Partei mussten nach einer steten Aufbauphase zu Beginn der neunziger Jahre – als ihnen die parlamentarische Repräsentanz im Bundestag fehlte – sowie nach der Regierungsübernahme 1998 Einbrüche verzeichnen. Seit einigen Jahren stagniert die Anzahl ihrer Parteimitglieder bei rund 45.000, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass die Grünen ähnlich wie die Sozialdemokraten – auf der Ebene der Parteiangehörigen – kaum von der Fusion mit ihren ostdeutschen Schwesterparteien profitierten. Am dramatischsten verlief die Mitgliederentwicklung bei der PDS bzw. der Linken. Die SED verfügte 1988 noch über 2,3 Millionen, die Nachfolgerin PDS 1990 über 280.000 Mitglieder. Zwischenzeitlich sank der Bestand der PDS bis auf 60.000 Angehörige. Nach dem Zusammenschluss von PDS und WASG und dem Ausbau der westlichen Landesverbände verzeichnet die Linke nun immerhin ca. 69.000 Angehörige, wobei der Mitgliederschwerpunkt im Gegensatz zu den anderen Parteien nach wie vor in den neuen Ländern liegt.

Der Rückgang der Parteiangehörigen zeigt sich zwar sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern, in Ostdeutschland fällt er jedoch weitaus deutlicher aus. Die so genannten Altparteien (CDU, FDP und PDS/Linke) verzeichnen seit der Vereinigung stete – und teils massive – Verluste. Den Neugründungen SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist es demgegenüber gar nicht erst gelungen, einen ähnlichen Mitgliederstamm aufzubauen, wie er in den alten Ländern immer noch vorhanden ist.

Der Schwund an Parteimitgliedern ist in erster Linie auf ausbleibenden Nachwuchs zurückzuführen. Zwar sind bei den Parteien im Zuge politisch unliebsamer Entscheidungen größere Austrittswellen zu verzeichnen. So verließen 1982 nach dem Wechsel der Koalition viele FDP-Mitglieder ihre Partei. Die Grünen hatten in Folge des Kosovokrieges und die SPD im Zuge der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetzgebung herbe Mitgliederverluste zu erleiden. Der Hauptgrund für den Mitgliederschwund ist jedoch der eklatante Mangel an jungen Mitgliedern. In der Folge überaltern die Parteien zusehends. War etwa bei der SPD noch im Jahre 1990 nur rund ein Viertel der Angehörigen 60 Jahre und älter, so trifft dies heutzutage auf fast die Hälfte der Mitglieder zu. Die im Durchschnitt älteste Mitgliedschaft weist die Linke auf, bei der über zwei Drittel der Angehörigen über 60 Jahre alt sind.

Die Überalterung der Mitgliedschaften trägt dazu bei, dass sich deren religiöskonfessionelle Konturen noch scharf abzeichnen.[2] So ist rund die Hälfte der CDU-Mitglieder katholisch und rund ein Drittel evangelisch. Bei der CSU ist der Anteil der Katholiken unter den Mitgliedern aufgrund der auf Bayern konzentrierten Rekrutierungsbasis mit gut drei Vierteln naturgemäß nochmals höher. SPD und Liberale organisieren in erster Linie Protestanten, die im Vergleich zu den Unionsparteien eine größere Distanz zu den Kirchen – statistisch festgemacht an der Kirchgangshäufigkeit – an den Tag legen. Bei den Grünen überwiegen Mitglieder ohne konfessionelle Bindung, die Angehörigen der Linkspartei gehören fast allesamt keiner Religionsgemeinschaft an. Mit Blick auf die religiös-konfessionelle Prägung bestehen mithin noch enge personelle Verbindungen zwischen den Parteien und den Traditionsmilieus. Mit Blick auf das Erwerbs- und Bildungsprofil ist hingegen eine starke Angleichung zwischen den diversen Mitgliedschaften zu verzeichnen.

Die Nivel­lie­rung der Mitglie­der­struk­turen

Der Mitgliederschwund hat die Zusammensetzung der Mitgliedschaft der Parteien wesentlich verändert. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass die Angehörigen der Parteien mittlerweile ähnliche Erwerbsprofile aufweisen. Es dominieren Angestellte und Angehörige des Öffentlichen Dienstes sowie – in Folge des Altersaufbaus – Rentner und Pensionäre. Zwar zeigen sich noch die traditionellen Verbindungen: Die SPD weist den höchsten Anteil an Arbeitern auf, die Unionsparteien organisieren die meisten Landwirte und ebenso wie die Liberalen einen bemerkenswert hohen Anteil an Selbständigen.

Aber insgesamt ist eine fortgeschrittene Nivellierung der Berufsstrukturen der Mitgliedschaften zu konstatieren.

Diese Veränderungen werden von einer Entwicklung begleitet, die gegenwärtig die Parteimitgliedschaften vermutlich am stärksten prägt: Sämtliche Parteien werden mittlerweile von Akademikern dominiert. Deren Anteil liegt bei den großen Parteien (Union und SPD) bei rund einem Drittel und kann bei den kleinen Parteien bis zu zwei Dritteln erreichen. Am Beispiel der CDU, für die die zuverlässigsten Angaben vorliegen, zeigt sich, dass der Anteil der höher Gebildeten insbesondere in den siebziger Jahren und in der vergangenen Dekade merklich angestiegen ist. Inzwischen verfügt rund die Hälfte der CDU-Angehörigen über Abitur bzw. Studium. Selbst wenn man das in den letzten Jahrzehnten gestiegene formale Bildungsniveau der Bevölkerung in Rechnung stellt, zeigt sich eine überproportionale Steigerung des Anteils höher Gebildeter in den Parteien. Angesichts sinkender Gesamtmitgliederzahlen verweist dies darauf, dass der Anteil aus den bildungsstärkeren Bevölkerungskreisen, der sich einer Partei anschließt, recht konstant geblieben ist, während formal niedrig Gebildete immer seltener den Weg in eine Partei finden. Sollte sich der Mitgliederschwund fortsetzen, worauf derzeit alles hindeutet, dann würde dies die Dominanz von höher Gebildeten nochmals verstärken. Denn weitergehende Untersuchungen belegen, dass der Anteil an Akademikern steigt, je kleiner Parteien werden – und zwar unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung und regionalen Zugehörigkeit.[3]

Politische und soziale Mobili­sie­rung und Integration bildungs­schwa­cher Bürger

Aufgrund der skizzierten Entwicklung besteht durchaus die Gefahr, dass sich formal niedrig Gebildete vollständig aus der politischen Arena verabschieden, da nicht alleine die parteipolitischen Beteiligungschancen zu einem erheblichen Teil durch den Bildungsgrad des Einzelnen bestimmt werden, sondern auch bei den anderen Formen politischer Aktivität Bürger mit akademischer Ausbildung dominieren, während Personen mit Hauptschulabschluss seltener vertreten sind. Beim verbreiteten Lob des angeblich demokratischen Potenzials unkonventioneller Partizipationsmöglichkeiten wird denn auch allzu oft übersehen, dass anspruchsvolle Formen politischer Beteiligung – wie etwa Bürgerinitiativen – ohnehin von den akademischen Mittelschichten dominiert werden, während ressourcenschwache Bürger kaum Zugang finden.

Verschärfend kommt hinzu, dass die allgemeine Einbindung in Organisationen zunehmend ungleich verteilt ist. Formal niedrig Gebildete finden auch immer seltener den Weg in soziale Vereine und Zusammenschlüsse. Damit besteht die Gefahr, dass durch die zunehmende Verlagerung politischer und sozialer Beteiligungen weg von den Parteien und klassischen Vereinigungen hin zu losen Zusammenschlüssen insbesondere ressourcenschwächere Personen politisch an den Rand gedrängt werden und die Schere zwischen denen, die durch Teilhabe gesellschaftliche Integration und Dominanz erreichen, und dem zahlenmäßig keineswegs kleinen Rest, an dem die Entwicklung der modernen Wissensgesellschaft vorbeiläuft, weiter aufgeht.

Alleine die Parteien stellten lange Zeit eine Ausnahme dar und integrierten ressourcenschwache und ressourcenstarke Bürger. In ihren Frühphasen waren insbesondere die Sozialdemokratie und das Zentrum Organisationen, die die Interessen ihrer zahlenmäßig starken, sozial, kulturell und/oder ökonomisch aber unterprivilegierten Anhänger im politischen Raum vertraten. Dieser Vertretungsanspruch manifestierte sich nicht zuletzt durch eine Mitgliedschaft, die in ihrer sozialen Zusammensetzung der jeweiligen Gefolgschaft ähnelte, dadurch personelle Identifikationsangebote unterbreitete und zu einer „lebendigen“ Verbindung zwischen Partei und gesellschaftlichem Vorfeld beitrug. Zudem gelang es den Parteien bisher, im Unterschied zu anderen Beteiligungsformen, auch formal niedrig Gebildete in ihre politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten einzubinden. So bestätigen denn auch fast sämtliche Studien zur innerparteilichen Partizipation, dass die sozialen Merkmale und der Bildungsstand der Parteiangehörigen nur einen geringen Einfluss auf ihr innerparteiliches Engagement ausüben.[4] Dieser Befund legt eine Besonderheit der Partizipationsform Parteimitgliedschaft offen: Soziale Attribute spielen eine Rolle bei der Zugehörigkeit zu einer Partei, aber nicht bei der Intensität des Engagements in einer Partei.

Die Parteien sind nicht zuletzt aufgrund ihres Organisationscharakters im Besonderen dazu geeignet, ressourcenschwachen Bürgern ein politisches Engagement zu ermöglichen. Die Strukturen der Parteien sind häufig (und zu Recht) als wenig flexibel, erstarrt und unattraktiv gescholten worden. Sie entsprächen weder den heutigen Anforderungen des politischen Systems noch den Erwartungen der Bürger nach einem punktuellen, an Themen orientierten und zeitlich begrenzten Engagement. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die organisatorischen Möglichkeiten, die Parteien bieten, gerade ressourcenschwachen Bürgern die Teilhabe am politischen Leben erleichtern. Eine politische Organisation hilft – ebenso wie hierarchische Führungsstrukturen und programmatische Bindungen – naturgemäß bei der Orientierung im politischen Raum. Aufgrund dieser Eigenschaften sollten die Parteien eigentlich in der Lage sein, auch und gerade diejenigen Bürger zu erreichen und zu mobilisieren, die für politische Aktivitäten nicht unbedingt prädestiniert sind.

Zusätzlich wirken innerparteiliche Mechanismen, die gezielt dazu dienen, Angehörige bestimmter Gruppierungen zu einem Engagement zu bewegen, wie etwa der häufig gescholtene Proporz: Diese Regeln schreiben – explizit oder implizit – bei der Vergabe von Ämtern und Aufgaben die Berücksichtigung diverser Gruppen innerhalb der Partei vor. Gleich ob hinsichtlich des Alters, des Geschlechts, der regionalen oder beruflichen Herkunft, bei der Besetzung von Posten – und dies gilt für die Bundes- und die Landesebene, in Teilen aber auch für den kommunalen Bereich – wird versucht, eine angemessene Beteiligung der verschiedenen innerparteilichen Gruppierungen zu garantieren. Dieses Prinzip, das eine gewisse Einschränkung der Wahlfreiheit und eine bewusste Abkehr vom Leistungs- und Auswahlprinzip darstellt, gilt vielen als Zeichen der Verkrustung der Parteien. Allerdings – und dies wird allzu häufig übersehen – ist der Proporz ein Instrument, das ressourcenschwächere Mitglieder beim Engagement in einer Partei gezielt fördern und ihnen die Übernahme politischer Verantwortung erleichtern kann.

In den letzten Jahren ist eine steigende Sensitivität für Vertretungsansprüche und -rechte in vielen gesellschaftlichen Sektoren zu beobachten. Am deutlichsten wird dies dort, wo soziale Gruppen vehement ihre Teilhabe am politischen Leben einfordern und ihre Stellung in den Parteien verbessern wollen. Bekanntestes Beispiel hierfür sind die Versuche, Frauen verstärkt zum Beitritt in die Parteien zu bewegen. Dadurch soll der traditionellen Unterrepräsentation des weiblichen Geschlechts im Bereich der parteipolitischen Partizipation entgegen gewirkt werden. Die Initiativen hierzu kommen ursprünglich aus der Emanzipationsbewegung. Mittlerweile haben aber fast alle Parteien sich diese Forderungen zu Eigen gemacht und Regelungen eingeführt, mittels derer der Frauenanteil unter den Mitgliedern und Amts- bzw. Mandatsinhabern erhöht werden soll. Sei es durch Quoten oder andere Fördermaßnahmen – die Parteien werben mittlerweile gezielt für die Mitarbeit von Frauen und streben eine zwischen den Geschlechtern ausgewogene Beteiligung an. Ähnliche Bemühungen richten sich auch an junge Menschen, nicht zuletzt da diese als Garant für die zukünftige Entwicklung und den Fortbestand der Parteien gelten.

Festzuhalten ist folglich, dass es soziale Gruppen gibt, die ihre Partizipationschancen gegenüber den Parteien offensiv einfordern, und dass die Parteien sich diese Forderung zueigen machen, indem sie aktiv eine sozial ausgewogene Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaften anstreben.

Normative Impli­ka­ti­onen des Auszugs bildungs­schwa­cher Bürger aus den Parteien

Neben den gesellschaftlichen Gruppierungen, die ihren Unmut öffentlich artikulieren und organisieren, gibt es aber auch Bevölkerungskreise, die sich schlichtweg von den Parteien – bzw. von der Politik insgesamt – abwenden. Hierzu gehören nicht zuletzt die Personen mit niedrigerem Bildungsstand. Diese sind in den Parteien und bei anderen Partizipationsformen unterrepräsentiert. Sie nehmen seltener an Wahlen teil als der Bevölkerungsschnitt, votieren jedoch überproportional häufig für rechte Parteien. Zudem sind sie unzufriedener mit den politischen Institutionen, da sie sich und ihre Interessen durch diese – und nicht zuletzt durch die Parteien selbst – nicht mehr ausreichend repräsentiert sehen. Konsequenter Ausdruck dieser Enttäuschung ist das Plädoyer für plebiszitäre Entscheidungsmechanismen. Personen mit geringerem Bildungsniveau sprechen sich stärker für direktdemokratische Elemente aus als Höhergebildete, und erhoffen sich dadurch unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen. Offenkundig sehen sie die Parteien nicht mehr als geeignete Agenturen, mittels derer das eigene Interesse in den politischen Raum transportiert oder gar das eigene politische Fortkommen organisiert werden kann.

Aus demokratietheoretischer Sicht erweist sich insbesondere die mehrfache Benachteiligung ressourcenschwacher Bürger als kritisch. Denn die politischen Beteiligungsmöglichkeiten sind mittlerweile in hohem Maße nach den gleichen Kriterien verteilt, wie die ökonomischen und gesellschaftlichen Chancen. Wer über ein Studium verfügt, hat vielfältigere und bessere berufliche Möglichkeiten, in der Regel ein höheres Einkommen und übt nicht zuletzt eine sozial anerkanntere Tätigkeit aus. Zudem ist er zumeist fest in das gesellschaftliche Leben integriert und engagiert sich in Vereinen und Verbänden.

Dass die Bildung des Individuums seine Aussichten in verschiedenen Sektoren determiniert, ist in Gesellschaften, die sich als Leistungsgesellschaften verstehen, durchaus gewollt. Allerdings – und dies verschärft die gesellschaftliche und politische Problematik – haben nicht alle Individuen die gleichen Chancen, Bildung zu erwerben. Wie die empirisch orientierte Forschung in den letzten Jahren nachgewiesen hat, werden in Deutschland – ungeachtet des insgesamt gestiegenen Bildungsniveaus – die Zugangswahrscheinlichkeiten zu Bildungsabschlüssen sozial vererbt. Wer aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau stammt, erwirbt seltener ein Abitur oder einen Studienabschluss als jemand, der aus einem Akademikerhaushalt kommt. Am prominentesten hat dies die PISA-Studie vor einigen Jahren ins Gedächtnis gerufen. Sie zeigte, dass die Chancen des Bildungserwerbs in der Bundesrepublik so stark sozial determiniert sind wie in kaum einem anderen OECD-Land.[5]

Wenn mittlerweile aber auch die parteipolitischen Beteiligungsmöglichkeiten in hohem Maße nach den gleichen Kriterien verteilt sind, wie die ökonomischen und gesellschaftlichen Chancen, dann ist den heutigen Parteien ein Wesensmerkmal abhanden gekommen, das früher einmal die Massen- bzw. Volksparteien auszeichnete. Diese stellten stets auch ein politisches Korrektiv für ökonomische und soziale Ungleichheiten dar. Aufgrund der Dominanz von Höhergebildeten in allen etablierten Parteien ist diese Funktion kaum noch erfüllbar.

Angesichts dieser Befunde und Einschätzungen wird deutlich, dass die Verbindung zwischen Parteien und Bürgern und damit die Frage nach der Notwendigkeit sozial repräsentativer Mitgliedschaften weit über die Parteien hinaus reichende Folgen besitzt. Sollte sich der Mitgliederschwund verstetigen, dann würden ressourcenstarke Bürger in den Parteien noch stärker dominieren, als dies gegenwärtig bereits der Fall ist. Personen mit niedrigem Bildungsstand aus sozial und ökonomisch unteren Schichten fänden kaum noch in die Parteien und fühlten sich von ihnen in noch geringerem Maße vertreten als bislang. Die damit einhergehenden Schwierigkeiten können Russell Dalton und Martin Wattenberg zufolge schwerwiegend sein: „Widespread participation in elections has long helped integrate citizens into the democratic process and legitimate the process; rising inequality in non-electoral forms of political participation may have exactly the reverse effects.“[6]

Der Integra­ti­ons­auf­trag der Parteien

Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft hat die sozialen Strukturen grundlegend verändert. In einer Gesellschaft, die sich zunehmend über Fertigkeiten und Leistungen definiert, ist der Bildungsgrad mehr und mehr zum entscheidenden Indikator für berufliche und damit ökonomische wie soziale Lebenschancen geworden. Wie bei jedem anderen Epochenwechsel auch gibt es Bevölkerungskreise, die von den Veränderungen profitiert haben, und andere, die zu den Verlierern der neuen Umstände und Anforderungen gehören. Gerade letztere geraten seit einiger Zeitvermehrt in den Blick der Öffentlichkeit. Unter dem Signum „bildungsferne Schichten“ werden in politischen Talkshows, in den Debatten des Feuilletons und in wissenschaftlichen Untersuchungen die Schattenseiten der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft genauer ausgeleuchtet. Dabei geht es um die Frage, wie mit denjenigen umzugehen sei, die auf Grund ihrer Fertigkeiten und Talente den gestiegenen Anforderungen der Berufswelt und anderer Lebensbereiche nach Selbstorganisation, Flexibilität, Mobilität, individueller Weiterentwicklung und Entfaltung immer weniger gerecht werden können. Zwar mangelt es nicht an Appellen, die auf Eigeninitiative setzen und die den Bürgern mit begrenzten Bildungsressourcen nahe legen, ihren Eigenantrieb zu steigern und sich nicht mit ihren begrenzten Chancen zufrieden zu geben. Aber diese Losungen ersetzen naturgemäß nicht die Notwendigkeit einer breiteren gesellschaftlichen wie politischen Klärung.

Auffällig an der einschlägigen Debatte ist, dass eher über die bildungsfernen Schichten diskutiert wird als mit ihnen. Dies mag vielerlei Gründe haben: So ist die Lebenssituation von bildungsschwachen Modernisierungsverlierern bislang nur wenig politisiert, formal niedrig gebildete Bürger verfügen zudem über eher geringe Artikulationsfertigkeiten und ihnen ist häufig der Zugang zu Mobilisierungsressourcen verschlossen. Diese Defizite und Blockaden sind zum Teil offenkundig und selbstevident. Ein weiterer wesentlicher Grund, warum sich bildungsferne Schichten bislang kaum in die Auseinandersetzung über ihre Lage einbringen, ist hingegen in der Debatte und wohl auch vielen daran Beteiligten kaum präsent: Bildungsferne Schichten besitzen schlichtweg keine etablierte Interessenvertretung im politischen Raum. Insbesondere in den politischen Parteien, die eigentlich ihre idealen Integrations- und Mobilisierungsinstanzen wären, sind sie zunehmend weniger präsent. Stattdessen werden – wie gezeigt – gegenwärtig alle etablierten Parteien von Akademikern dominiert. Dies erschwert die Einbindung aller gesellschaftlichen Bereiche in den politischen Raum und führt zu Repräsentationsdefiziten und Akzeptanzproblemen der Parteien. Die anhaltenden Diskussionen um die vermeintliche oder tatsächliche Abgehobenheit der politischen bzw. parteipolitischen Klasse sowie der allenthalben zu vernehmende Vorwurf an Parteimitglieder, dass sie sich eher für das eigene Fortkommen einsetzten als für politische Anliegen, haben auch ihren Grund in der verzerrten Zusammensetzung der Mitgliedschaften, denen es zunehmend an Repräsentativität und Authentizität mangelt. Die Ursachen und Auswirkungen der fehlenden Repräsentanz von formal niedrig Gebildeten in den Parteien sind bislang allenfalls in Ansätzen thematisiert und problematisiert worden. Eine Debatte über diese Zusammenhänge darf aber nicht auf die Parteien beschränkt bleiben. Schließlich geht es um die grundlegende Einbindung eines wesentlichen Teils der Bevölkerung in politische und soziale Kontexte. Wie Robin Celikates und Rahel Jaeggi (2006: 86f.) jüngst zu Recht konstatiert haben, lautet die entscheidende Frage, „ob sich die Individuen mit den politischen Institutionen, in denen sie ihr Leben führen, identifizieren können. Und das hängt unter demokratischen Bedingungen davon ab, ob sie sich in ihnen als potentiell Gestaltende und Teilhabende erfahren können.“

[1] Zum Umfang und zur Zusammensetzung der Parteimitgliedschaften vgl. grundlegend Niedermayer 2007.

[2] Die Angaben zum Profil der Parteimitglieder sind – soweit nicht anders ausgewiesen – Biehl 2005 entnommen. Siehe als aktuelle Studie Neu 2007.

[3] Biehl 2006.

[4] Niedermayer 1989: 238; Bürklin 1997: S. 131-138; Hallermann 2003: 125f.; Klein 2006.

[5] Baumert u.a. 2001: Kap. 8.

[6] Dalton / Wattenberg 2000c: 283.

Literatur

Baumert, Jürgen u.a. (Deutsches Pisa-Konsortium) (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen: Leske & Budrich 2001.

Biehl, Heiko: Parteimitglieder im Wandel. Partizipation und Repräsentation, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005.

Biehl, Heiko: Kleinere Parteien – exklusivere Mitgliedschaften? Über den Zusammenhang von Parteiengröße und Mitgliederstruktur, in: Uwe Jun/Henry Kreikenbom /Viola Neu (Hg.): Kleine Parteien im Aufwind. Zur Veränderung der deutschen Parteienlandschaft, Frankfurt a.M. / New York: Campus Verlag 2006, S. 75-96.

Bürklin, Wilhelm: „Bestimmungsgründe innerparteilicher Partizipation“, in: ders. /Viola Neu/Hans-Joachim Veen (Hg.): Die Mitglieder der CDU. Interne Studien der KAS 1997, Nr. 148, S. 73-150.

Celikates, Robin / Rahel Jaeggi: „Verflüssigungen der Demokratie. Zwischen Revolution und Institution“, in: polar. Halbjahresmagazin für politische Philosophie und Kultur 2006, Nr. 1, S. 85-89.

Dalton, Russell J. / Martin P. Wattenberg: Partisan Change and the Democratic Process, in: dies. (Hg.): Parties without Partisans. Political Change in Advanced Industrial Democracies, Oxford: Oxford University Press 2000, S. 261-285.

Hallermann, Andreas: Partizipation in politischen Parteien. Vergleich von fünf Parteien in Thüringen. Jenaer Beiträge zur Politikwissenschaft Band 8, Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft 2003.

Klein, Markus: Partizipation in politischen Parteien. Eine empirische Analyse des Mobilisierungspotenzials politischer Parteien sowie der Struktur innerparteilicher Partizipation in Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift 2006, Nr. 1, 47. Jg., S. 35-61.

Neu, Viola: Die Mitglieder der CDU. Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin: KAS-Publikationen 2007.

Niedermayer, Oskar: Innerparteiliche Partizipation, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989.

Niedermayer, Oskar: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2007, Berlin: Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum 2007, Nr. 11, (http://www.polwiss.fu-berlin.de/osz/dokumente/PDF/AHOSZ1 1.pdf)

Walter-Rogg, Melanie / Oscar W. Gabriel (Hg.): Parteien, Parteieliten und Mitglieder in einer Großstadt, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004.

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