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Neo-Li­be­ra­lismus, Respon­si­vität und das Ende des Politischen

Zur zeitgenössischen Transformation liberaler Demokratien

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S.102-111

Exposition

Die Geschichte der Politikwissenschaft und mehr noch die der politischen Theorie in den letzten vierzig Jahren ist die Geschichte der zyklisch wiederkehrenden Diagnose einer Krise der Demokratie. Nicht ohne ironisches Augenzwinkern betitelten Kaase und Newton ihren Beitrag zum State of the Art der Demokratieforschung Theories of Crisis and Catastrophy.[1] In den letzten vierzig Jahren sind so viele Krisen der Demokratie diagnostiziert worden, dass eine Aufzählung den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde.[2] Der vorliegende Beitrag möchte sich in die Tradition dieser demokratischen Krisendiagnosen stellen, sieht aber im Gegensatz zu den gängigen, in der Regel eher aus dem links-kritischen Spektrum artikulierten Diagnosen[3] die Ursache dieser Krisen nicht maßgeblich in politisch desinteressierten und apathischen Bürgern, überforderten und/oder korrupten Politikern sowie unter-performativen institutionellen Strukturen, die dem Problemhaushalt funktional stark ausdifferenzierter zeitgenössischer Demokratien nicht mehr angemessen sind.[4]

Vielmehr kehrt der vorliegende Beitrag die Vorzeichen der Gründe der demokratischen Krise um und konstatiert eine geradezu paradoxe und fast schon tragisch zu nennende Situation. Es wird das Argument entfaltet, dass die Demokratie heute in einer Krise ist, weil die Bürger das zentrale normative, legitimatorische und zugleich regulative Ideal der liberalen Demokratie, die Responsivität[5], zu ernst nehmen. Dies führt zu demokratischen Frustrationserlebnissen seitens der Bürgerinnen und Bürger, was – durch die Erosion von diffuse support[6] – in langfristiger Perspektive zur Instabilität demokratischer politische Systeme führen kann. Empirischer Indikator hierfür ist das – grosso modo in allen westlichen Demokratien mehr oder weniger stark – im Sinken begriffene Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen.[7]

Die These, wonach liberale Demokratien durch die faktische Inanspruchnahme ihrer eigenen normativen Ideale drohen, instabil zu werden, basiert auf gesellschaftsdiagnostischen Überlegungen in Verbindung mit einem langfristigen ökonomischen Entwicklungstrend. Im Zentrum meiner Argumentation steht der Siegeszug des ökonomischen Neo-Liberalismus, und dies nicht nur in der ökonomischen, sondern auch in der politischen und der sozialen Sphäre. Dieser Siegeszug führt – vermittelt über diverse spill-over Effekte und institutionelle Vermittlungsinstanzen, auf die ich im Zuge der weiteren Überlegungen näher eingehen werde – maßgeblich dazu, dass die BürgerInnen die Demokratie an Maßstäben messen, die sie aus strukturellen Gründen nicht mehr erfüllen kann.

Das Paradox resultiert aus der Tatsache, dass der ökonomische Neo-Liberalismus Leitideen inkorporiert, die zeitgleich einen Veränderungsdruck auf die Institutionen der liberalen Demokratie und die Einstellungen der BürgerInnen zur Demokratie ausüben. Doch obwohl dieser Anpassungsdruck aus derselben normativen Quelle der Leitideen des ökomischen Neo-Liberalismus resultiert, führt er doch dazu, dass die für die Stabilität von demokratischen politischen Systemen notwendige Kongruenz von Struktur und Kultur sich auflöst, da derselbe Druck unterschiedlich gerichtete Entwicklung auf Seiten der Struktur und auf Seiten der Kultur provoziert. Der Siegeszug des ökonomischen Neo-Liberalismus besitzt eine weitere gravierende Konsequenz für die liberalen Demokratien des Westens: In empirischer Perspektive führt sein Siegeszug zum Verschwinden des Politischen (nicht: der Politik!).

Die folgenden Überlegungen sollen diese Thesen substanziieren. Hierzu werden Überlegungen der politischen Kulturforschung hinsichtlich der Stabilität demokratischer Systeme mit Einsichten der demokratischen Performanzforschung verbunden und vor dem Hintergrund normativer demokratietheoretischer Modelle bewertet.

Neo-Li­be­ra­lismus und das Ende des Politischen

Die politische Kulturforschung und die Systemtheorie haben überzeugend gezeigt, dass die Stabilität eines politischen Systems maßgeblich an der Kongruenz von politischer Kultur und politischer Struktur abhängt.[8] Beides, die Kultur wie auch die Struktur, sind relativ auf Dauer gestellt. Wie bereits angedeutet, ruht sowohl auf der politischen Struktur als auch auf der politischen Kultur derzeit ein Veränderungsdruck, der aus der normativen Attraktivität der zunächst nur ökonomischen, später aber auch politischen und sozialen Ordnungsvorstellungen des ökonomischen Neo-Liberalismus resultiert. Der ökonomische Neo-Liberalismus – oder konkreter: die politischen und sozialen spill-over Effekte des ökonomischen Neo-Liberalismus – führen zu Veränderungen auf Seiten der politischen Kultur wie auch auf Seiten der politischen Struktur. Auf Seiten der politischen Strukturen werden – um hier noch einige Beispiele zu nennen – effizientere Institutionenensembles und ein schlanker Staat verlangt. Die Differenz zum klassischen ökonomischen Liberalismus besteht in der Aufgabe der Separierung von Ökonomie und Politik.[9] Der klassische Liberalismus wurde noch von der Einsicht getragen, dass der Staat jene Güter produziert, die aufgrund ihres Charakters als (rivale/nicht rivale, endliche/nicht-endliche) öffentliche Güter marktförmig nur suboptimal produziert und alloziert werden können. Aufgrund des unhintergehbar, substanziell anderen Charakters dieser Güter können für den klassischen ökonomischen Liberalismus die ökonomischen (Effizienz-) Kriterien der Güterproduktion des freien Marktes auf die politische Sphäre gerade nicht angewendet werden.

Doch scheint gerade dies nicht mehr zuzutreffen: Die politische Sphäre, der politische Prozess und die Outputs des demokratischen Prozesses werden zunehmend anhand von ökonomischen Effizienzkriterien bewertet. Die beiden Subsysteme stehen nicht mehr gleichberechtigt und autonom nebeneinander; vielmehr dominieren die Leitideen des ökonomischen Systems jene des politischen Systems. Die Eigensinnigkeit des Politischen wird negiert, beziehungsweise von den Akteuren des politischen Zentrums selbst mit Freude zu Grabe getragen. Anders ist nicht zu erklären, dass außerpolitische Kompetenz unter dem allgemeinen Applaus des Publikums der Staatsbürger in die politische Sphäre importiert wird, um dort politische Probleme zu lösen, obwohl dieser Kompetenzimport aus legitimatorischer Perspektive überaus problematisch ist.

Bezeichnendes Beispiel hierfür ist das inflationäre Kommissionswesen in Deutschland.[10] Aus demokratietheoretischer Perspektive ist nicht nur die nicht oder höchstens in Ansätzen vorhandene demokratische Legitimation solcher Kommissionen zu beklagen. In grundlegender Perspektive stimmt etwas anders viel unruhiger: Das Kommissionswesen deutet das Verschwinden des Politischen an. Diese Diagnose ist keine ideosynkratische Position. Vielmehr wird sie von so unterschiedlichen Theorieansätzen wie der Theorie der Dekonstruktion und dem epistemologischen Liberalismus gestützt, wie im Folgenden verdeutlicht werden soll.

Das Politische resultiert – unter Ausschluss einer differenzierteren Betrachtung der einzelnen Ansätze – im zeitgenössischen theoretischen Dekonstruktionsdiskurs aus der Notwendigkeit zur Entscheidung im Angesicht der Unmöglichkeit der Entscheidung (Laclau) oder der Unentscheidbarkeit von politischen Fragen (Derrida).[11] Die Unbeantwortbarkeit von letzten Fragen und damit auch die Unmöglichkeit einer Letztbegründung von Demokratie, so z.B. bei Derrida, wird selbst zur Quelle einer Dezision für die Demokratie als Staats- und Lebensform.

Das Politische resultiert aus der Unentscheidbarkeit, die Politik wird durch die Notwendigkeit zur Entscheidung im Angesicht der Unentscheidbarkeit und der Abwesenheit letzter Gründe charakterisiert. Das Moment der Dezision ist bezeichnend für das Politische, zugleich aber auch die Kontingenz, denn jede Entscheidung in der Politik hätte prinzipiell auch anders sein können: „Eine Entscheidung, die sich nicht der Prüfung des Unentscheidbaren unterziehen würde, wäre keine freie Entscheidung, sie wäre eine programmierte Anwendung oder ein berechenbares Vorgehen.“[12] Politische Entscheidungen, die ausschließlich Expertenwissen exekutieren, wären Derrida folgend keine politischen Entscheidungen mehr, da sie nicht vorgängig unentscheidbar und kontingent waren.

Der zeitgenössische epistemologische Liberalismus sieht im Gegensatz zur Dekonstruktion die Demokratie als Staatsform normativ noch letztbegründbar, entwickelt für den Bereich des Politischen und der Politik jedoch Begründungsstrategien, die einem Experten- und Kommissionswesen im Sinne des ökonomischen Neo-Liberalismus radikal widersprechen und damit in gewisser Nähe zu den skizzierten Theorien der Dekonstruktion stehen. So argumentiert Saward[13] dass „all claims to superior knowledge with respect to politics must fail“.[14] Aus dem epistemologischen Fallibilismus muss nach Saward die Konsequenz gezogen werden muss, dass in der Sphäre des Politischen nur kontingentes Wissen existiert; ja, dass die Sphäre des Politischen sich über das Vorhandensein von kontingentem Wissen als einziger Quelle für die Begründung von Politik, d.h. kollektiv bindenden (d.h., politischen) Entscheidungen, überhaupt erst konstituiert. Daraus folgt eine spezifische Konfiguration des demokratischen Prozesses: „In conclusion, not one person can rightly claim to have sufficiently broad or perpetual superior knowledge of either (a) the rightful course of a political community, or (b) the totality of a given citizen’s interests“.[15] Daher kann der politische Kurs einer Gemeinschaft nur durch die BürgerInnen – fallibel, aber in eigener Person – selbst bestimmt werden. Dieses Argument führt direkt zur Leitidee Responsivität. Expertenwissen und damit die Idee sachlich korrekter Entscheidungen auf Basis von Fachkommissionsarbeit ist dieser liberalen Lesart von Demokratie hingegen fremd und illegitim.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist meine These von dem Ende des Politischen durch den Siegeszug des ökonomischen Neo-Liberalismus zu lesen: Das Politische, der immer umstrittene und epistemologisch fallible Kampf um die Richtung der Entwicklung des politischen Gemeinwesens, wird suspendiert durch die Idee sachlich richtiger Entscheidungen. Im Gegensatz zur Diskussion technokratisch-elitistischer Konzepte von Demokratie in den 1970er Jahren, die heftigen Widerstand seitens der BürgerInnen provozierte, findet das Kommissionswesen heute jedoch den Applaus des Publikums der StaatsbürgerInnen. Der kollektive Wunsch nach sachlich richtigen Entscheidungen jenseits des „Parteiengezänks“ findet hierin seine Entsprechung ebenso wie in der bundesdeutschen Diskussion vor den Wahlen im Jahr 2004, in der zum wiederholten Male deutlich wurde, dass Demokratie nur dann für eine effektive Form der gesellschaftlichen Problemlösung gehalten wird, wenn diese Probleme nicht ernst sind. Denn fast scheint es, als ob mit zunehmender Dringlichkeit des demokratischen Problemhaushalts in Deutschland der Regierungs-Oppositionsmechanismus überwunden werden soll, da dringende Probleme nur konsensuell – mit der Unterstellung sachlicher Richtigkeit – gelöst werden können.

Zusammengefasst verändert der Siegeszug des ökonomischen Neo-Liberalismus das Politische, da er die Eigenlogik des Politischen durch die Leitideen und Sinnorientierungen des Ökonomischen ersetzt. Auf Seiten der politischen Kultur verändert der Siegeszug des ökonomischen Neo-Liberalismus die Akzeptanz spezifischer demokratischer Werte und Normen seitens der Bürgerinnen und Bürger. Kurz gefasst erfolgt eine Entwertung republikanischer, also aktiver und gemeinwohlorientierter, Formen demokratischer Entscheidungsfindung zu Gunsten von radikal individualistisch, nutzenmaximierenden demokratischer Entscheidungsformen.

Von zentraler Bedeutung innerhalb dieses Wechsels grundlegender demokratischer Modelle ist der Wert der Responsivität. In der Literatur über die Messung der demokratischen Leistungsfähigkeit (demokratische Performanz) nimmt Responsivität eine zentrale Stellung ein. Responsivität bezeichnet jenen Grad, in dem die Präferenzen der Bürger – und ausschließlich die Präferenzen der Bürger – durch das politische System in outputs beziehungsweise outcomes transformiert werden. Die relativ einfache Überlegung lautet, dass ein demokratisches System umso demokratischer ist, je mehr politische Präferenzen der Bürger durch das politische System realisiert werden.[17]

Es steht natürlich vollkommen außer Frage, dass es sich hierbei nur um ein regulatives Ideal handelt. Kein politisches System der Welt konnte jemals vollständig responsiv sein oder wird es jemals sein können. Es stellt sich daher die Frage, in welcher Intensität ein politisches System responsiv sein kann und in welchem Ausmaß die Bürger erwarten, dass das politische System responsiv ist, d.h. relevant ist die Intensität, mit der ein normativer Geltungsanspruch (Responsivität) in faktische Gültigkeit übersetzt wird.[18]

Republikanische Modelle von Demokratie, die ein substantielles Verständnis von Gemeinwohl haben, gehen davon aus, dass die Responsivität des politischen Systems gegenüber den Präferenzen der Bürger moderat ist. Liberale Modelle von Demokratie hingegen gehen von der Unhintergehbarkeit individueller politischer Präferenzen aus. Mehr noch: Sie gehen davon aus, dass man politische Präferenzen nicht bewerten kann[19], das heißt, dass jede politische Präferenz das gleiche moralische Recht besitzt, realisiert zu werden.

In welchem Zusammenhang stehen diese Überlegungen nun mit der Stabilität von demokratischen Systemen auf der einen und dem Siegeszug des ökonomischen Neo-Liberalismus auf der anderen Seite? Wir sind Zeitzeugen von gleichgerichteten politischen und gesellschaftlichen Prozessen, die den Effekt besitzen, die Responsivität als Ideeidee normativ zu prämieren. Zugleich – und das ist das fatale – unterminieren diese Prozesse die Möglichkeitsbedingungen responsiven Regierungshandelns. Die Gefahr für die Stabilität demokratischer Systeme resultiert also daraus, dass normative Ideale nicht adäquat in die politische Wirklichkeit umgesetzt werden können.

Der erste Entwicklungstrend ist in soziologischer Perspektive seit langer Zeit ausführlich analysiert und beschrieben worden. Es handelt sich hierbei um die hinlänglich bekannten Prozesse gesellschaftlicher Pluralisierung und Differenzierung.[20] Dies impliziert, dass sich die Konzeptionen des guten Lebens, und mit ihnen auch die Vorstellungen dessen, was dass „Ich“ politisch will, radikal pluralisiert haben. Bereits auf der Ebene des Individuums existieren – partiell als Resultat forcierter funktionaler Differenzierung und der daraus resultierenden Pluralisierung von (normativ partiell inkompatiblen) Rollen(erwartungen) – zunehmend politische Präferenzordnungen, die intern widersprüchlich und inkohärent sind – zumindest, wenn man die Vorstellung einer integrierten Persönlichkeit als Evaluationskriterium nimmt, deren Bedürfnisse und Präferenzen über die Zeit und den Raum hinweg in einem sinnvollen Zusammenhang stehen sollen. Das Problem zunehmend heterogener und inkohärenter Präferenzordnungen innerhalb einzelner Bürger reduziert die Chancen, die zunehmend disparaten und heterogenen politischen Präferenzordnungen der BürgerInnen in den politischen Prozess zu aggregieren.[21] Politische Parteien unterliegen – der Tendenz zur catch-all-party zum Trotz – gewissen Kohärenzerwartungen. Dies hat mit der Pfadabhängigkeit der Entwicklung von Parteien zu tun, aber auch damit, dass Parteien aus der Perspektive der Bürger in ihrem Handeln erwartbar sein müssen. Angesichts von Prozessen der Pluralisierung, der Säkularisierung sowie der Transformation von Industriegesellschaften hin zur Dienstleistungsgesellschaften, verlieren die cleavages, entlang derer sich die Parteien klassischerweise konstituiert und in ihren politischen Programmen orientiert haben, an Bedeutung. Daraus resultiert für politische Parteien die große Herausforderung, die heterogenen Präferenzen der Bürger in kohärente politische Programme zu überführen.

Diese Aufgabe wird zunehmend schwieriger und kann -so meine pessimistische Einschätzung -in Zukunft unter Wahrung des Ideals der Responsivität auch nicht mehr substantiell erfolgreich sein.

Sie kann es auch deshalb nicht sein, weil ein zentraler ideologischer Orientierungspunkt in den letzten 30 Jahren weggefallen ist. Wie Hardin und Andrain/Smith betonen[22], waren bis in die 1970er Jahre hinein Fragen der Strukturierung des Ökonomischen zentral für die Definition der ideologischen Positionen in der Sphäre des Politischen. Mit anderen Worten: Die Frage, ob eine Partei für freie Marktwirtschaft oder staatsinterventionistische Formen der Wirtschaft argumentierte, dominierte alle anderen politischen Präferenzen und führte so zu einer eindimensionalen Politikachse. Der Siegeszug des ökonomischen Neo-Liberalismus in den letzten 30 Jahren hat jedochdazu geführt, dass die Frage, wie der Bereich der Ökonomie ausgestaltet sein soll, keine politische Frage in dem Sinne mehr ist, dass um sie sachlich mit guten Gründen gestritten werden kann. Vielmehr hat sich der neoliberale Diskurs komplett immunisiert gegen jede Form der Kritik, indem er sich nicht mehr als disponibel darstellt. Es ist kein These mehr, dass der freie Markt die beste Allokation von knappen Gütern ist, es ist vielmehr die Wahrheit.[23] Damit fiel in den letzten dreißig Jahren das zentrale ideologische Differenzierungs- und Orientierungskriterium weg. Durch diesen Wegfall gewinnen die individuellen politischen Präferenzen, die bisher allenfalls in zweiter Linie standen, signifikant an Bedeutung. Sie werden aber zugleich auch problematischer, da ihre Heterogenität dazu führt, dass sie nicht mehr adäquat in den politischen Prozess integrierbar sind.

Republikanisch gesonnene Staatsbürger sind – aufgrund ihres Tugendprofils – mit einer gewissen Frustrationstoleranz ausgestattet. Ihnen ist bewusst, dass ihre Präferenzen nicht notwendigerweise in den politischen Prozess integriert werden. Hierfür existieren im Republikanismus vielfältige Legitimationsstrategien; an dieser Stelle sei nur an gemeinwohlorientierte Politiken erinnert. Es scheint jedoch, als ob in den letzten Jahren in vielen westlichen Demokratien die Frustrationstoleranz gegenüber dem Ignorieren individueller Präferenzen drastisch abgenommen hat. Abgenommen hat die Frustrationstoleranz, weil der ökonomische Neo-Liberalismus nicht nur eine spezifische Form der Allokation von knappen Gütern ist, sondern eine Ideologie. Er ist eine Ideologie, die Effekte auf die Selbstwahrnehmung der Bürger und ihrem Anforderungsprofil als Staatsbürger besitzt. Die Bürger nehmen sich nicht mehr als republikanisch gesonnene Bürger mit Tugenden war, sondern als Käufer politischer Güter, für die sie mit ihrem den positiven Bürgerstatus konstituierenden Ressource, dem Wahlrecht, zahlen. Ein radikales, auf das Individuum zentrierter Verständnis von Demokratie führt dazu, dass das Ideal der Responsivität, dass liberalen Demokratien von jeher inne war, an normativen Wert gewonnen hat. Die Frage lautet nun, ob sich die Möglichkeitsbedingungen responsiver Politik verbessert haben.

Die heutige Diskussion über die Möglichkeitsbedingungen responsiver Politik erinnert partiell an jene, die Anfang der 1970er Jahre geführt wurden.[24] Damals kritisierten vor allem konservativ orientierte Politikwissenschaftler, dass der demokratische Staat sich in einer Krise befindet. Die Krise resultierte aus dem wachsenden Anspruchsdenken der Bürger in Verbindung mit einer zunehmenden Inputorientierung des politischen Prozesses.[25] Die Ausweitung demokratischer Partizipationsformen zog in Verbindung mit der Ausweitung von sozialen Rechten einen so radikalen Anstieg von Ansprüchen auf der Inputseite nach sich, dass das politische System in vielen westlichen Demokratien als überfordert und paralysiert wahrgenommen wurde. Es sollte jedoch nicht nur paralysiert, sondern auch noch verschuldet sein, weil es sich, der Logik der Konkurrenzrückkopplungsdemokratie folgend, darum bemühte, so viele inputdemands wie möglich zu befriedigen; bis an die Grenze der Bezahlbarkeit und häufig weit darüber hinaus.

Spannend ist an dieser Diagnose, dass Parallelen zur aktuellen Diskussion bestehen. Nur haben sich die politischen Vorzeichen geändert. Der politische Neo-Liberalismus stärkt die Legitimität individueller Präferenzen und damit die normative Attraktivität des Ideals der Responsivität, er reduziert jedoch zugleich die politischen Partizipationsangebote auf der Inputseite des demokratischen Systems. Gleichzeitig verlangt er vom demokratischen Rechtsstaat jedoch, dass er ein minimaler demokratischer Rechtsstaat ist, dessen zentrale Aufgabe in der Aufrechterhaltung jenes fein austarierten Systems liegt, auf dem die freie Marktwirtschaft ruht.[26] Einher geht diese Forderung mit den bekannten Appellen an die Begrenzung des Aktionsraums demokratischer Politik, der Senkung der Steuerlast der BürgerInnen und vielem anderen mehr. Mit anderen Worten: Die Möglichkeitsbedingungen responsiven demokratischen Handelns werden von jenem Neo-Liberalismus massiv eingeschränkt, der auf der anderen Seite die Bürger dazu anregt, ihre eigenen Präferenzen ernst zu nehmen und das demokratische System stärker als früher an seinem eigenen Anspruch der Responsivität zu messen.

Genau hierin besteht das Auseinanderbrechen von politischer Struktur und politischer Kultur: Auf beiden ruht ein Veränderungsdruck, der jedoch, wie gezeigt, in seinen Effekten nicht gleichgerichtet ist. Vielmehr führt das Auseinanderdriften von Kultur und Struktur zu einer Erhöhung der Frustrationserfahrungen der Bürger mit einer Politik, die immer weniger in der Lage ist, die Präferenzen der Bürger zu realisieren, da ihr Anwendungsbereich gegenständlich eingeschränkt ist und ihr die finanziellen Ressourcen fehlen, responsiv und pro-aktiv Politik zu gestalten.[27] Diese Situation ist fatal. Sie ist fatal, weil die Demokratie einerseits an ihrem eigenen Anspruch gemessen wird, dem Anspruch nämlich, responsiv zu sein. Andererseits, weil Demokratie diesem Anspruch nicht gerecht werden kann und die Frustrationstoleranz gegenüber der Erfahrung nichtresponsiver demokratischer Politik zunehmend abnimmt.

Die politische Kulturforschung zeigt, dass eine solche Situation kurzfristig auszuhalten ist, langfristig jedoch dazu führen wird, dass die diffuse Unterstützung des politischen Systems sinkt und damit langfristig die Stabilität des demokratischen Systems bedroht ist. Ohne allzu pessimistisch sein zu wollen, zeigt ein Blick in die Transformationsdemokratien in Osteuropa, in welche Richtung die Entwicklung in den westlichen liberalen Demokratien führen kann. Die Demokratien in Osteuropa sind liberale, vom Geist des Neo-Liberalismus inspirierte Demokratien. Die republikanische Dimension demokratischer Politik in diesen Ländern ist grosso-modo gering ausgeprägt. Ein wichtiger Indikator hierfür sind die absolute Höhe des social capital sowie die relativen Unterschiede im Vergleich zur Distribution mit anderen westlichen Demokratien:

Tabelle 1: Social Capital im Europa der 25[28]

1. Schweden 67
2. Niederlande 63
3. Dänemark 60
4. Finnland 54
5.

Großbritannien 36
6. Österreich 34
7. Belgien 34
8. Italien 32
9. Deutschland 30
10. Spanien 29
11. Slowakei 28
12. Luxemburg 28
13. Irland 28
14. Malta 26
15. Griechenland 25
16. Slowenien 24
17. Tschechien 23
18. Frankreich 21
19. Estland 19
20. Polen 18
21. Ungarn 16
22. Lettland 16
23. Litauen 13
24. Portugal 8
Angabe: Prozent derjenigen in einem Land, die über hohes Sozial Kapital verfügen. Datenquelle: European Values Survey 1999/2000

Betrachtet man die Entwicklung der Akzeptanz demokratischer Werte und Normen sowie die Einschätzung der Leistungsfähigkeit des politischen Systems, so zeigt sich dort ein fataler Entwicklungstrend: Nicht nur sinkt die Akzeptanz des Regierungshandelns und die positive Bewertung der Leistungsfähigkeit demokratischer Politik. Es sinken auch die Akzeptanz und die Wertschätzung zentraler demokratischer Werte und Normen.[29] Einiges spricht dafür, dass die liberalen (und inzwischen: nicht mehr so liberalen[30]) Demokratien in Osteuropa die Entwicklung der liberalen Demokratien des Westens vorwegnehmen und wir mit dem Blick gen Osten nur in unsere eigene Zukunft schauen.

[1] Vgl. Kaase, M., and Newton, K. (1995). Beliefs in Government. Oxford (u.a.): Oxford Univ. Press.

[2] Vgl. für demokratische Krisendiagnosen Pharr, S.J., and Putnam, R.D. (2000). Disaffected Democracies: What’s Troubling the Trilateral Countries? Princeton, NJ: Princeton Univ. Press.; Kaase, M., and Newton, K. (1995). Beliefs in Government. Oxford (u.a.): Oxford Univ. Press. und Crozier, M., Huntington, S.P., Watanuki, J.o., and Trilateral Commission. (1975). The crisis of Democracy: Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission. [New York]: New York University Press.

[3] Vgl. Buchstein, H., and Schmalz-Bruns, R. (1994). Republikanische Demokratie. In B.R. Barber (Ed.), Starke Demokratie. 297-323. Hamburg: Rotbuch-Verlag.

[4] Vgl. hierzu die Literatur zum institutional engeneering, u.a. Sartori, G. (1994). Comparative Constitutional Engineering: An Inquiry into Structures, Incentives and Outcomes. Houndmills: Macmillan. mit weiteren Literaturhinweisen.

[5] Vgl. für die Begründung von Responsivität als zentrales normatives Ideal von Demokratien u.a. Dahl, R.A (1989). Democracy and its Critics. New Haven, Conn.[u.a.]: Yale Univ. Press.; Saward, M. (1998). The Terms of Democracy. Cambridge [u.a.]: Polity Press.; Fuchs, D. (1997). Kriterien demokratischer Performanz in Liberalen Demokratien. Berlin: WZB, Abt. Institutionen und Sozialer Wandel. und Diamond, L.J., and Morlino, L. (2005). Assessing the Quality of Democracy. Baltimore, Md.: Johns Hopkins Univ. Press.

[6] Vgl. Easton, D. (1965). A Systems Analysis of Political Life. New York, NY (u.a.): Wiley. und Fuhse, J. (2005). Theorien des politischen Systems: David Easton und Niklas Luhmann. Eine Einführung. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss.

[7] Vgl. in empirischer Perspektive hierzu die Beiträge in Pharr, S.J., and Putnam, R.D. (2000). Disaffected Democracies: What’s Troubling the Trilateral Countries? Princeton, NJ: Princeton Univ. Press. sowie Klingemann, H.-D. (1998). Mapping Political Support in the 1990s: A Global Analysis. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. – wenn auch mit einer der hier vorlegten Interpretation konträren Perspektive. Vgl. Schaal, G.S. (2007). Responsivität – Selbstzerstörerisches Ideal liberaler Demokratie? In A. Brodocz, M. Llanque, and G.S. Schaal (Eds.), Bedrohungen der Demokratie. i.E. Wiesbaden: VS-Verlag. für die theoretische Herleitung von Responsivität als Leitidee liberaler Demokratie und Vertrauen als Indikator der faktischen Realisierung dieser Leitidee.

[8] Vgl. für den Stand der Forschung Pickel, S., and Pickel, G. (2006). Politische Kultur- und Demokratieforschung: Grundbegriffe, Theorien, Methoden. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. und die Beiträge in Dalton, R.J., and Klingemann, H.-D., Eds. (2007). The Oxford Handbook of Political Behavior. Oxford: Oxford University Press.

[9] Vgl. diagnostisch Crouch, C. (2004). Post-Democracy. Cambridge (u.a.): Polity Press.

[10] Erinnert sei hier par pro toto nur an die Hartzkommission.

[11] In Sinne der Beiträge von Derrida, J. (1991). Gesetzeskraft: Der „mystische Grund der Autorität“. Frankfurt am Main: Suhrkamp.; Laclau, E., and Mouffe, C. (1985). Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics. London: Verso. und Laclau, E. (2000). Identity and Hegemony: The role of Universality in the Constitution of Political Logics.. Vgl. interpretierend Bonacker, T. (2006). Die politische Theorie der Dekonstruktion: Jacques Derrida. In A. Brodocz, and G.S. Schaal (Eds.), Politische Theorien der Gegenwart II. 189-220. Opladen: UTB. und Stähli, U. (2006). Die politische Theorie der Hegemonie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. In A. Brodocz, and G.S. Schaal (Eds.), Politische Theorien der Gegenwart II. 253-284. Opladen: UTB.

[12] Bonacker, T. (2006). Die politische Theorie der Dekonstruktion: Jacques Derrida. In A. Brodocz, and G.S. Schaal (Eds.), Politische Theorien der Gegenwart II. 189-220. Opladen: UTB., hier Seite 50.

[13] Vgl. einführend Saward, M. (1998). The Terms of Democracy. Cambridge [u.a.]: Polity Press.

[14] Saward, M. (1994). Democratic Theory and Indices of Democratization. In D. Beetham (Ed.), Defining and Measuring Democracy. 6-24. London: Sage., hier Seite 12.

[15] Ibid., hier Seite 13.

[16] Vgl. zur Frage der Angemessenheit der Ebene der Messung und Evaluation systemischer und demokratischer Performanz Roller, E. (2005). The Performance of Democracies: Political Institutions and Public Policies. Oxford (u.a.): Oxford Univ. Press.

[17] Vgl. Fuchs, D. (1997). Kriterien demokratischer Performanz in Liberalen Demokratien. Berlin: WZB, Abt. Institutionen und Sozialer Wandel.

[18] Vgl. hierzu die Beiträge in Brodocz, A., Llanque, M., and Schaal, G.S., Eds. (2007). Bedrohungen der Demokratie. Wiesbaden: VS-Verlag., insbesondere den Beitrag von Fuchs, D., and Roller, E. (2007). Die Konzeptualisierung der Qualität von Demokratie.

[19] Vgl. Dahl, R.A. (1989). Democracy and its Critics. New Haven, Conn.(u.a.): Yale Univ. Press.; Saward M. (1994). Democratic Theory and Indices of Democratization. In D. Beetham (Ed.), Defining and Measuring Democracy. 6-24. London: Sage.

[20] Vgl. u.a. Beck, U. (2003). Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.; Honneth, A. (1994). Desintegration: Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl.; Schulze, G. (2005). Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/Main (u.a.): Campus-Verl.

[21] Vgl. zur Kritik der reinen Aggregation aus rational choice Perspektive Fuchs, D., and Roller, E. (2007). Die Konzeptualisierung der Qualität von Demokratie. In A. Brodocz, M. Llanque, and G.S. Schaal (Eds.), Die Bedrohungen der Demokratie. i.E. Wiesbaden: VS-Verlag.

[22] Hardin, R. (2000). The Public Trust. In S.J. Pharr, and R.D. Putnam (Eds.), Disaffected Democracies. 31-51. Princeton: Princeton University Press. und Andrain, C.F., and Smith, J.T. (2006). Political Democracy, Trust, and Social Justice: A comparative overview. Boston (u.a.): Northeastern Univ. Press.

[23] Vgl. hierzu pars pro toto Pincione, G., and Tesón, F.R. (2006). Rational Choice and Democratic Deliberation. A Theory of Discourse Failure. Cambridge, Mass.(u.a.): Cambridge Univ. Press.

[24] Vgl. Crozier, M., Huntington, S.P., Watanuki, J.o., and Trilateral Commission. (1975). The Crisis of Democracy: Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission. [New York]: New York University Press.

[25] Vgl. hierzu die partizipative Demokratietheorie der 1970er Jahre, insbesondere Pateman, C. (1970). Participation and democratic theory. Cambridge (u.a.): Cambridge University Press.

[26] Anders als die libertarians erkennen die Neo-Liberalen Ökonomen durchaus, dass der freie Markt nicht vollständig selbsttragend ist und Phänomene wie Markversagen von marktexternen Instanzen korrigiert werden müssen.

[27] Ein Paradox, das sich aus der bisherigen Diskussion ergibt, muss noch angesprochen werden. Das Paradox ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit des Trends zum Verschwinden des Politischen einerseits und der subjektiven Aufwertung der individuellen politischen Präferenzen. Diese Paradoxie legt es nahe, dass die politischen und sozialen Konsequenzen des ökonomischen Neo-Liberalismus als mehrdimensional und nichtgleichgerichtet sind. Die unterschiedlichen Dimensionen differenzierter zu betrachten, würde jedoch den Rahmen dieses Beitrages bei weitem überschreiten.

[28] Analysen, durchgeführt vom Verfasser mit Daten des EVS 1999. Abgetragen wird ein social capital Index, der folgende vier Teilindexe zusammenfasst: dem generalisierten Vertrauen in Andere; einem Index über die aktive Mitgliedschaft in Vereinen; einem Index über die Wertschätzung der Werte der Gemeinschaft und einem Index über die Wertschätzung der Normen der Reziprozität.

[29] Vgl. Klingemann, H.-D. (1998). Mapping Political Support in the 1990s: A Global Analysis. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

[30] Vgl. Klingemann, H.-D. (2006). Democracy and Political Culture in Eastern Europe. London (u.a.): Routledge.

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