Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 180: Parteien im Umbruch

Am Volk vorbei

Die Volksparteien nach dem Wegfall ihrer Voraussetzungen,

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S. 4-14

Einleitung

Politische Parteien haben sich in ihrer noch nicht so weit zurückreichenden Geschichte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert für die Demokratie große Verdienste erworben. Es waren Parteien, die im Konkurrenzkampf untereinander das Massenwahlrecht und damit die Demokratie erkämpften. Und als Sprachrohre der hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Kräfte fochten sie den Kampf um eine gerechte Gesellschaftsordnung aus, der zur politischen Emanzipation und sozialen Teilhabe von vorher ausgeschlossenen Bevölkerungsmehrheiten führte. Und die Entwicklung sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Verhältnisse in der Nachkriegszeit ist vor allen Dingen auf den friedlich ausgetragenen Konkurrenzkampf der Parteien um Wählermehrheiten zurückzuführen.

Diese große politische und gesellschaftliche Integrationsleistung, die Parteien gutzuschreiben ist, will in letzter Zeit jedoch nicht mehr glücken. Weil die sie begünstigenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weggefallen sind und sie sich selbst strategisches Fehlverhaltens vorzuhalten haben, sehen sich die die Regierung stellenden Groß- oder auch Volksparteien (VP) um ihre alten Kapazitäten gebracht, Gesellschaft und Staat in ein für die Bürgerinnen und Bürger vorteilhaftes und akzeptables Abhängigkeitsverhältnis zu bringen. Im Folgenden wird dargestellt, welche potentielle Integrationskraft Parteien als gesellschaftliche Interessenrepräsentationsinstanzen zum Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft macht, wobei anfangs Massenparteien und dann später Volksparteien unter gewandelten Umständen diese Aufgabe erledigten. Anschließend wird die gegenwärtige Lage der Volksparteien problematisiert, die immer stärker darunter leiden, den Wählerkontakt und den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren. Um das Ende der Großparteien geht es dabei nicht. Aber es soll deutlich werden, dass sich ihr Niedergang mit einer veritablen repräsentationsdemokratischen Legitimationskrise verbindet.

Der Inter­es­sen­prä­sen­ta­ti­ons­cha­rakter von Parteien im histo­ri­schen Kontext

Bei der alltäglichen Auseinandersetzung mit politischen Parteien wird leichterdings außer Acht gelassen, dass ihnen mit ihrer doppelten Verankerung sowohl im Zivilgesellschaftlichen als auch in der Sphäre des Politischen und den Organen staatlicher Machtausübung eine elementare Bedeutung für die Verwirklichung repräsentativdemokratischer Volksherrschaft zufällt. Nach Sartori (1976: IX) bilden Parteien die zentralen Scharniere und Vermittlungsinstanzen zwischen Regierung und Gesellschaft. Mit ihren Mitgliederorganisationen tief im Gesellschaftlichen wurzelnd, streben sie nach der Eroberung der Schaltstellen staatlicher Macht, um ihren Spitzen öffentliche Ämter zu verschaffen und ihre politischen Gestaltungsziele umzusetzen zu können. Sie richten Wahlen aus, so dass Wähler/innen in den Kandidaten und Programmvorstellungen der Parteien eine Richtschnur vorfinden, um ihre Stimmabgabe an ihren Interessenvertretungserwartungen ausrichten zu können.

Dies alles befähigt Parteien in einzigartiger Weise dazu, die im Gesellschaftlichen verankerten Interessen und daraus resultierenden Spannungen aufzugreifen und durch“Übersetzung“ (Lipset/Rokkan 1967: 5) auf die Ebene der Politik und damit die Arena politischer Interessenrepräsentation zu hieven. Sich die Wünsche und Anliegen relevanter Bevölkerungsgruppen zu eigen zu machen und sich für deren Durchsetzung einzusetzen, macht Parteien zu unverzichtbaren Interessenrepräsentationsorganen des Volkswillens. Hierdurch finden gesellschaftliche Kräfte und Strömungen in Parteien als intermediäre Vermittlungsinstanzen ein Sprachrohr und ein Vertretungsorgan ihrer Interessen. Und hierdurch erhalten sie Zugang zu parlamentarischen und gouvernementalen Entscheidungszentren, so dass ihre Wünsche und Anliegen bei Entscheidungen Berücksichtigung finden können. Allerdings, und dies betont Sartori ausdrücklich (1976: 27), lässt sich eine von den Parteien gestellte Regierung erst dann als verantwortlich und responsiv bezeichnen, wenn sich Parteien de facto als Dienstleister und Kanäle für die Artikulation, Kommunikation und Implementation der Wünsche der Regierten betätigen. M. a. W.: erst die effektive Ausübung der Interessenrepräsentationsfunktion macht Parteien zu legitimen Trägern repräsentativdemokratischer Volksherrschaft.

Das Zeitalter der industriellen Revolution und der Massendemokratisierung brachte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein modernes Parteiwesen hervor, das eng mit der Politisierung und dem Kampf um die parlamentarische Repräsentanz der gesellschaftlichen Interessen- und Konfliktstruktur Deutschlands bis zum Ende der Weimarer Republik verbunden war. Die Träger und politischen Repräsentationsinstanzen der Entwicklung bildeten Massenparteien, die den gesellschaftlichen Lagern und Milieus, die sich entlang tiefer soziökonomischer und politisch-kultureller Spannungslinien organisierten, eine politische Ausdrucksmöglichkeit boten: Kapital gegen Arbeit, Stadt gegen Land, katholische Kirche gegen laizistischen Staat.

Als politische Tendenzbetriebe leisteten Parteien dabei einen zentralen Beitrag zur politischen Vergemeinschaftung der Massen, denen sie eine politische Heimat boten. Interessenrepräsentationsparteien gingen mit den von ihnen vertretenen Lagern ein dauerhaftes, engmaschig vernetztes Beziehungsverhältnis ein, so dass sich zwischen den Parteieliten, Parteimitgliedern und Wählern ein ideologisch und sozial abgesichertes kollektives Identitätsverhältnis herausschälte. Der Abschließungseffekt verstärkte allerdings die politische Lagerbildung. Zugleich verengten sich Massenparteien als politischer Arm gesellschaftlicher Bewegungen und strikt voneinander getrennter Lager zu Vertretungsorganen von kollektiven Partikularinteressen. Noch dazu untergrub bekanntlich die ideologische Polarisierung und der unversöhnliche Machtkampf zwischen den Lagerparteien die Regierbarkeit der Weimarer Republik. Das reine Verhältniswahlrecht begünstigte Splitterparteien, und links- und rechtsextremistische Antisystemparteien verstärkten die Destabilisierung. Das Weimarer Parteiensystem erfüllte zwar in der Interessenrepräsentationsspanne seine Ausdrucksfunktion, scheiterte aber an unzureichender Regierungseffizienz und an seinen inhärenten ideologischen Fliehkräften. Als Spiegelbild der tief gespaltenen Weimarer Zwischenkriegsgesellschaft gingen die Regime tragenden Parteien an den wirtschaftlichen Katastrophen und an den demokratiefeindlichen gesellschaftlichen Gegenkräften zu Grunde.

Aufstieg der Volks­par­teien und ihr goldenes Zeitalter

Die Entwicklung des Parteiwesens nach dem II. Weltkrieg, und dies gilt insbesondere für Westdeutschland, ist eng mit dem Aufstieg der Volksparteien verbunden (Hofmann 2004: 42ff). VPs repräsentieren, und da sind sie den älteren Massenparteien ähnlich, Kollektivinteressen. Als Multiinteressenparteien erheben sie jedoch den Anspruch, Interessen verschiedener Gruppen aufzugreifen, zu bündeln und zum Ausgleich zu bringen. Diese soziale Umfassungs- und Interessenintegrationsleistung hat natürlich das für Parteien ureigenste Machtstreben zur Grundlage. VPs wollen mit Hilfe ihrer Catch-all-Strategie auf dem Wählermarkt Stimmenmehrheiten erzielen.

Aus Gründen der Stimmenmaximierung geben sie den ideologischen Integrationsanspruch der älteren Massenparteien auf und belassen es im Wesentlichen bei der Befriedigung von konkreten Wählerinteressen. Zwar erinnern CDU/CSU mit ihrem christlichen Menschenbild und SPD mit dem Ziel des demokratischen Sozialismus und einer neuen gerechten Gesellschaftsordnung noch an die vergangene Zeit der Weltanschauungsparteien. Doch in Wirklichkeit wird zwischen den ideologisch entschlackten Volksparteien der Konkurrenzkampf um Wählerstimmen auf dem Feld der materiellen Wohlstandsmehrung und der Verteilung sozialer Wohltaten ausgetragen. Obgleich das Prinzip des gesellschaftlichen Ausgleichs hochhaltend, verfolgen VPs weniger die Linie des Bargainings und Aushandelns von Kompromissen zwischen den unterschiedlichen, teils auch gensätzlichen Interessen und Erwartungen ihrer Wählerzielgruppen. Vielmehr geht es nach dem Gießkannenprinzip darum, die spezifischen Anliegen und Interessen aller für die Organisation von Wählermehrheiten wichtigen Gruppen klientelistisch aufzugreifen und zu befriedigen, so dass jede Gruppe gewissermaßen zu ihrem Recht kommt und sich bei der Interessenvertretung angemessen berücksichtigt sieht. Im Falle eines Regierungswechsels werden deshalb auch nicht die Begünstigungen von nicht so nahe stehender Wählergruppen kassiert, sondern einfach jene Klientel verstärkt mit Wohltaten bedacht, die den eigenen Stammwählergruppen zugerechnet wird. Insofern ist den Wählern auch allemal klar, dass der Tendenz nach eine unionsgeführte Regierung eher eine wirtschaftsfreundliche und eine SPD-geführte Regierung eher eine arbeitnehmerfreundliche Politik betreibt, ohne allerdings die jeweils andere Seite zu vergrätzen. Die Vorreiterrolle beim Eintritt in die Volksparteienepoche übernahm die CDU. Strategisch schloss die Adenauer-CDU nach dem 2. Weltkrieg an ein Parteimodell an, dass durch die Weimarer Zentrumspartei vorgeprägt war. Sie bereits positionierte sich als katholisch weltanschauliche Integrationspartei, die soziokulturell über die Klammer des gemeinsamen Glaubens und Nähe zur katholischen Kirche den spalterischen sozioökonomischen Klassenkonflikt in der eigenen Anhänger- und Wählerschaft zu überwinden verstand. Infolge dessen gelang es dem Zentrum, die katholische Wählerschaft schichten- und klassenübergreifend an sich zu binden. Kleinbürgerlicher Mittelstand, Landwirte und handwerkliche Arbeiter und Angestellten fanden im Zentrum ihre politische Heimat. Deren Interessenrepräsentation wurde innerparteilich und parlamentarisch durch gruppenspezifische Flügelbildungen und durch eine auf sozialen Ausgleich ausgerichtete politische Linie untermauert.

Die neu gegründete CDU setzte von ihrer Ausrichtung her bei diesem schichtenübergreifenden sozialen Umfassungs- und Ausgleichsmodell an. Die strategische Meisterleistung bestand aber dann darin, sich über das katholische Milieu hinaus dem konservativen protestantischen Lager als Bündnispartner anzudienen. Die Öffnung zu einerchristlichen Sammlungspartei ist bekanntlich in der Ära Adenauers geglückt, so dass sich die CDU hegemonial als bürgerliche Sammlungs- und Integrationspartei des besitzbürgerlich konservativen, protestantischen und katholischen Lagers etablieren konnte. Diese breite interessenheterogene Wählerkoalition wurde durch einen geistigen Überbau aus christliche Werten und einem militanten Antikommunismus zusammengehalten. Interessenpolitisch kam aber als Erfolgsrezept hinzu, klientelistisch die materiellen und sozialen Interessen der hinter der Union stehenden Landwirte, Kleinbürger, Arbeiter, selbstständigen Handwerker und Unternehmer ausgiebig zu bedienen, so dass sich diese heterogenen Gruppen mit dem sozialen Ausgleichskonzept der Partei identifizierten. Zur Festigung dieses breiten Bündnisses zwischen Union und gesellschaftlichen Lagern trug bei, dass enge Netzwerke zwischen den innerparteilichen Interessenvereinigungen, wie etwa Sozialausschüsse, Mittelstandsvereinigung und Wirtschaftsrat, und dem Verbandswesen geknüpft wurden. Bis heute zeigen die Spitzen der Unternehmer-, Handwerks- und Bauernverbände eine ausgeprägte Unionsnähe. Die Sozialausschüsse schlossen sich mit dem katholischen Vereinswesen kurz und konnten sich so als Sprachrohr des linkskatholischen Milieus in der CDU und CSU etablieren.

Die SPD nahm von dem strategischen Erfolgskonzept der CDU als Volkspartei zunächst keine Notiz, weil sie ihr Heil in der bruchlosen Fortschreibung ihres traditionellen Verständnisses als Interessenrepräsentationspartei des nicht katholischen städtischen Industriearbeiterlagers suchte. Die schmerzlichen Wahlniederlagen 1949, 1953 und 1957 zwangen sie dann aber zu einer strategischen Richtungskorrektur, die zu einer volksparteilichen Öffnung gegenüber den Kirchen und den Aufsteigergruppen der sich anbahnenden postindustriellen Gesellschaft führte.

Mit Godesberg übernahm die SPD allerdings nicht das schichtenübergreifende Erfolgsmodell der CDU, zumal ihr hierfür ein Äquivalent zum Christentum als Klassen versöhnende ideologische Klammer fehlte. Sie blieb schichtenspezifisch Arbeitnehmer- und Kleine-Leute-Partei, wobei sie nun aber über die Industriearbeiterschaft hinaus Angestellte jeglicher Couleur und die Bediensten des Sozialstaatssektors in ihre soziale Umfassungsstrategie einbezog. Mit der Brandtschen Entspannungspolitik und der Politik der Inneren Reformen („Mehr Demokratie wagen“) gelang es sogar zeitweilig, ein gesellschaftliches Aufbruch- und Reformbündnis zwischen der Arbeiterschaft und den neuen Mittelschichten zu schmieden.

Wichtig für den Aufstieg der Volksparteien sind indessen nicht allein die hier skizzierten strategischen Neu- und Umpositionierungen von CDU/CSU und SPD, die sie mit je spezifischer sozialer Lagerung zu integrativen sozialen Umfassungsparteien machen. Vielmehr wurde diese strategische Annäherung beider Großparteien an das Volksparteimodell deshalb von den breiten Wählermassen goutiert, weil sie sich trotz unterschiedlicher sozialer Lage und Interessenorientierung in der Interessenrepräsentationsspanne der Großparteien berücksichtigt und vertreten sahen. Verwunderlich war dies weiter nicht, weil die miteinander rivalisierenden Großparteien sorgfältig darauf bedacht waren, sowohl ihre Stammklientel als auch gerade die weniger sicheren Wählergruppierungen aus dem Wechselwählerlager interessenpolitisch zufrieden zu stellen.

Durch die Volksparteienkonkurrenz gingen infolgedessen über Jahrzehnte Subventionsmilliarden etwa an den Mittelstand und die Landwirtschaft, und insbesondere die Steuerpolitik wurde zum Paradebeispiel für die Schaffung klientelistischer Ausnahmetatbestände zu Gunsten von Selbständigen und Unternehmen. Die größten Aufwendungen gingen aber in die Sozialpolitik, zumal hier die wahlrelevanten Interessen von Abermillionen von Familien, Rentnern, unselbständig Beschäftigten und Erwerbslosen befriedigt sein wollten. Unter diesen Bedingungen blieb nicht aus, dass der Konkurrenzkampf der Parteien mit Ende der 1950er in einer Politik der Wohltaten nach dem Gießkannenprinzip mündete. Sowohl christdemokratisch als auch sozialdemokratisch geführte Bundesregierungen rivalisierten darum, den Sozialstaat weiter auszubauen und das soziale Netz zur Absicherung von individuellen Arbeitslosigkeits-, Armuts-, Gesundheits-, Erwerbstunfähigkeits- und Altersversorgungsrisiken immer engmaschiger zu knüpfen. Von der Erfolgsrezeptur lief die Politik der sozialen Wohltaten auf einen Sozialstaatskonsens hinaus, der besagt, dass der Staat Hüter und Garant umfassender sozialer Sicherheit ist und dass an den Lasten und Errungenschaften des Sozial- und Wohlfahrtsstaats alle Gruppen gleichermaßen beteiligt sein und herangezogen werden sollten.

Den unbeschwerten Aufschwungsjahren der Wohlstandsmehrung und der Politik der sozialen Wohltaten sei’s Dank, dass die VPs bis zum Ende der siebziger Jahre eine Hochzeit erlebten. An Mobilisierungs-, Integrations- und Organisationskraft waren sie nicht zu überbieten. Gleichzeitig konnten sie sich in einem Wählerhoch, Mitgliederhoch und Zustimmungshoch sonnen. Die Identifikation der Wähler mit den Parteien erreichte Spitzenwerte. Im wehmütigen Rückblick auf diese längst vergangene Zeit größter Popularität und Wählerresonanz lässt sich zu Recht von ihren goldenen Jahren sprechen.

Die strategische Ausrichtung hin zu Volksparteien fand unter den zeitbedingten, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der westdeutschen Nachkriegsentwicklung statt, ohne die die Volksparteienepoche nicht nachvollziehbar ist.

Die schon 1948 unter Erhard eingeleiteten Wirtschaftsreformen zu Gunsten einer freien, sozial abgefederten Marktwirtschaft setzten einen Wirtschaftsaufschwung frei, der die Grundlage für den Auf- und Ausbau des bundesdeutschen Sozial- und Wohlfahrtsstaats bildete. Mit der VP-Entwicklung nahm der Wettbewerb um grundlegende politische Richtungsdifferenzen und um gesellschaftspolitischen Systemalternativen ein Ende. Parteienkonkurrenz bewegte sich nun innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsund Eigentumsordnung, wobei speziell die SPD mit ihrer programmatischen Vergangenheit brach, eine neue sozialistische Gesellschaftsordnung erkämpfen zu wollen.

Soziokulturell befand sich die westdeutsche Nachkriegsbevölkerung bis in die frühen Sechziger hinein in einem posttotalitären Erschöpfungszustand, der entideologisierend und entpolitisierend wirkte. Politische Apathie wurde durch die höchst schwierigenmateriellen Überlebensverhältnisse gefördert. Die Nachwirkungen des Krieges, Flucht und Vertreibung, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, kurz materielle Not verlangten nach einer Politik, die elementare Grundbedürfnisse zu befriedigen hatte. Nicht von ungefähr wuchs die Identifikation der Westdeutschen in dem Maße mit der jungen Demokratie, wie sich deren materielle Basis verbesserte und unmittelbare Risiken der Armut, Krankheit, Obdachlosigkeit, Arbeits- und Erwerbslosigkeit durch staatliche Schutz- und Vorsorgemaßnahmen aufgefangen wurden. Staatlich garantierte soziale Sicherheit wurde zum Dreh- und Angelpunkt, zur Messlatte, mit der Massenloyalität erkauft und das Abschneiden der Parteien bei Wahlen entschieden wurde. Konsum, steigender Wohlstand und sich eröffnende Aufstiegsmöglichkeiten waren über soziale Sicherheit hinaus Gründe genug, um den VPs die Stange zu halten.

Der Verfall der Volks­par­teien als Inter­es­sen­re­prä­sen­ta­ti­ons­in­sta­nzen

Seit den achtziger Jahren geht es mit den Volksparteien abwärts. Ihr schleichender Niedergang wird häufig mit gesellschaftlichen Ursachen in Beziehung gebracht, für die gewöhnlich solche Stichworte wie Strukturwandel, postindustrielle Gesellschaft, Wertewandel oder Milieuauflösung angeführt werden.

Dies allein reicht allerdings zur Erklärung ihres Abstiegs nicht aus. Mindestens genau so wichtig ist, dass förderliche gesellschaftliche Voraussetzungen weggefallen sind, denen sie ihren Aufstieg und beeindruckenden Wählererfolg zu verdanken haben.

So fielen die wachstumsbedingten Verteilungsspielräume Schritt für Schritt weg, mit denen die Parteien den Bürgerinnen und Bürgern sozialstaatliche und materielle Wohltaten zukommen ließen. Schließlich hielt die eklatante Wachstumsdynamik der Wirtschaft mit Vollbeschäftigung und stetig steigenden Löhnen nur bis Mitte der Sechziger an, um sich dann im Auf und Ab der Konjunkturzyklen kontinuierlich abzuschwächen. Der Ausbau des Sozialstaats ging dagegen ungebrochen weiter. Die sich seit den siebziger Jahren öffnende Schere zwischen steigender Arbeitslosigkeit einerseits und sinkenden Staatseinnahmen andererseits ließ die Politik den Weg in den Schuldenstaat einschlagen. Zudem überflügelten die seit den achtziger Jahren exorbitant ansteigenden Sozialabgaben immer stärker die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts. So entschied sich die Politik, die sich öffnende Einnahmen-Ausgaben-Lücke den breiten Massen der Lohn- und Gehaltsempfänger als wachsende Steuer- und Abgabelast aufzubürden.

Die goldenen Jahre der VPs schwanden in dem Maße dahin, wie sie mit dem einschneidenen Wirtschafts- und Gesellschaftswandel an ihre Integrationskapazitätsgrenzen stießen. Zunächst noch griffen die VPs die aus den Aufbruch- und Protestjahren herrührenden Spannungen der späten Sechziger und frühen Siebziger noch erfolgreich auf und konnten sie durch polarisierten Parteienwettbewerb absorbieren (Wiesendahl 2002). Doch glückte dies nur noch sehr begrenzt mit der damaligen Demokratisierungswelle und partizipatorischen Revolution. Temporär setzte eine Beitrittsschwemme in die VPs ein. Mit dem Aufstieg der neuen sozialen Bewegungen wurden sie dann aber von weiterem Mitgliederzulauf abriegelt. Als konventionelle Partizipationsanbieter gerieten die VPs ab den späten Siebzigern vollends ins Hintertreffen. Gleichzeitig verschliefen sie den sich ausbreitenden Wertewandel. Im Gegenteil erwiesen sich die Regierungsflügel der VPs sogar als unwillig, das politisch vorherrschende Wachstumsparadigma mit der neu aufkommenden ökologischen Frage zu versöhnen. Dieses offenbare Integrationsversagen hatten sie mit dem parlamentarischen Durchbruch der Grünen zu bezahlen. Ihren Aufstieg hatten sie zudem der Verweigerungshaltung der VPs gegenüber den Anliegen der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung zu verdanken. Erst nach dem Sturz der Schmidt-Regierung holte die SPD unter heftigen Flügelkämpfen eine programmatische Öffnung nach, die aber zu spät kam.

Während der Achtziger traten auch deshalb Irritationen zur Wählerumwelt auf, weil den traditionellen Stammwählern von SPD und CDU nicht verschlossen blieb, dass sie ihre angestammte politische Mündelrolle mit weiteren Wählergruppen teilen müssen. Inder Tat bedeutete die Öffnung der VPs zu ihnen nicht eng verbundenen Wählergruppen zwar eine unverzichtbare Anpassung an die volatile Wählerlandschaft. Doch gerieten sie damit zwangsläufig in eine Modernisierungsfalle (Wiesendahl 1992). Denn der Zugewinn an Wechselwählern aus den politisch ungebundenen neuen Mittelschichten ließ sich nur um den Preis der Stammwählervernächlässigung erkaufen. Dies wurde spätestens in den Achtzigern virulent, als sich im Gefolge des verstärkten Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesses der Wirtschaft die Wähler in Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer aufzuspalten begannen. Letztere wurden dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt in die Sozialhilfe abgedrängt. Vor allem in städtischen Arbeiterquartieren entstand ein vagabundierendes Protestpotential, das sich in der Wahl von rechtsextremistischen Parteien ein Ventil suchte. Massive Zuwanderungsströme von Migranten in die städtischen Problemgebiete verstärkten die Protestneigung.

Von noch viel weiter reichender Bedeutung war, dass schon im Gefolge des Ölpreisschocks von 1973 wirtschaftliche Wachstumsimpulse stark beeinträchtigt wurden. Die damalige Brandt- und dann Schmidt-Regierung versuchte vergeblich, die einsetzende Stagflation mit Keynesschen Konjunkturinstrumenten zu bekämpfen. Seitdem wurden steigende Massenarbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche zu den Begleitern der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung. Der öffentliche Schuldenstand stieg, ohne die expandierenden Staatsausgaben im Sozialsektor decken zu können.

Die deutsche Einheit erzeugte eine weitere wirtschaftliche und sozialpolitische Belastungssituation, deren enorme Folgekosten in erster Linie auf die sozialen Sicherungssysteme abgewälzt wurden. Gleichwohl entstand aus dem Modernisierungs- und Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West ein sozialer und mentaler Gleichstellungskonflikt, der von den westdeutschen Parteien und ihren Filialen in den Neuen Bundesländern nicht angemessen abgebildet und integriert werden konnte. Infolgedessen konnte sich die PDS als Sprachrohr und Repräsentationsinstanz vernachlässigter ostdeutscher Regionalinteressen etablieren.

Mit dem Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion kam es schließlich mit der einsetzenden Liberalisierung von Märkten zur exorbitanten Ausweitung des globalen Warenverkehrs und des Welthandels. Seitdem setzen technologisch gereifte Niedriglohnländer mit billiger Massenfabrikation traditionell exportabhängige Hochlohnländer wie Deutschland einem Standortwettbewerb aus, der durch den globaler Aufstieg des Finanz- und Börsenkapitalismus noch verschärft wurde. Löhne und Arbeitsmarktregularien gerieten seitdem schon deshalb unter Druck, weil international tätige Konzerne Gewerkschaften und Betriebsvertretungen mit der Auslagerung von Produktionen und mit der Androhung von Betriebsstilllegungen gefügig machten. Selbst in florierenden Fertigungs- und Dienstleistungsbrachen begann ein flächendeckender Personalabbau, um die mit der Shareholder-Value-Strategie angestrebten kurzfristigen Profit- und Börsenwertsteigerungen von Unternehmen zu verwirklichen.

Die gegenwärtig bemäkelten Gehaltssteigerungsexzesse von Spitzenmanagern bilden in diesem Zusammenhang gesellschaftspolitisch nur ein oberflächliches Indiz für etwas viel Grundsätzlicheres: nämlich für die Wiederkehr der alten sozialen Frage im neuen Gewande. Um materielle Verelendung geht es dabei nicht mehr. Auch die Ausbeutung ist einer subtileren Form von Lohndrückerei und Arbeitsverlustsdrohung gewichen. Es geht um die einseitige Aufkündigung eines für die Bundesrepublik lange Jahre konstitutiven sozialpartnerschaftlichen Gesellschaftsvertrags, der auf Teilhaberschaft beruhte. Die neue soziale Frage macht Schluss damit, „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) einlösen zu wollen. Sie befördert bewusst soziale und kulturelle Ungleichheit und betreibt den Ausschluss weiter Teile der Arbeitnehmerschaft von der weiteren Wohlstandsentwicklung.

Alles in allem hat sich in den letzten Jahren in Deutschland ein wirtschaftlich induzierter Paradigmenwechsel durchgesetzt, der das Konsens- und Sozialpartnerschaftsmodell des rheinischen Kapitalismus untergrub. Das Land geriet in den Sog eines global entfesselten und agierenden Börsen- und Anlegerkapitalismus. Ihm stehen soziale Marktwirtschaft und das kostenträchtige Wohlfahrts- und Sozialstaatsmodell der alten Bundesrepublik als wesensfremd im Wege. Auf jeden Fall haben diese gewandelten Verhältnisse die Voraussetzungen verkehrt, unter denen VPs ihre auf Teilhabe bedachte Interessenrepräsentations- und -integrationsfunktion gegenüber der Wählerschaft erfolgreich erfüllten. Jetzt gilt es nämlich, eine sich spaltende und auseinander driftende Wählerschaft, die Mitte, Maß und Zusammenhalt verloren hat, zu integrieren. Denn schon nistet sich in das gesellschaftliche Zusammenleben Ellbogenmentalität ein und Entsolidarisierung. Dies lässt die Deutschen mit Blick darauf, was ihnen zukünftig noch alles blüht, geradezu erschauern. Jetzt schon stagniert und fällt für die breiten Massen der Lebensstandard, während Einkommen und Vermögen des oberen Gesellschaftsdrittels davon laufen. Das Stück am Volkseinkommen, das den Arbeitnehmern übrig bleibt, wird seit Jahren immer kleiner. Dagegen werden die Wohlhabenden und wirklich Reichen immer reicher. Die einseitig angebotsorientierte Förderungspolitik für Unternehmer-Investitionen hat über die Jahre zur Deckelung der Lohn- und Gehaltsanstiege für die breiten Erwerbsmassen geführt. Deren sinkende Kaufkraft bewirkte wiederum eine chronische inländische Nachfrageschwäche. Die Erhöhung von Verbrauchssteuern und Sozialabgaben verstärkten noch diese Entwicklung.

Die VPs, die nicht mehr Herren des Geschehens sind, stürzt diese Entwicklung in ein strategisches Dilemma: Ihrer bisherigen Schönwetterpolitik sozialer Wohltaten ist auf jeden Fall der wirtschaftliche und finanzielle Boden entzogen, was sie zu einer Kursänderung nötigt. Würden sie jedoch angesichts des Machtgewinns der Wirtschaft und des nicht mehr bezahlbaren Sozialstaats eine Kehrtwende vollziehen, hätten sie mit einem massiven Loyalitätsentzug der Wähler zu rechnen. Entschieden sie sich aber für ein „Weiter so“, gerieten sie in ein noch tieferes Schuldenloch und versäumtes es, den Standort Deutschland an die Imperative des globalen Kapitalismus anzupassen. Nicht auszuschließen wäre dabei, die weitere wirtschaftliche Prosperität des Landes zu riskieren. Die Kohlregierung wich dieser Richtungsentscheidung noch aus, so dass Rot-Grün wegen der nicht mehr zu bändigenden Probleme – ohne strategisches Konzept – in einen Entscheidungsnotstand trudelte. Aus der Not geboren entstand die Agenda 2010Politik, die das exekutierte, was sich in Deutschland ab den späten 1990ern zu einem ökonomisch verengten, neoliberalen Elitenkonsens verdichtet hat (Wiesendahl 2007: 222ff), nämlich Rückbau des Sozialstaats, Deregulierung des Arbeitsmarktes und Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Für die Arbeitnehmerschaft bedeutete dieser Kurs einen persönlich benachteiligenden und kostenträchtigen Abbau staatlich gewährter Rechte und Leistungen, während gleichzeitig dem internationalen Anlagekapital verbesserte Verwertungsmöglichkeiten seines Renditestrebens eingeräumt wurden. Wirtschaftsfreundliche Reformen des Arbeitsmarktes haben Millionen von Beschäftigten gezwungen, prekäre Leih-, Zeitarbeits- und Niedriglohnarbeitsverhältnisse einzugehen. Entstanden ist eine neue Klasse von „working poor“, die bis zu Hochschulabgängern aus den Mittelschichten heranreicht. Gleichzeitig haben Millionen von Beschäftigten Einkommenseinbußen und verschlechterte Arbeitsbedingungen hinzunehmen, und trotz konjunktureller Arbeitsmarktbelebung bleiben weiterhin Millionen von Arbeitssuchenden ohne reale Beschäftigungsperspektive. Organisatorisch und politisch geschwächte Gewerkschaften konnten diesem einseitigen Benachteiligungsprozess nichts entgegensetzen. Abkopplung von der Wohlstandsentwicklung und sozialer Abstieg sind im reichen Deutschland zu Massenphänomenen geworden.

Die Volksparteien haben die gesellschaftlichen Umverteilungs- und Spaltungstendenzen nicht verhindern und aufhalten können. Im Gegenteil haben sie sich zu politischen Schützengehilfen bei der Durchsetzung der Entwicklung gemacht und dafür einen hohen Preis zahlen müssen: Bei Wahlen räumten sie unfreiwillig reichlich Terrain, so dass sie, mit Ausnahme der CSU, von mehrheitsfähigen Hegemonialparteien zu Mittelmaßparteien geschrumpft sind. In manchen Landstrichen Ostdeutschlands sind sie zu schmalbrüstigen Kleinparteien zurechtgestutzt worden. Ihres Anspruchs auf erfolgreiche Catchall- und soziale Umfassungsparteien sind SPD und CDU auf jeden Fall verlustig geworden. Neuerdings müssen schon zwei kleinere Parteien als Steigbügelhalter herhalten, um den schmächtig gewordenen Großparteien in den Sattel der Regierungsfähigkeit zu verhelfen. All dies resultiert aus einem längeren Entfremdungsprozess, den die VPs mit ihrer wachsenden Integrationsschwäche und Distanz zu den Wünschen der breiten Wählerschaft selbst herbeiführten. Infolgedessen folgte der Volksparteienherrlichkeit der sechziger und siebziger Jahre ab den Achtzigern eine ihnen chronisch anhaftende Schwindsucht. Unvermindert haben sie bis heute einen massiven Schwund ihrer Wähler-, Mitglieder- und Vertrauensbasis hinzunehmen (Wiesendahl 1998, 2006, 2007: 229f; Linden 2007). Der Mitgliederschwund und die „Erosion der Kernwählerschaft“ reichen so weit, dass sich hierin eine gesellschaftliche Entwurzelung der Volksparteien abbildet (Decker 2007).

Schluss

Die VPs haben ihren Anspruch verwirkt, sozialen Ausgleich und Zusammenhalt durch schichtenübergreifende Interessenrepräsentation und -integration zu organisieren. Stattdessen kündigten sie den tief in der Bevölkerung verankerten Sozialstaatskonsens und das Prinzip gesellschaftlicher Teilhabegerechtigkeit auf. Ihre Politik stärkt soziale Ungleichheit und die Desintegration der Gesellschaft. Sie haben sich nicht schützend vor den einstigen Solidarpakt gestellt, dem sich über Jahrzehnte des Wohlstands alle gesellschaftlichen Kräfte verpflichtet fühlten.

Die VPs exekutieren seit einiger Zeit eine Politik, in der sich krasses Repräsentationsversagen bekundet. In existentiellen Fragen materiellen Wohlergehens und der Absicherung von sozialen Risiken, den so genannten Bread and Butter-Themen, hat die herrschende VP-Politik ihre Verbindung zu den Wählerwünschen verloren. Die Großparteien verfolgen in der Steuerpolitik, der Gesundheitspolitik, der Rentenpolitik, der Arbeitslosenpolitik, der Militärpolitik einen Kurs, der über die Köpfe der Menschen hinweggeht. Wohl noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik gab es eine Zeit, in der das Handeln der Regierenden dermaßen im Gegensatz zu den Vorstellungen und Wünschen stand, die von der breiten Wählermehrheit gehegt werden.

Die VPs setzen mit ihrer Politik, ob gezwungen oder nicht, die Integrationsnorm ihrer Interessenrepräsentation außer Kraft, so dass sie zu Recht der Vorwurf aus der Bevölkerung trifft, einseitig begünstigende und ungerechte Politik zu machen. Mit ihrem tief sitzenden Wunsch nach staatlich garantierter sozialer Sicherheit und nach einem fürsorglichen Staat fühlen sich die Bürger bei den VPs nicht mehr aufgehoben. Erklärte sich diese von der Wählerschaft breit abgelehnte Linie aus dem Einknicken der VPs gegenüber dem Primat der Ökonomie, leisteten sie gegenüber den Interessen der Wirtschaft einen Offenbarungseid, der ihrem Volksparteiencharakter und integrativen Interessenrepräsentationsanspruch Hohn spräche. Selbst wenn sie sich als Opfer von ihnen aufgezwungenen wirtschaftlichen Umständen sehen, bringen sie jedenfalls bei der einseitigen Vertretung von Wirtschaftsinteressen keinen Spagat mehr zwischen Kapital und Arbeit zu Wege. Von ihnen zu erwarten, unter den gewandelten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umständen eine neue politische Vergemeinschaftung herbeizuführen, geht fehl, zumal sie mit ihrer Integrationsschwäche dazu nicht mehr fähig sind. Ohnehin mangelt es ihnen an zündenden Visionen und Ideen, um der Entsolidarisierung der Gesellschaft Einhalt zu gebieten und um eine neue verbindende Klammer um die auseinanderdriftenden Teile zu legen. Ihren schleichenden elektoralen Niedergang haben sie sich selbst eingebrockt, weil sie weder beim Aufkommen der ökologischen Frage in den Siebzigern noch bei der Wiederkehr der sozialen Frage seit den Neunzigern genug Sensibilität und Integrationswilligkeit aufbrachten, um diese Anliegen bei ihrer Interessenrepräsentation angemessen zu berücksichtigen. Als Folge ihres Repräsentationsversagens dehnte sich das hermetische Volksparteiensystem aus und erweiterte sich um die Grünen und Die Linke. Hier wirkte der Parteienwettbewerb wie ein Korrektiv, weil neue Politikanbieter in die von den VPs erzeugte Repräsentationslücke hineindrängten.

Der Erfolg der VPs hielt so lange an, wie sie bestrebt waren, den Kapitalismus durch soziale Marktwirtschaft und den Sozialstaat im Zaum zu halten. Vielleicht bricht ja ihre Zeit nochmals an, falls sie sich beherzt als Repräsentationsinstanzen der breiten Massen zum politischen Gegengewicht und Dompteur eines sozial bindungs- und verantwortungslosen Finanzkapitalismus aufschwingen würden.

Literatur

Decker, Frank; Parteiendemokratie im Wandel, in: Decker, Frank/Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 19-61.

Hofmann, Bernd; Annäherung an die Volkspartei. Eine typologische und parteiensoziologische Studie, Wiesbaden 2004.

Linden, Markus; Wie frustriert sind die Deutschen? In: Deutschland Archiv, 40. Jg. 2007, Heft 6, S. 977-987.

Lipset, Seymour//Rokkan, Stein; Cleavages Structures, Party Systems, and Voter Alignments: An Introduction. In: Dies. (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments: Cross National Perspectives. New York 1967, S. 1-64.

Sartori, Giovanni; Parties and Party Systems. A Framework for Analysis, Cambridge etc. 1976 .

Wiesendahl, Elmar; Volksparteien im Abstieg. Nachruf auf eine zwiespältige Erfolgsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 34-35/1992,S.3-14.

Wiesendahl, Elmar; Wie geht es weiter mit den Großparteien in Deutschland? in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/1998, S. 13-28.

Wiesendahl, Elmar; Überhitzung und Abkühlung: Parteien und Gesellschaft im Zeitenwechsel der siebziger und achtziger Jahre, in: Axel Schildt (Hrsg.), Transformationen des deutschen Parteiensystems, Hamburg 2002, S. 138-169.

Wiesendahl, Elmar; Partizipation in Parteien: Ein Auslaufmodell? In: Beate Hoecker (Hrsg.), Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest, Leverkusen 2006, S. 78-100.

Wiesendahl, Elmar; Efficiency versus Democracy? Political Parties and Societal Modernization in Germany, in: Blühdorn, Ingolfur/Jun, Uwe (Hsrg.). Economic Efficiency-Democratic Empowerment. Contested Modernization in Britain and Germany. Lanham etc. 2007, S. 219-246.

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