Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 180: Parteien im Umbruch

Für eine europäische Republik

Stefan Collignon weist der Sozialdemokratie den Weg,

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S. 134-136

Standortverlagerungen, Arbeitsplatzabbau, Steuerdumping, Heuschrecken – die Negativliste der Globalisierung ist vom bloßen Szenario zur alltäglichen Realität geworden. Die Vorteile des weltweiten freien Verkehrs von Waren und Kapital werden getrübt durch nicht unerhebliche Nebenwirkungen. Der globale Zugewinn an Wohlfahrt wird im einzelnen Land teuer erkauft durch neue ökonomische und soziale Disparitäten. Dass dieser Weg nicht unabänderbar ist, daran erinnert Stefan Collignon eindringlich in seinem neuen, nun aus dem Französischen übersetzt vorliegendem, Buch.

Stefan Collignon Bundesrepublik Europa? Die demokratische Herausforderung und Europas Krise, vorwärts buch Verlag, Berlin 2007, 188 S., €19,80.

Der deutsche Sozialwissenschaftler mit Lehrtätigkeit in Harvard und an der London School of Economics zeigt mit seinem Gegenmodell einer Europäischen Republik, wie die Herausforderungen der Globalisierung sozial und demokratisch gestaltet werden können.

Erfrischend deutlich analysiert der Autor zunächst die Problemlage, in der sich die europäische Staatengemeinschaft zurzeit befindet. Nicht der internationale Markt, sondern die um ihn herum aufgebaute neoliberale Ideologie stellt sich als Gefahr für den Staat und seine klassischen Funktionen dar. Um zu den Gewinnern der zunehmenden ökonomischen Interdependenz zu gehören – so das weit verbreitete Credo – muss der Staat sich gänzlich dem Wettbewerbsprinzip unterwerfen. Doch da sich nach der neoklassischen Markttheorie Wettbewerb nur auf Privatgüter beziehen kann, ist die Vorstellung des Neoliberalismus einer Konkurrenz der Gesellschaftssysteme nicht logisch. Sie zielt allein darauf ab, die Systeme sozialer Sicherung in ihrem Umfang und in ihrer Funktion zu beschneiden. Die uneingeschränkte Freiheit der Marktkräfte tötet so die Gleichheit als normative Voraussetzung eines modernen Gesellschaftsmodells.

Die Internationalisierung des Kapitalismus verlangt heute nach Rahmenbedingungen, die eine transnationale Regulierung und Marktkorrektur ermöglichen. Auf globaler Ebene bleibt dies, bedenkt man die oft ergebnislos verlaufenden Verhandlungen in der Weltwirtschaftsrunde, die nur schleppende Verständigung auf gemeinsame Klimaschutzziele oder die nur geringe Bedeutung vieler internationaler Organisationen, in weiter Ferne. Demgegenüber erscheint der nationale Rahmen europäischer Staaten als zu beschränkt, um das Primat der Politik gegenüber einer frei agierenden Weltwirtschaft dauerhaft durchsetzen zu können. Die Europäische Union hätte jedoch die politische Größe und das ökonomische Gewicht, um eine gestaltende Rolle im Globalisierungsprozess zu spielen. Doch Europa füllt diese Rolle nicht aus. Der Staatenverbund scheint sich damit zu begnügen, dauerhaften Frieden auf dem Kontinent geschaffen und einen weitgehenden ökonomischen Integrationsprozess ermöglicht zu haben. Die institutionelle Reform wird mit dem Reformvertrag nur halbherzig umgesetzt, eine gemeinsame Außenpolitik ist seit der Zerstrittenheit im Irakkonflikt desavouiert und der Konkurrenzgedanke hat sich durch die einseitig wettbewerbsorientierte Ausrichtung des Lissabonprozesses und die Zunahme der ökonomischen und sozialen Heterogenität im Zuge der Osterweiterung fest in der EU etabliert.

Zur Lösung der Krise Europas erklärt Collignon im zweiten Teil seines Buchs seine Vision einer europäischen politischen Union. Eine vertiefte politische Integration kann für ihn keinesfalls nach dem bisherigen Integrationsmuster weitgehend intergouvernemental erfolgen. Die Absprachen zwischen den Regierungen bei nur geringer parlamentarischer Beteiligung sind unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten nicht haltbar. Diesem Missverhältnis hält Collignon die Existenz einer Vielzahl gesamteuropäischer Güter als Errungenschaften des Integrationsprozesses entgegen. Hierzu zählt er u.a. die gemeinsame Währung, den einheitlichen Binnenmarkt oder die innere Sicherheit. Den Institutionen der EU fehlt die Macht und den Nationalstaaten entgleiten zusehends die Möglichkeiten, die Verwaltung dieser gemeinsamen europäischen Güter optimal zu gewährleisten. Insbesondere in der Wirtschaftspolitik macht sich die Abwesenheit einer wirkungsvollen makroökonomischen Koordinierung negativ bemerkbar. Der Umgang mit asymmetrischen Schocks wird heute allein der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und den nationalen Lohnpolitiken aufgebürdet.

Collignon plädiert daher für die Schaffung einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ und stellt klar, dass diese allein im Rahmen eines republikanischen europäischen Gesamtdesigns realisierbar ist. Eine europäische Regierung, die einem in seinen Handlungsmöglichkeiten aufgewerteten Europäischen Parlament verantwortlich ist, sollte über ein eigenes Budget durch eine europäische Steuer verfügen und über die Einhaltung von verbindlich beschlossenen Grundzügen der Wirtschaftspolitik wachen. Dies würde eine bessere Koordination von Geld- und Fiskalpolitik und eine nachhaltige Wirtschaftpolitik zur Stabilisierung der Konjunktur ermöglichen. Mindestvorschriften könnten die soziale Konvergenz absichern.

Um mehr als nur den kleinsten gemeinsamen Nenner an gemeinsamer Politik zwischen den Einzelstaaten, deren Mitspracherecht über eine zweite Kammer gesichert bliebe, umsetzten zu können, ist eine hohe sozioökonomische Homogenität in Europa erforderlich. Die sieht Collignon am ehesten in der Eurozone verwirklicht, die er folgerichtig zum Nukleus einer europäischen Republik machen möchte. Dabei soll sich die EU nicht auflösen, spalten oder zerfasern. Sie bliebe als intergouvernementales Gebilde als äußerer Kreis bestehen, nur die Vertreter der europäischen Republik würden hierin nicht mehr wie bislang mit dreizehn verschiedenen, sondern nur mit einer Stimme sprechen.

Eine durch und durch demokratische europäische Republik, die als eigenes staatliches Gebilde den hohen Anspruch einer bislang fehlenden politischen Union erfüllt, ist ein äußerst visionäres Projekt, dessen konkrete Politikwerdung unwahrscheinlich klingt. Im Buch stößt der Leser jedoch ein ums andere Mal auf konkrete Beispiele europäischer Politik, die sowohl die Fragilität der derzeitigen Vereinbarungen und Regeln aufzeigen als auch die Sehnsucht nach demokratisch einwandfreien Strukturen und Organisationsprinzipien wecken.

Im Detail kann man viel kritisieren, kann fragen, ob durch eine republikanische europäische Ordnung die Balance von Gleichheit und Freiheit wieder hergestellt oder ob sich nicht vielmehr der gesamte Kontinent dem liberalen Akkumulationsregime verschreiben würde? Auch muss man zur Vorsicht mahnen, wenn sämtliche Schritte des historischen Integrationsprozesses im Nachhinein als große Errungenschaften gefeiert werden: Viele ökonomische und soziale Entwicklungen der letzten Jahre wären höchstwahrscheinlich anders verlaufen, hätte man die gemeinsame Währung erst nach Schaffung einer politischen Union eingeführt.

Insgesamt aber ist man Collignon dankbar für den Ausblick, den er eröffnet. Weg vom Brüsseler Alltag wird der Blick geweitet für eine langfristige europäische Zielperspektive, die gerade – dies betont der Autor in seinem Schlusswort – der Sozialdemokratie als zukunftsträchtiges Leitbild dienen kann. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, zu erfahren, wohin die europäische Reise gehen soll. Die zentral formulierte Einsicht, dass eine europäische Republik nicht eine Beschneidung nationaler Souveränität bedeutet, sondern – da das Volk der Souverän ist! – eine Rückgabe der Kontrolle über die gemeinsamen Güter an die Bürgerinnen und Bürger, wünscht man sich daher auch von den aktiv politisch Handelnden.

nach oben