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Die Mitte als politische Aufgabe

Die CDU in einer zerklüfteten Landschaft,

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S. 86-93

Ihrem jüngsten Parteitag -Anfang Dezember 2007 in Hannover -hatte die CDU das lapidare Motto gegeben: Die Mitte. Es beherrschte nicht nur die Bühne des Parteikonvents und die Rede der Vorsitzenden, sondern auch, und das war das Erstaunliche, die Berichterstattung danach. Denn eigentlich brachten das Motto und die Mitte keine neue Botschaft. Seit ihren Anfängen hat sich die CDU als eine, ja geradezu als die Volkspartei der Mitte verstanden und so übrigens auch ihre Erfolge erklärt. Von den 60 Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland wird die CDU im Jahre 2009, wenn alles gut geht, 40 Jahre lang den Kanzler gestellt haben. In ihrem Selbstverständnis war diese Erfolgsbilanz stets verbunden mit ihrem Charakter und ihrer Anmutung als Partei der Mitte. Was also war neu? Warum ist es der CDU gelungen, die Mitte als neue Nachricht unters Volk zu bringen?

Niederlage, Verlust und Wieder­ent­de­ckung der Mitte

Das lässt sich, oberflächlich und auf kurze Sicht betrachtet, leicht erklären. Zwei Daten, 2003 und 2005, bieten den Schlüssel für diese Erklärung. Das Jahr 2003 brachte für die CDU den Leipziger Parteitag und die Agenda 2010 für die SPD. Beiden, der Agenda-SPD wie auch der „Leipziger“ CDU war gemeinsam, dass es den Führungen der Parteien nicht gelungen war, die Modernisierungsbemühungen an die Traditionslinien der jeweiligen Parteien anzudocken, zu denen immer auch eine gewisse „Aura der Gerechtigkeit“ (Hans-Rudolf Korte) gehört hat. Das hatte zur Folge, dass die Neuerungen in den Parteien hingenommen, aber nicht wirklich angenommen wurden.

Die Bundestagswahl im Jahre 2005 zeigte schließlich, dass die Reformpolitik aus dem Jahre 2003 in der einen wie in der anderen Form keine Mehrheit bei den Wählern fand. Das Ergebnis war vor allem für die CDU ein Schock. Die Ursachen wurden in der CDU nie öffentlich diskutiert, während wachsende Teile der SPD, bedroht zusätzlich durch die Erfolge der Linkspartei, die Agenda 2010 für den Niedergang verantwortlich machten. Die SPD hat in der Folge den Anspruch, eine „neue Mitte“ zu repräsentieren, aufgegeben. Mit diesem Anspruch war sie im Jahre 1998 in die Regierung gekommen, aber schon ein Vierteljahrhundert vorher hatte Willy Brandt die „neue Mitte“ als das Bündnis der Facharbeiter mit der technischen Intelligenz und dem aufgeklärten Bürgertum ausgerufen. Auf dem Hamburger Parteitag der SPD (Ende Oktober 2007) war von der neuen Mitte nicht mehr die Rede.[1]

Es sind diese beiden Daten, die dem aktuellen Alleinvertretungsanspruch der CDU auf die Mitte eine vordergründige Plausibilität geben. Die CDU positioniert sich, aus Erfahrung klug, anders als sie es vier Jahre vorher in Leipzig getan hatte: Sie rückt von Leipzig aus in die Mitte, dorthin, wo nicht nur die ökonomischen Kennziffern, sondern auch die Gefühle der Gerechtigkeit zu Hause sind. Und die SPD hat, so interpretieren es jedenfalls neben der CDU auch viele Kommentatoren, die Mitte wieder frei gemacht. Die SPD spricht von der „solidarischen Mitte“ und versucht so, an ihre Traditionen anzuknüpfen. Für die Zukunft der CDU wird es entscheidend sein, ob sie beim zweiten Versuch den Spagat schafft, der ihr 2003 und 2005 nicht geglückt ist, nämlich Tradition und Moderne, gesellschaftlichen Aufbruch und soziale Rücksicht als Partei der Mitte in eine für die Mehrheit der Wähler erträgliche, vielleicht sogar attraktive Balance zu bringen.

Ein Blick zurück: Die CDU als einzige Volkspartei

Ein Blick zurück zeigt die CDU über viele Jahre hinweg als die einzige Volkspartei in der jungen Bonner Republik. Volkspartei, Integrationspartei und Mitte waren Begriffe, die sich gegenseitig stützten und ergänzten und die in ihrem Zusammenspiel die CDU in ihrem Anspruch, die Volkspartei der Mitte zu sein, lange Zeit fast wie selbstverständlich erscheinen ließen. Die CDU stellte nach 1945 als Parteitypus etwas Neues in der deutschen Parteiengeschichte dar. Entstanden waren die politischen Parteien in Deutschland im 19. Jahrhundert entlang zweier Konfliktlinien: der sozialen Frage und der religiösen Frage. Klassenkampf und Kulturkampf machten die SPD und das katholische Zentrum zu dem, was sie bis ins 20. Jahrhundert hinein waren. Die CDU war die erste Partei, die ganz bewusst diese Parteiformationen überwinden wollte: Sie wollte keine Interessenpartei sein, keine Weltanschauungspartei und schon gar keine Klassenpartei, sondern eben eine Volkspartei, die Katholiken und Protestanten, Arbeiter und Unternehmer, Beamte, Bauern und den Mittelstand, Handwerker und Freiberufler, in sich vereinte. Gesellschaftliche Mitte meinte die Integration der verschiedenen sozialen Gruppen, die überdies durch ein individuelles Aufstiegsversprechen -es sollte allen immer besser gehen -und durch ein kollektives Sozialstaatsversprechen – der Lebensstandard der Menschen sollte auch in kritischen Lebenslagen wie Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit sicher sein -zusammengehalten wurden. Politische Mitte meinte die Integration dieser Gruppen in der Volkspartei CDU, und zwar eine Integration im doppelten Sinne: Die sozialen Gruppen fanden sich innerhalb der CDU wieder, formal in den Vereinigungen und informell in zahlreichen Netzwerken im so genannten vorpolitischen Raum. Und die sozialen Gruppen waren allesamt Adressaten der Regierungspolitik der CDU, die durch ihre Wirtschafts-und Sozialpolitik dafür sorgte, dass sich das Markteinkommen und das Sozialeinkommen der Wähler laufend erhöhten, was in Zeiten des „Wirtschaftswunders“, der vollen Kassen und der leichten Staatsschulden auch leicht zu bewerkstelligen war.

Neuori­en­tie­rung und Sammlungs­be­we­gung

Man kann lange darüber diskutieren, ob die erste Regierungsphase der CDU (1949-1969) eine Phase der Restauration war oder ob sich Deutschland in dieser Zeit nicht – auf eine friedliche und demokratische Weise – stärker und nachhaltiger verändert hat als je zuvor in seiner Geschichte, von Kriegen, Katastrophen und Diktaturen abgesehen. Unabhängig davon kann kaum ein Zweifel bestehen, dass damals neue Begriffe, neue Denkfiguren, neue Verständigungs- und Deutungszusammenhänge in die Politik Einzug gehalten haben und dass die CDU diesen Wandel aktiv bewirkt und beschleunigt hat: Europäische Integration, wo eben erst Nationen und Nationalismus ihr Unwesen trieben; Soziale Marktwirtschaft und soziale Partnerschaft statt Klassenkampf; vor allem aber der „lange Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) und damit auch das Ende der deutschen Verachtung der westlichen „Zivilisation“ vor dem Hintergrund einer angeblich höherwertigen deutschen „Kultur“. Es ist für eine künftige Politik der Mitte von einiger Bedeutung, dass sie von Anfang an gedacht und gemacht wurde nicht als eine restaurative Politik, die vergangene und versunkene Zeiten wieder zurück holen wollte, sondern als eine Politik, die mit einem neuen Denken auf veränderte Zustände reagiert hat. Es war auch eine neue Mitte, die ihren Begriff noch nicht kannte und die natürlich neben der alten Mitte existierte, welche die konservative Instinkte der Gesellschaft durch andere Botschaften anzusprechen wusste. Es wird auch nie anders sein. Die Mitte bleibt politisch stark immer nur als neue Mitte. Das liegt nicht nur daran, dass sie sich mit dem Wandel der Gesellschaft immer auch selbst verändert. Das liegt vor allem an ihrem notwendig ambivalenten Charakter.

Mitte ist nämlich ein Begriff, der eingrenzt und so möglichst viele soziale Gruppen integriert. Mitte ist aber auch ein Begriff, der zur Ausgrenzung taugt und in dieser Eigenschaft die Wahlkämpfer aller Parteien und Zeiten erfreut, wenn sie sich an die Aufgabe machen, die sie als negative campaigning beschreiben. Konrad Adenauer und die CDU waren Meister in dieser Kunst. Die CDU hatte ihre Erfolge als Volkspartei der Mitte denn auch von Anfang an als Sammlungsbewegung gegen alles, was als links und bedrohlich beschrieben werden konnte, gegen den Bolschewismus und Kommunismus und überhaupt gegen die „Gefahr“ aus dem Osten, und noch im Bundestagswahlkampf 1976 tat der Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ offensichtlich gute Dienste (48,6 Prozent). Möglicherweise war es für die CDU von Vorteil, dass sie in ihren formativen Jahren mehr als Sammlungsbewegung gegen den Sozialismus und Kommunismus denn als religiöse Bewegung für eine „christliche“ Politik erlebt wurde. Es ist jedenfalls ein bemerkenswerter Sachverhalt, dass die CDU die anwachsende Entkirchlichung der Gesellschaft so relativ gut überstanden hat.

Regie­rungs­partei, Wirtschafts­partei, Sozial­staats­partei

Schließlich kommt ein dritter Faktor hinzu, der die CDU von Anfang an stabil und robust gemacht hat: Sie hat im Bund regiert, noch ehe es sie als Bundespartei überhaupt gegeben hat. Konrad Adenauer wurde 1949 zum Kanzler gewählt, die CDU erst 1950 in Goslar auf Bundesebene gegründet. Dies ist der markante Unterschied zur Sozialdemokratie: Wenn die SPD regiert, hat die Partei ein notorisch schlechtes Gewissen. Wenn die CDU regiert, geht es der Partei gut. Die CDU versteht sich als Regierungspartei, die SPD als Programmpartei. „Kanzlerwahlverein“ ist dort eine Kritik an der Substanz der SPD oder umschreibt allenfalls ein notwendiges Übel, hier meint dieser Begriff einen Teil der Normalität der CDU, für den sie sich nicht schämt, einen Teil, aber nicht das Ganze. Die CDU wäre wohl nicht über eine so lange Zeit so erfolgreich geblieben, hätte sie nicht programmatische Widersprüche konstruktiv in sich ausgetragen und zu einem eigenen, von SPD und FDP unterscheidbaren Profil verbunden. In jene Zwischenzeit zwischen Kriegsende 1945 und Gründung der Bundesrepublik 1949, die ja voll war von leidenschaftlichen Debatten um die Zukunft Deutschlands, fallen auch die beiden ersten und bis heute bedeutsamen Dokumente der CDU, das „Ahlener Programm“ von 1947 mit seiner moralischen Verurteilung des Kapitalismus und die „Düsseldorfer Leitsätze“ mit der Begründung und dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft.

Es ist heute chic in der CDU, Ludwig-Erhard-Exegese zu betreiben, aus seinen Texten heraus oder in sie hinein zu lesen, was der Kirchenvater der Sozialen Marktwirtschaft wirklich gemeint hat. Die feinsten Exegesen ändern aber nichts an dem banalen, aber für die Zukunft der CDU entscheidenden Sachverhalt: Die CDU war erfolgreich, weil und solange sie Wirtschaftspartei und Sozialstaatspartei in einem und zugleich war. Das „Ahlener Programm“ hatte nie eine Chance, Politik der CDU zu werden, aber es blieb als Stachel der Kritik an einem Kapitalismus pur immer lebendig. Insofern ist es auch kein Zufall, dass die Kritik sowohl an der Leipziger Programmatik der CDU als auch an der Agenda 2010 vor allem von der CDU des Landes Nordrhein-Westfalen vorgetragen wurde.[2]

Volkspartei in einer veränderten Landschaft

Geht man diese fünf Kriterien der Reihe nach durch, dann ist unschwer zu erkennen, wo die Schwierigkeiten liegen, heute die Mitte politisch erfolgreich zu repräsentieren. Die Volkspartei der Zukunft wird nicht nur sozioökonomische Gruppen, sondern auch soziokulturelle Lebensstile integrieren müssen. Hierbei ist die CDU offensichtlich erfolgreicher als ihr viele zugetraut haben. Mit dem Paradigmenwechsel in der Familienpolitik hat sie eine Neuorientierung auf einem Politikfeld in Gang gesetzt, das für das konservativ-kirchliche Milieu ebenso vermint ist wie für die Gewerkschaften und die SPD-Linke Reformen auf dem Arbeitmarkt und in der Sozialpolitik. Der CDU ist auf diesem Gebiet eine Neuorientierung gelungen, weil sie vor allem durch die zuständige Ministerin Ursula von der Leyen verständlich machen konnte, dass „alte“ Familienwerte (Verlässlichkeit, Geborgenheit, Fürsorge) überhaupt erst durch neue Rahmenbedingungen eine gute Zukunft haben. Dass konservative Wege nicht mehr zuverlässig zu konservativen Zielen führen war eine bittere und auch schmerzliche Erkenntnis für große Teile der CDU. Die Partei erwies sich aber insgesamt als lernfähig, nicht zuletzt auch dank einer geschlossenen Führung, was man beides von der SPD mit Blick auf die Agenda 2010 nicht gerade behaupten kann, die ja ebenfalls die Konsequenzen aus der Erfahrung zu ziehen versuchte, dass die alten sozialen Wege nicht mehr zuverlässig zu den alten sozialen Zielen führen.

Die CDU hat in entscheidenden Phasen immer wieder gezeigt, zuletzt in ihrem Grundsatzprogramm, dass sie zur Neuorientierung fähig ist. Darin dürfte auch in Zukunft einer ihrer Wettbewerbsvorteile liegen. Dagegen ist nicht zu sehen, wie und wogegen sich die CDU als Sammlungsbewegung neu in Szene setzen könnte. Der Kommunismus ist tot. Deutschland ist vereint. Ob die Linkspartei als möglicher Koalitionspartner der SPD im Bund, der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union oder der „Kampf gegen den Terrorismus“ eine ähnliche Mobilisierungswirkung für die CDU auf der politischen Rechten entfalten könnte wie in den 1950er Jahren Slogans wie „Alle Wege führen nach Moskau“, wie auch später noch die Erinnerung an ein „Deutschland in den Grenzen von 1937“ oder die – mit Rücksicht auf die Vertriebenen und ihre Verbände – bis zur Vereinigung nicht öffentlich vollzogene Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze, das erscheint doch eher ziemlich unwahrscheinlich. Die Zeiten, in denen Volksparteien wie die CDU als Sammlungsbewegungen zum Erfolg kommen, scheinen vorbei zu sein. Sie lassen dabei freilich eine Lücke, in die linke und rechte Ressentimentparteien, die die Unzufriedenen aller Couleur sammeln, eindringen können.

Die Regierungspartei CDU blüht zwar gegenwärtig im Glanze ihres Glückes, nach einem schlechten Wahlergebnis 2005 doch noch die Kanzlerin stellen zu können und, weitgehend unbemerkt, überhaupt alle wichtigen Staatsämter inne zu haben. Aber es ist der Union sehr wohl gegenwärtig, dass sie seit 1998 bei jeder Bundestagswahl die 40-Prozent-Marke zum Teil deutlich verfehlt hat und dass das so genannte bürgerliche Lager in eben diesen Wahlen keine parlamentarische Mehrheit mehr zustande brachte. In einer veränderten Parteienlandschaft hat die CDU zwar nach wie vor bessere Wahlchancen, aber schlechtere Koalitionschancen. Ein Fünf-Parteien-System setzt die alte Formel zur Macht außer Kraft, die fast ein halbes Jahrhundert lang in der zweiten deutschen Demokratie für Stabilität gesorgt und die CDU begünstigt hatte: Eine große Partei plus eine kleine Partei haben zusammen eine Mehrheit im Parlament, bilden eine Regierung, die dann vier Jahre hält.

Die Korrosion der Wirtschafts­partei CDU

Langsam wird sich die CDU dieser neuen und für sie unbequemen Lage bewusst, nachdem sie lange Zeit zu so genannten Ad-hoc-Erklärungen ihre Zuflucht genommen hatte: 1998 seien die Wähler eines immerwährenden Kanzlers überdrüssig geworden, 2002 habe die Union vielleicht doch nicht den idealen Kandidaten gehabt, 2005 hätten Fehler und Irritationen im Wahlkampf die CDU um den Sieg gebracht.

Die Zeit der schönen Täuschungen ist nun vorbei. Es fragen sich inzwischen immer mehr an Haupt und Gliedern der CDU, ob die Ursachen nicht tiefer liegen. Sie suchen und finden diese Ursachen in einem unklaren Kompetenzprofil der CDU als Wirtschaftspartei und als Sozialstaatspartei. Das hat weniger damit zu tun, dass auf diesen Gebieten markante Köpfe fehlen. In der Wirtschaftspolitik gibt es sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, in der Sozialpolitik wurden sie, die Geißlers, Blüms und Finks, auf dem Leipziger Parteitag gleichsam exkommuniziert.

Doch die eigentliche Ursache für diesen Sachverhalt ist in tektonischen Verschiebungen in den Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft zu finden. Der positive Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Gesellschaft ist zerrissen, und die Wähler haben dafür ein feines Gespür. Dieser positive Zusammenhang ließ sich über Jahrzehnte hinweg in einfachen Wahrheiten beschreiben: Wenn es der Wirtschaft gut geht, dann geht es auch der Gesellschaft gut. Eine steigende Flut hebt alle Boote. Die Kinder werden es einmal besser haben. Das waren Erfahrungen, von Generation zu Generation weiter gegeben, die ein Grundvertrauen in die Wirtschaft und auch ein elementares Vertrauen in die Zukunft signalisierten. Dieses Vertrauen ist verloren gegangen in einem Ausmaß, das noch vor kurzer Zeit völlig unvorstellbar gewesen wäre.[3] Dieses Gefühl, dass die Wirtschaft ein Eigenleben führt, dass sie aus der Gesellschaft gleichsam ausgewandert ist, die erlebte Entkoppelung von wirtschaftlichem Erfolg einerseits und gesellschaftlichem und persönlichem Erfolg andererseits ist der Tiefengrund für die Entfremdung und die Verwerfungen, die die Debatten vom Mindestlohn bis zu den Managergehältern befeuern.

Für die CDU sind die Folgen offensichtlich, aber wenig diskutiert. Sie konnte mit dem Label, eine „Wirtschaftspartei“ zu sein, so lange ganz gut leben, so lange zwei Voraussetzungen gegeben waren. Eine Mehrheit der Bürger musste mit Wirtschaft und Unternehmen positive Assoziationen für die Gesellschaft verbinden, und: Das Profil der CDU als Sozialstaatspartei (und damit als Korrektiv zur Wirtschaftspartei) musste intakt und über jeden Zweifel erhaben sein. Wenn beides zur gleichen Zeit ins Wanken gerät, das Vertrauen in die Wirtschaft und das Vertrauen in den Sozialstaat, wird es ungemütlich für die CDU wie für das gesamte so genannte bürgerliche Lager. Es korrodieren die Stützen und Streben, die einmal das Ganze gehalten haben, nicht nur in der CDU, sondern in Staat und Gesellschaft.

Erneuerung der Sozial­staats­partei CDU?

Die Wiedereinbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft wird somit zu einem strategischen Erfordernis für die CDU und das zu einer Zeit, in der von der öffentlichen Rhetorik und ökonomischen Praxis der Mehrheit der deutschen Wirtschaft wenig zu erwarten ist, was geeignet wäre, das Vertrauen der Menschen in die Wirtschaft wieder herzustellen. Und die Erneuerung des Sozialstaates in einer Art und Weise, so dass er wieder glaubwürdig eine „neue Sicherheit“ (Rüttgers) versprechen kann, wird zu der anderen strategischen Aufgabe, auf die eine mehrheitsfähige Volkspartei der Mitte Antworten finden muss. Denn dies war die andere Seite der Entwicklung, die gerade auch die gesellschaftliche Mitte nicht mit neuem Vertrauen, sondern mit Angst und Sorgen erfüllt hatte: die Reform des Sozialstaates.

Der Historiker Paul Nolte weist in einem eindrücklichen Beitrag über die „gesellschaftliche Mitte in Deutschland“[4] darauf hin, dass sich im Steuer- und Wohlfahrtsstaat Bundesrepublik Deutschland seit einigen Jahren ein Paradigmenwechsel vollzogen habe: „Es scheint so etwas wie ein geheimes Grundgesetz deutscher Sozialpolitik nach 1945 gewesen zu sein, Angehörigen von „Grenzschichten“ wie z.B. Facharbeitern zu einem respektablen Platz in der Mitte zu verhelfen; auch Gewerkschaften und Tarifpolitik haben dazu beigetragen. Von wichtigen Formen der sozial- und steuerstaatlichen Förderung haben mittlere Schichten besonders profitiert, von der Steuerfreiheit von Lebensversicherungen bis zur „Eigenheimzulage“. Hier hat sich seit einigen Jahren ein Paradigmenwechsel vollzogen. Leistungen des „Wohlfahrtsstaates der Mittelschichten“ sind in erheblichem Umfang gekürzt oder gestrichen worden; umgekehrt wurden für vorher praktisch kostenfreie Leistungen (wie den Kindergarten) einkommensabhängige Gebühren eingeführt. Viel spricht dafür, dass sich dieser Trend zu einer größeren materiellen Selbstverantwortung der gesellschaftlichen Mitte fortsetzt.“

Die CDU war an diesem Paradigmenwechsel maßgeblich beteiligt, jetzt bekommt sie Angst vor der eigenen Courage. Die Debatte um den Mindestlohn bietet dafür das vorläufig letzte Beispiel. Die Ablehnung des gesetzlichen Mindestlohnes befriedigt die traditionelle Wirtschaftspartei CDU. Die Einführung von Mindestlöhnen in allen möglichen Branchen befriedigt die traditionelle Sozialstaatspartei CDU. Beides zusammen befriedigt und überzeugt niemanden. Ein solch reaktiver Konsens ist aber unvermeidlich, so lange es nicht gelungen ist, einen progressiven Konsens zu erarbeiten, der mit einem neuen Denken die Widersprüche aufhebt, wie es schon einmal mit der Sozialen Marktwirtschaft gelungen ist. Flexicurity lautet heute das Stichwort. Gefragt sind Modelle, die die notwendige Sicherheit der Beschäftigten mit der notwendigen Flexibilität der Wirtschaft verbinden. Im konkreten Fall heißt das, einen gesetzlichen Mindestlohn zu kombinieren mit einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und des Kündigungsschutzes nach dänischem und wo nötig auch mit Kombilohnmodellen nach britischem Vorbild: Weil viele Familien auch von Mindestlöhnen nicht leben können, werden diese in Großbritannien insgesamt mit Milliardensummen aufgestockt.

Die Mitte: eine zerklüftete Landschaft

Ein neuer und progressiver, das heißt ein nach vorne weisender Konsens, wie er in der Familienpolitik gelungen ist, steht auf dem weiten Feld der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik für die CDU noch aus. Er ist aber unerlässlich, will sie als Partei der Mitte mehrheitsfähig sein. Dieser neue Konsens muss zwei gegenläufige Erwartungen auf einen Nenner bringen: den Appell an die Eigenverantwortung und den Wunsch nach Sicherheit. Die Mitte ist kein sanftes Mittelgebirge, sondern eine zerklüftete Landschaft, wo gute Aussichten und mögliche Abstürze dicht nebeneinander lauern. Sie ist kein umfriedetes Gelände, wo man alle vier Jahre die Pforten zu den Wahlkabinen aufmacht, sondern ein offenes Feld, mit einem regen Kommen und Gehen trotz aller Versuche, den Zugang zu regulieren. Die Mitte ist schließlich keine homogene Gruppe, sondern bunt, vielfältig und unterschiedlich wie nie zuvor. Offenheit und Vielfalt, sozialer Aufstieg und Sicherheit durch Bildung, weniger Steuern und Abgaben, aber mehr Chancen auch dank eines intelligenten Staates: Diese Stichworte markieren das Spannungsfeld, in dem sich eine Politik der Mitte zu bewegen und zu bewähren hat.

Die Mitte ist kein Zustand, sondern eine politische Aufgabe. Wie die CDU damit fertig wird, entscheidet nicht nur über ihre Zukunft.

[1] Zur gegenwärtigen Lage der SPD siehe auch den Beitrag von Warnfried Dettling: Ein Abschied wie ein Wetterleuchten. Der Rücktritt von Franz Müntefering und die Folgern für die SPD, in: thinktank. Das Magazin von berlinpolis, Heft 7, Winter 2007, 11-13.

[2] Jürgen Rüttgers: Die Marktwirtschaft muss sozial bleiben. Eine Streitschrift, Köln 2007.

[3] „Laut einer Allensbach-Umfrage von Ende 2006 sind nur noch 24 Prozent der Deutschen überzeugt, dass die Bundesrepublik ein System der sozialen Marktwirtschaft besitzt. Knapp zwei Drittel haben den Eindruck, die soziale Ausrichtung des Landes sei aufgegeben worden. Des Weiteren glauben bloße 27 Prozent, eine starke Wirtschaft nütze der Bevölkerung. Und 27 Prozent befürchten, selbst bei prosperierenden Unternehmen seien die Arbeitsplätze nicht mehr sicher.“ (Timo Meynhardt und Simon Vaut: Die Renaissance der Gemeinwohlwerte, in: Berliner Republik 6/2007, 64-75, 64).

[4] Paul Nolte: Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland“, in: Die Mitte als Motor der Gesellschaft – Spielräume und Akteure, Sinclair-Haus-Gespräche 27, Herbert-Quandt-Stiftung , Bad Homburg v.d.H. 2007, 12-23, 18.

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