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Linker Populismus - ein Fremdkörper im deutschen Partei­en­system

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S. 43-52

I.

Die Erkenntnis, dass sich die Sprache der Politik gern mehrdeutiger Begriffe bedient, ist nicht neu. Sie weicht den denotativen Kern von Wortbedeutungen auf, setzt auf das konnotative Umfeld, auf emotional suggestive Dehnbarkeit und Vereinfachung. Handlungsleitende Vereinfachungen funktionieren in der Regel nach einem dualen Prinzip: Wir/die Anderen, Freund/Feind, verfassungstreue/verfassungswidrige Kräfte. Bis 1989 ließ sich die Welt nach diesem binären Code interpretieren. Hier die „freie Welt“, dort der Totalitarismus, hier Demokratie, dort Diktatur.

Diese nach „gut“ und „böse“ übersichtlich geordnete Welt brach nach 1989 zusammen. Innenpolitisch war die Klassenspaltung schon länger erodiert. Die CDU verstand sich von Beginn an als klassenübergreifende Volkspartei und mit dem Godesberger Programm von 1959 vollzog auch die SPD den Wandel von der Klassen- zur Volkspartei. An die Stelle des Dualismus trat ein Pluralismus von Wertorientierungen, Lebenslagen und Milieus, die Ausdifferenzierung von Lebensformen sowie zunehmend deren ethnische Überformung durch die Immigration. Der Sozialstaat, lange die Basis für den Erfolg der Volksparteien, gilt angesichts des demographischen Wandels, der Massenarbeitslosigkeit und der neoliberalen Deregulierungspolitik nicht länger als unumstößliche Errungenschaft, sondern als Dauerbaustelle eines „Umbaus“.

Wo aber sind innenpolitisch die „Feinde“ geblieben? In den 1990er Jahren formierten sich in vielen europäischen Ländern Bewegungen, die nicht kurzerhand als rechtsextrem oder neofaschistisch eingestuft werden konnten. Dazu unterschieden sie sich in Zielsetzung und Auftreten zu sehr von den ultra-nationalistischen, gewaltbereiten Kräften am rechten Rand. Dies und der zwischen Provokation und Entertainment schillernde Habitus ihrer Wortführer trug ihnen die Bezeichnung „Rechtspopulismus“ ein.

Im linken Spektrum waren nach 1989 die Begriffe Sozialismus oder Kommunismus, zusammen mit den Regimen, die sie als Selbstbezeichnung gewählt hatten, nicht nur politisch diskreditiert. Auch in theoretischer Hinsicht erschienen sie als Relikte der industriekapitalistischen Klassengesellschaft. Während sich die westlichen Gesellschaften von der Industrie- zur Wissensgesellschaft entwickelten und der tertiäre Sektor den sekundären überrundete, wurde das an der Arbeiterklasse, an Verstaatlichung, Planwirtschaft und Einparteienherrschaft ausgerichtete (real-)sozialistische Projekt von der Geschichte überholt.

II.

In dieser ideologisch diffusen Zeit fehlt es an einem Sammelbegriff für die am rechten und linken Rand angesiedelten politischen Kräfte. Hier scheint die Erklärung für die ebenso rasche wie inflationäre Verbreitung des Begriffs Populismus zu liegen. Populismus, ein auch unter Wissenschaftlern umstrittener Begriff, bot sich mit seiner Schwammigkeit geradezu an, um in der politischen Semantik die Rolle des Platzhalters für das nicht mehr eindeutig Benennbare einzunehmen.

Mit der medial verstärkten Karriere des Begriffs Populismus war der Dualismus von Wir/die Anderen wiederhergestellt, aber in einer ausufernden Mehrdeutigkeit, die der sozialen Diffusion und ideologischen Unübersichtlichkeit entspricht. Populismus ist der polyseme Joker in einem politischen Spiel, in dem es scheinbar nur noch auf Inszenierung, Darstellung und kommunikationstechnische Vermittlung des Politischen ankommt. Konnte Kleist noch darauf vertrauen, dass sich „die allmähliche Verfertigung der Gedanken“ durch assoziatives Reden einstelle, lässt sich am Beispiel des Populismusbegriffs das Gegenteil demonstrieren: die allmähliche Verfertigung von Gemeinplätzen durch erkenntnisfreies Gerede.

Die referenzielle Vieldeutigkeit des Populismusbegriffs bringt es mit sich, dass er zunehmend semantisch zerdehnt wird und als Kompositum auftritt: als Medienpopulismus, Cyberpopulismus, Steuerungspopulismus, gar als Technikpopulismus. So lautet die kritisch gemeinte These von Manfred Mai: „Die einstige Technokratie der Experten wird mehr und mehr zum Technikpopulismus der Konsumentenbürger.“ (Mai, 2007:1141) Wer konsumiert, verhält sich eo ipso „populistisch“. Im öffentlichen Diskurs bedeutet Populismus so gut wie alles – und damit nichts, kann doch der bloße Hinweis auf die verbesserte Arbeitslosenstatistik unter Kanzlerin Merkel schon „populistisch“ genannt werden. (Vgl. Keil, 2007:17) Wer vom „Turbo“- oder „Rambokapitalismus“ mit seinen entfesselten Finanzmärkten spricht, gilt als Populist. Wer dagegen, wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt, den „Raubtierkapitalismus“ anprangert, handelt als besonnener elder statesman.

Zugleich fungiert Populismus als ideologisches Polysem, das sich der Zuschreibung „sozialistisch“ oder „faschistisch“ entzieht. In Peru wurden der Politiker Alberto Fujimori und sein Gegner Hullanta Omala gleichermaßen als Populisten bezeichnet. In Venezuela gilt die Politik des Hugo Chavez als populistisch, aber auch das politische System vor seinem Machtantritt. (Vgl. Sanjuan, 2007) Bei so viel terminologischer Unschärfe verwundert es nicht, dass Populismus bereits als Synonym für Fundamentalismus auftritt. Über Willy Brandt schreibt der Journalist Gunter Hofmann: „Er war kein Populist. Zeitgeistig ja, Fundamentalismus nein!“ (Hofmann, 2007:2) André Brie, einer der Theoretiker der PDS, die selbst das Epitheton „populistisch“ auf sich zieht, nennt die Kritik am Vorgehen der südkoreanischen Regierung anlässlich der Befreiung der Taliban-Geiseln „populistisch“, was so viel wie unehrlich oder heuchlerisch bedeuten soll. (Brie, 2007:2) Aber warum benennt Brie den Sachverhalt nicht so? Weil „populistisch“ sich durch einen semantischen Mehrwert auszeichnet: Erstens als moralisch diskreditierende Allzweckwaffe, zweitens als Signalwort für vorzeigbare politische Gesinnung und drittens als Projektion der eigenen simplifizierenden Vorgehensweise auf den vermeintlichen Gegner. „Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente.“ (Dahrendorf, 2007:1)

Ist Populismus also nur ein semantischer Platzhalter für die inhaltlich nicht mehr benennbaren Kräfte an den linken und rechten Rändern? Die Analyse wird dadurch erschwert, dass populistisch genannte Strömungen in Europa bisher nur als Protestbewegungen in Erscheinung getreten sind. Sie lodern als Strohfeuer auf, gelangen nicht über die Bewegungsphase hinaus, verblassen rasch und gehen als Unterströmung in größere politische Formationen ein. Mit ihnen ist man bisher in Europa bestens fertig geworden. Zugleich aber avanciert „Populismus“ zu einem diskursiven Versatzstück – als Gespenst, als Attrappe, als diffuser Grenzmarkierer, nicht zuletzt als Indikator für die Verluderung der politischen Sprache.

III.

Populistische Bewegungen sind das Kind einer gestörten Kommunikation zwischen den politischen Repräsentanten (den Eliten) und jenen, die sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Der Kampf von Populisten richtet sich gegen elitäre Abschottungstendenzen der politischen Akteure und ihre Absprachenpolitik. Je nachdem, wie stark solche Bewegungen in der anarchistischen Tradition verwurzelt sind, wenden sie sich entweder grundsätzlich gegen das Prinzip der politischen Repräsentation, gegen Parteien und Parlamente, oder sie streben in abgemilderter Form eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Elemente an. Dagegen haben populistische Bewegungen nie die Eigentumsfrage gestellt. Dies und ihre Einstellung zum Staat unterscheidet sie grundlegend von der etatistischen Linken, dem Kommunismus ebenso wie der Sozialdemokratie. Rechtspopulistische Bewegungen sind daher in der Regel – und so sind sie in den 1990er Jahren in Europa aufgetreten – libertär oder anarchokapitalistisch. Die Zurückdrängung des Staates in seiner Ausprägung als Wohlfahrts- und Sozialstaat war ihr oberstes Ziel.
Linkspopulistische Richtungen dagegen, angefangen beim Anarchosyndikalismus über die „neuen sozialen Bewegungen“ seit den 1970er Jahren, dem britischen Associationalism (Paul Hirst) bis hin zu den NGOs und anderen Formen außerparlamentarischer Bewegungen spielen im linken Spektrum die Rolle der Protestanten zur Zeit der Reformation. Die Mediatisierung des politischen Willens durch eine der Priesterkaste funktional äquivalente Funktionärs- und Intellektuellenschicht wird abgelehnt. Es zählt allein der Glaube an die reinigende Kraft der Institutionen- und Elitenkritik und an die Selbstorganisation in akephalen Räten, Kommunen, Gemeinschaften oder Föderationen. Selbsthilfe, Selbstbestimmung, die Hoffnung auf spontan sich formierende Zentren von Protest und Subversion in einem pluralisierten Kosmos außergouvernementaler Gegenkräfte ist die Antwort der radikalen linken Populisten (Hardt/Negri) auf die Entstehung diffuser sozialer Gruppen wie dem Prekariat. (Vgl. Priester, 2005) Daneben gibt es, vor allem im angelsächsischen Bereich, linksliberale, grün-alternative Varianten mit teilweise lebensweltlich-konservativen Ausprägungen. Der New Populism in den USA der 1970er Jahre, der britische Associationalism sind hier zu nennen, die bei aller Theorieabstinenz doch gemeinsame Ziehväter haben: John Stuart Mill mit seinem sozialen Liberalismus, Proudhon mit seinem Mutualismus, keinesfalls aber Marx. Wo überhaupt von einem linken Populismus die Rede sein kann, geht er auf die proudhonistische Tradition zurück und machte in den 1970er Jahren Anleihen bei Foucault. In seiner radikalen Variante beruft er sich auf Sorel, in der gemäßigten auf Franz Oppenheimer mit seiner Theorie von der „Gewerbsstadt“ als Gegenpol zum Staat.

IV.

Populistische Bewegungen haben Konjunktur, wenn sich der Ort der Demokratie auf Wahlprofessionalität, Elitenkartelle und Absprachenpolitik verengt, wenn die Distanz zwischen Zivilgesellschaft und Parteienstaat wächst, wenn das Binnenleben der Mitgliederparteien erstarrt und sie sich von Mittlern zwischen Gesellschaft und Staat zu Quasi-Staatsorganen entwickeln. In Deutschland fanden sich linkspopulistische Elemente weitaus eher in der Frühphase der Grünen, der einstigen Anti-Parteien-Partei, als bei der Linkspartei. Gerade sie zieht im öffentlichen Diskurs aber die Bezeichnung „populistisch“ auf sich, was vor allem mit der Rolle, dem Auftreten und dem politischen Werdegang Oskar Lafontaines zu tun hat. Verletzungen und Enttäuschungen bedingen auf Seiten der SPD eine geradezu neurotische Fixierung auf diesen Renegaten, dem Verrat, Profilierungs- und Geltungssucht, Egozentrik und Rachegelüste nachgesagt werden, was stimmen mag, aber der Personalisierung in der Politik weiteren Vorschub leistet.

Das analytische Defizit der SPD zeigt sich bei der Suche nach den Gründen für Wahlniederlagen, Mitgliederschwund, Protest und Unmut angesichts der Agendapolitik. Denn wo die politische Strategie nicht zur Disposition steht, kann die Ursache für die Krise nur im Bereich der Vermittlungstechniken liegen. Man habe die von Schröder initiierte Wende zur Politik der Agenda 2010 nicht richtig „kommuniziert“, weder die Parteimitglieder noch das Wahlvolk rechtzeitig und hinreichend auf die Notwendigkeit dieses Wandels vorbereitet; hinter verschlossenen Türen sei diese Politik autokratisch beschlossen und „von oben“ durchgesetzt worden. „Der rücksichtslose Umgang (der Parteiführung, K.P.) mit der Partei nach der „Vogel friss oder stirb“-Devise ist wohl singulär für die SPD-Nachkriegsgeschichte.“ (Wiesendahl, 2004:24) Ist aber weder die „personalisierte Entscheidungszentralisierung“ (Wiesendahl) noch deren Ergebnis ursächlich für die Parteikrise, sondern nur eine unzureichende „Inszenierung des Politischen“, da verspricht folglich auch nur eine technisch noch professionellere Regie Aussicht auf Erfolg. Dazu der Parteienforscher Franz Walter: „Wenn sich alles technisch lösen lässt, dann wird die Politik im Grunde überflüssig. Aus dieser Perspektive schrumpfen die Parteien und mit ihnen die Parlamente auf Repräsentanten zwangsläufig egoistischer Partikularinteressen.“ (Walter, 2002:187)

V.

Seit die SPD als linke Volkspartei sich auf die „neue Mitte“ zu bewegt und mit der Agendapolitik viele Wähler und Parteimitglieder verloren oder verstört hat, zeichnet sich am linken Rand ein Vakuum ab, das die Linkspartei zu besetzen trachtet. Haben in den 1990er Jahren Rechtspopulisten die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so scheint nun mit den Wahlerfolgen der Linkspartei die Stunde des Linkspopulismus zu schlagen.

Ist die Linkspartei aber tatsächlich populistisch zu nennen? Zweifel sind angebracht, denn hier wiederholt eine sozialistische Partei der Nach-Wende-Zeit noch einmal den Revisionismusstreit vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die vielen Marx- und Engels-Zitate in ihren programmatischen Texten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass zum wiederholten Male in der Geschichte der Linken der Versuch unternommen wird, dem Machbarkeitspragmatismus Vorrang einzuräumen und von der Systemalternative zum innersystemischen Korrektiv abzuschmelzen. Mit anderen Worten: Die Linkspartei ist dabei, sich zu sozialdemokratisieren. Was die SPD an Wählern, Anhängern und Zielsetzungen „links liegen“ lässt, okkupieren ihre Konkurrenten mit dem Versprechen, die besseren und eigentlichen Sozialdemokraten zu sein. Ob ihnen das gelingen wird, steht noch dahin, denn neben dem 1. Mai der Arbeiterklasse gilt es, auch den Christopher-Street-Day in den linken Festtagskalender einzubeziehen. Die angestrebte Identität der Linkspartei zwischen demokratischem Sozialismus und Bürgerrechtspartei, zwischen Malochern oder Arbeitslosen und schwulen oder lesbischen Bewegungen verlangt mehr als nur verbal-kosmetische Elastizität. Nimmt man dazu noch die aparten Ansichten von Christa Müller zur Familienpolitik, zeigt sich eine complexio oppositorum von geschlechterpolitischem Konservatismus und bürgerschaftlichem Freisinn, auch von materialistischer und postmaterialistischer Wertorientierung, die schon der SPD zu schaffen machte.

VI.

Schaut man sich zwei programmatische Grundlagentexte der Linkspartei an, zeigt sich, dass es sich hier nicht um Populismus handelt (anders dagegen Hartleb, 2004) sondern um den Wiederbelebungsversuch einer sozialdemokratischen Politik vor „Bad Godesberg“. Die Linkspartei steht weder in der Tradition Mills oder Proudhons noch richtet sie ihren Kampf gegen Eliten, Technokraten, Großbürokratien oder Gewerkschaften. Werden direktdemokratische Elemente eingefordert, dann in Form von Plebisziten, nicht als Rätedemokratie. Überdies bleiben sie nachrangig gegenüber der „sozialen Frage“, die durch staatlich induzierte Nachfragepolitik und Staatsverschuldung wieder auf das Niveau des keynesianischen Wohlfahrtsstaates angehoben werden soll.

Als „bekennender demokratischer Sozialist“ beruft sich Gregor Gysi auf den Marxismus, begreift aber den Sozialismus eher als Weg denn als Ziel. „Er ist der beständige Versuch, Entfremdungspotenziale der ökonomischen Moderne zu lokalisieren und zu neutralisieren.“ (Gysi, 2007:313) Angestrebt wird die Rückkehr zu einer Politik der staatlichen Daseinsvorsorge, ein Begriff, der bezeichnenderweise nicht aus dem linken Begriffsarsenal stammt, sondern von dem konservativen Staatsrechtler Ernst Forsthoff geprägt wurde, übrigens 1937! Die Neoliberalen, so Gysi, „werfen uns eine im Grunde genommen konservative Politik vor, weil wir zurück in keynesianische Zeiten wollten. Ja, das wollen wir auch (…).“ (Ibid.:324) Die Instrumente lauten: Ankurbelung des Binnenmarktes durch Hochlohnpolitik und Stärkung der Massenkaufkraft, Re-Regulierung. Dagegen ist die Eigentumsfrage für den „modernen“ Sozialismus sekundär gegenüber der gesellschaftlichen Kontrolle. Eine „faire, chancengleiche Marktwirtschaft“ wird als Sphäre außerhalb der „öffentlichen Daseinsvorsorge“ akzeptiert. „Es handelt sich eigentlich um sozialdemokratische, nicht sozialistische Politik, die die Linke einfordern muss, weil sich die SPD entsozialdemokratisiert hat.“ (Ibid.) Im Kampf gegen die „Kolonisierung der Lebenswelt“ (Habermas) durch Märkte oder Bürokratien (Ibid.:325) wird der „dritte Weg“[1] zwischen bürokratisch gesteuertem Staatssozialismus und neo-liberalem Staatsabbau verfolgt, um die „emanzipativen Errungenschaften der bürgerlichen Ära“ zu bewahren und ihre „desaströsen Momente“ zu überwinden. „Das entspricht wohl ungefähr dem, was Marx sich unter einer sozialistischen Gesellschaft vorgestellt hat.“ (Ibid.:327) Die Besänftigungsformel „wohl ungefähr“, angereichert mit Anrufungen von Hegel, Marx, Engels, Luxemburg bis Gramsci, suggeriert eine offensive „Transformation“, wo es sich eher um die Verteidigung lebensweltlicher Sphären jenseits und außerhalb des „Systems“ handelt: Marx auf den Lippen, Habermas im Sinn. Dagegen erinnert nichts an das sozialliberale oder anarchistische Credo genuiner Linkspopulisten. Selbsttätigkeit oder gar Eigenverantwortung fasst Gysi nur mit spitzen Fingern an, untergrabe die „so genannte Eigenverantwortung“ (Ibid.:319) doch die Gleichheit aller als moralische Person.[2]

VII.

Im Programm der Linkspartei, PDS vom Oktober 2003 werden dagegen deutlich kapitalismuskritischere Töne angeschlagen. Die Vorherrschaft der Kapitalverwertungsinteressen soll nicht nur abgeschwächt, sondern überwunden und die ihnen zu Grunde liegenden Macht- und Eigentumsverhältnisse sollen verändert werden. Gemeinwirtschaft und genossenschaftliches Eigentum, gesellschaftliche Kontrolle und demokratische Mitbestimmung durch „gewerkschaftliche Gegenmacht“ und „sozialstaatliche Regulierung“ sind das Gegengift gegen die „Diktatur des Geldes“, den „Terror der Ökonomie“ und die Dominanz der Kapitalverwertungsinteressen. Man stutzt, sind doch „Diktatur des Geldes“ und „Terror der Ökonomie“ ohne Zweifel populistische Schlagworte, die, ob aus theoretischer Nachlässigkeit oder aus Kalkül, in postmodernem Bricolage neben dem marxistischen Vokabular auftreten. Dass die Ökonomie zum Reich der Notwendigkeit gehört, scheint ebenso wenig in Erinnerung zu sein wie die Tatsache, dass nicht das „Geld“, sondern das Kapital als Mehrwert heckender Wert im Zentrum des Marxschen Werkes steht. Beckmesserei, mag man einwenden, aber man kann nicht Marx ohne die „blauen Bände“ anrufen, es sei denn als Familienpatriarchen zur Pflege bloßer Erinnerungskultur.

Forciertes Bemühen um Modernität, das wird auch die Linkspartei lernen müssen, hat einen Preis. Er lautet Inkohärenz. So heißt es in Kap. III, 7: „Die PDS rechnet mit der Ausweitung der Kulturwirtschaft und erkennt die demokratisierenden Tendenzen der industriellen Massenproduktion kultureller Güter und Dienste.“ Der Markt der von Adorno perhorreszierten „Kulturindustrie“ müsse lediglich „im Interesse der Allgemeinheit“ eingeschränkt und reguliert werden. In einem linken Programm zu lesen, dass die industriell betriebene kulturelle Massenproduktion, die doch nicht exterritorial zur „Diktatur des Geldes“ steht, demokratisierend wirke, ist zumindest originell. Dass diese demokratisierende Wirkung hingegen wieder „eingeschränkt und reguliert“ werden müsse, zeigt die Grenzen des Bekenntnisses zu bürgerschaftlicher Liberalität. Auch werden die Verfasser des Programms ihre Gründe gehabt haben, warum sie eigens betonen, der demokratische Sozialismus sei „eine diesseitige Bewegung auf ein diesseitiges Ziel hin“ (Kap I, 2). Könnte man doch ohne diese Versicherung auf die Idee kommen, die Partei stehe noch in einer chiliastisch-messianischen Tradition.

Zwischen dem neoliberalen „Verschwinden des Staates“ und der aktuellen Renaissance der „Staatsbedürftigkeit“ (Forsthoff) werden unterschiedliche Staatszielmodelle diskutiert. Die Linkspartei orientiert sich dabei mit großem Steuerungsoptimismus, den Populisten, rechte wie linke, immer abgelehnt haben, an der Leitidee des vorsorgenden Staates.[3] In dessen Zentrum stehen Arbeitnehmer, Gewerkschaftsmacht und Sozialpartnerschaft. Zeichnet sich Populismus gerade durch eine Pluralisierung der gesellschaftlichen Beziehungen einschließlich der Möglichkeiten zur politischen Partizipation aus, so tut sich die Linkspartei mit der Pluralisierung der Angebote für die Ware Arbeitskraft noch schwer.

VIII.

Der Parteienforscher Joachim Raschke konstatiert, die gesellschaftliche Entwurzelung der Parteien schreite voran. Sie seien zu „marktorientierten Großparteien“ mit den Begleiterscheinungen der Professionalisierung, der Instrumentalisierung staatlicher Ressourcen und des Bedeutungsgewinns der mediatisierten Öffentlichkeit geworden. Staatliche Verankerung und Patronage ersetzten die gesellschaftliche Verwurzelung der Parteien. Parteienverdrossenheit, diffuses Missbehagen und Misstrauen gegenüber den Parteien seien die Folge. Dies bilde einen günstigen Nährboden für populistische Interventionen als Aufstand der Mitte oder als Rechtspopulismus zum Nachteil der Linken. Aber, so Raschke: „Einen erfolgreichen Links-Populismus gab und gibt es weder in Deutschland noch in Europa.“ (Raschke, 2001:19)

Populismus nährt sich von der Kritik am „Establishment“, was von weitaus geringerer Reichweite als der Kampf gegen Kapitalverwertungsinteressen ist. Diese Kritik wird getragen von dem Wunsch, Demokratie anders als durch Parteien zu organisieren. Im Linkspopulismus artikuliert er sich in euphorischen Erwartungen an NGOs und andere vor- oder antistaatliche Organisationen. Indessen ist zu beobachten, dass sich heute Staat und Gesellschaft immer weniger als getrennte Sphären gegenüberstehen. Vermittelt über Netzwerke, durchdringen sie sich vielmehr zunehmend und entziehen sich öffentlicher Kontrolle. Linkspopulistischer Protest stößt damit an seine Grenzen, zumal er das ohnehin geschwächte Parlament zusätzlich desavouiert. Wo aber der (National-) Staat fluide wird und sich Regierungshandeln als governance in einer Grauzone zwischen privat und öffentlich anonymisiert, da wachsen auf der Gegenseite die Verdachtsmomente für anonyme Verschwörungen. Nach dem Ende der ideologischen Großerzählungen kursieren Ideologeme in kleiner Münze weiter oder sie verdichten sich zu Mythen. „Populismus“ ist das ideologische Kleingeld, die verschwörungstheoretische Welterklärung bereits der Mythos.

Bisher hatten linkspopulistische Autonomiebestrebungen gegenüber Parteien und Parlamenten in Europa, besonders in Deutschland mit seiner staatsmetaphysischen Tradition und der von der Linkspartei wieder belebten Hoffnung auf eine „Veredelung des Staates“ (Hermann Heller), kaum eine Basis. Man mag das bedauern, aber nicht zu sehr. Lässt sich doch anhand historischer Fälle und aktuell am Beispiel der Regierung Chavez in Venezuela zeigen, dass populistisch genannte Bewegungen, einmal an der Macht, Züge ausbilden, die ich „führerzentrierten Massenklientelismus“ genannt habe (Vgl. Priester, 2007): Autokratischer Führerkult, Patronage, Instrumentalisierung des Staates als Pfründe für verdiente Regimeanhänger bis hin zur Einschränkung elementarer bürgerlicher Rechte, zugleich die Erkaufung von Massenloyalität durch Donationen an die politische Klientel. Beruht der Sozialstaat auf einem bestimmten Bürgerstatus und einem Rechtsanspruch auf sozialstaatliche Leistungen, so beruht Klientelismus auf einem personalen Abhängigkeitsverhältnis und jederzeit revozierbaren Gunstbezeugungen. Für Venezuela konstatiert Sanjuan zudem, dass Formen der partizipativen Demokratie durchaus mit Personalisierung der Politik und autoritären Strukturen einhergehen können und Entwicklungen fördern, die auf irritierende Weise eher an Faschismus als an Sozialismus erinnern, nämlich Herausbildung parastaatlicher Organisationen außerhalb der öffentlichen Kontrolle, Filzokratie, Korruption, Ineffizienz, Ausweitung bürokratischer Apparate und ein alles überwölbender Führerkult als rein politische Synthese eines unaufgelösten ökonomischen Widerspruchs, der da lautet: „gewinnorientierter Sozialismus“. (Vgl. Sanjuan, 2007)

IX.

Der Erfolg des von den europäischen Sozialdemokratien erkämpften Sozialstaates beruht auf der Verbindung von Sozialismus, Rechtsstaatsliberalismus und Aufklärung. Diese Legierung ist in außereuropäischen Ländern selten gelungen, und die dort populistisch genannten Bewegungen sind ein stets problematisches Surrogat dieses genuin europäischen Weges. Dagegen ist die heute fast unisono populistisch genannte Linkspartei von populistischen Traditionen so weit entfernt wie Marx von Proudhon. Sie setzt auf den keynesianischen Wohlfahrtsstaat und eine starke Gewerkschaftsmacht, was im Populismus, auch in seinen linken Ausprägungen, nie ein positiver Bezugspunkt war. Wer nur die staatliche Daseinsvorsorge im Blick hat, ist aber auch von Marx weit entfernt und verharrt im Banne eines linken Etatismus.

Populismus als Ausdruck eines politischen Gärungsprozesses ist immer ambivalent. Er ist, was sich am deutlichsten für die USA zeigen lässt, einerseits der Versuch der Selbsterziehung und Selbstorganisation des „Volkes“ von Objekten der Politik zu partizipierenden Subjekten. Zugleich war und ist er aber auch ein Humus für Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Verschwörungstheorien. Linke Bewegungen, die sich an die bildungsferneren sozialen Segmente wenden, müssen mit diesen Einstellungssyndromen rechnen. Und sie müssen sich fragen lassen, ob sie ihnen um kurzfristiger Erfolge willen nachgeben wollen oder die ethnisch überformten Widersprüche als soziale erkennbar machen.

[1] Der hier gemeinte „dritte Weg“ ist selbstredend nicht der von Giddens und Blair proklamierte, sondern der von Bernstein, Hilferding oder Otto Bauer angestrebte.

[2] Man kann die grundsätzliche moralische Gleichheit aller als Person durchaus, wie es auch in der katholischen Soziallehre geschieht, mit sozialer Gerechtigkeit gleichsetzen. Hier beginnen aber erst die moralphilosophischen Probleme, was denn unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen sei und ob sie nicht auch mit Eigenverantwortung einhergehen könne. Gysi versteht darunter lediglich das derzeit kursierende Schlagwort für Sozialstaatsabbau und setzt dagegen auf staatliche Daseinsvorsorge.

[3] (Vor-)sorgender Staat wird als Gegenbegriff zum nur noch „gewährleistenden“ Staat verstanden, den die SPD der Sache nach favorisiert, gleichwohl aber den Begriff „vorsorgend“ auch für sich reklamiert.

Literatur

Brie, André, Schrecken der Ehrlichkeit, in: Freitag, 14.9.2007.

Dahrendarf, Ralf, Acht Anmerkungen zum Populismus, in: Transit, H. 25, 2003, zit. nach www.euro zine.com (26.9.2007).

Gysi, Gregor, Ende der Geschichte? Über die Chancen eines modernen Sozialismus, in: UTOPIEkreativ, H. 198, April 2007.

Hartleb, Florian, Rechts- und Linkspopulismus, Wiesbaden 2004.

Hofmann, Gunter, Wem gehört Willy?, in: Die Zeit, Nr. 47, 6.9.2007.

Keil, Christopher, Eine leichte Abfahrt, in: SZ, Nr. 215, 18.9.2007.

Mai, Manfred, Der neue Technikpopulismus: Technokratie oder Demokratie?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9, 2007.

Priester, Karin, Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt/M./New York 2007.

Priester, Karin, Messianischer Populismus von links? Anmerkungen zu dem Werk Empire von Michael Hardt und Antonio Negri, in: Seim, Roland (Hg.): Mein Milieu meisterte mich nicht. Festschrift für Horst Herrmann, Münster 2005.

Das Programm der Linkspartei. PDS, beschlossen am 26.10.2003 in Chemnitz, http://archiv2007.sozialisten.de/partei/dokumente/programm/index.htm (13.7.2007).

Raschke, Joachim, Die Zukunft der Volksparteien erklärt sich aus ihrer Vergangenheit. Minimalismus und Konflikte in der Zivilgesellschaft, in: Machnig, Matthias/Bartels, Hans-Peter (Hg.): Der rasende Tanker. Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation, Göttingen 2001.

Sanjuan, Ana María, Venezuela – die symbolische und die wahre Revolution, in: Le Monde Diplomatique, dt. Ausgabe, September 2007.

Walter, Franz, Politik in Zeiten der neuen Mitte. Essays, Frankfurt/M. 2002.

Wiesendahl, Elmar, Parteien und die Politik der Zumutungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40, 27.9.2004.

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