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Wenn sie nicht mehr schreiten Seit an Seit

Die Einheit von SPD und Gewerkschaften zerfällt, doch sind sie strategisch aufeinander angewiesen,

Aus: vorgänge Nr.180, Heft 4/2007, S.76-85

„Deine Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, hieß die Begleitkampagne des DGB zur Bundestagswahl 1998. Wenngleich es keine offene Parteinahme der Gewerkschaften für die SPD war, so trug diese Kampagne doch dazu bei, die gewerkschaftlich gebundenen Arbeitnehmer zur Wahl aufzurufen. Diese Gruppe gehörte zu einer der wichtigsten Wählergruppe der SPD. Alleine deswegen war deren Mobilisierung ein wichtiger Baustein für den Regierungswechsel.

Doch vom damaligen engen Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und SPD ist heute nicht mehr viel zu spüren. Stattdessen wandte sich ein erheblicher Teil der gemeinsamen Basis von Partei und Gewerkschaft von der SPD ab. Besonders nach der knappen Wiederwahl der Regierung Schröder 2002 setzte ein starker Prozess der Entfremdung ein. Schröder ersetzte damals seinen Arbeitsminister Walter Riester aus „optischen“ Gründen durch Wolfgang Clement, der als Superminister gleichzeitig für Wirtschaft zuständig wurde (Riester 2004: 233). Erstmals unter sozialdemokratischer Führung war kein früherer Gewerkschafter im Ministerrang im Bundeskabinett präsent, und erstmals gehörte kein Vorsitzender einer Einzelgewerkschaft mehr der SPD-Bundestagsfraktion an. Es handelte sich dabei keineswegs nur um eine optische Komponente, sondern nach dem Scheitern des Bündnis für Arbeit zu Beginn des Jahres 2003 und im Zuge der Agenda 2010 stellte sich heraus, dass die rot-grüne Bundesregierung vom konsensualen Regierungsstil Abstand nahm und auf einen Konfliktkurs einschwenkte, bei dem gerade die Gewerkschaften in erheblichen Widerspruch zur Politik der Regierung gerieten (Weßels 2007).

Die Friktionen zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokraten wurden offenkundig, als einzelne Funktionäre der mittleren Ebene die SPD verließen und mit der WASG eine neue Partei gründeten, die in Folge eigener Schwäche und unter dem Druck der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 mit der PDS zunächst kooperierte und dann verschmolz. Zusammen brachte man ein hinreichendes Wählerpotenzial auf, um recht sicher die Sperrklausel zu überwinden. Eine Million Stimmen absorbierte die Linkspartei so von der SPD, darunter zahlreiche langjährige Gewerkschafter mit großem Hang zur SPD (Neu 2006: 16, 29). Dieses zwang SPD und CDU/CSU am Ende in die Große Koalition, in der abermals kein Repräsentant einer deutschen Gewerkschaft im Ministerrang vertreten war.

Die Große Koalition brachte den Gewerkschaften eine Atempause. Die vehementen und heftigen Angriffe der Union auf Mitbestimmung und Arbeitsrecht unterblieben, denn das war von der SPD zur Voraussetzung für die Aufnahme von Koalitionsgespräche gemacht worden. Gegenwärtig scheint es, als rücke die Union selbst wieder in Richtung des sozialpolitischen Konsenses, wie er in den Jahren zuvor in der Bundesrepublik bestand. Gleichwohl ist die Große Koalition kein Wunschkonzert gewerkschaftlicher Forderungen. Im Gegensatz dazu stehen Projekte wie die Gesundheitsreform oder die Rente mit 67. Auf die Unterstützung, ja vehemente Parteinahme für diese Projekte durch die SPD reagierten die Gewerkschaften mit „Liebesentzug“. So lud der bayerische DGB Sozialdemokraten von den traditionellen Maidemonstrationen aus. Bei den Reformen erschienen die Namen der Ja-Sager in den Mitgliederzeitungen der Gewerkschaften und die Nein-Stimmen wurden regelrecht gefeiert. Kurioserweise entstand so der Eindruck, dass ausgerechnet die FDP, welche geschlossen mit Nein votierte, nun ein Hort gewerkschaftlicher Tugenden sei.

Die gewerkschaftliche Agitation orientiert sich verstärkt auf die Partei „Die Linke“, wie sich die PDS/WASG mittlerweile nennt. Das geht so weit, dass für Teile der Gewerkschafter nur ein Gewerkschafter in „Die Linke“ ein guter Gewerkschafter sein kann (Ernst et al. 2007). Diese Position verkennt, dass bei der Bundestagswahl 2005 immer noch die Hälfte aller Gewerkschaftsmitglieder für die SPD stimmte und ein gutes Fünftel CDU wählte, wohingegen die Linkspartei unter den Gewerkschaftsmitgliedern weniger Stimmen erhielt als FDP und Grüne zusammen (o.V. 2005). Das bedeutet, dass ein großer Teil der Gewerkschaftsmitglieder sich unverändert mit denjenigen Parteien identifiziert, die maßgeblich die Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg prägten, SPD und CDU/CSU.

Obgleich die Gewerkschaften fundamental mit den beiden Volksparteien über Kreuz liegen, werden diese nach wie vor von den Gewerkschaftsmitgliedern mehrheitlich unterstützt. Dieser Beitrag will diesen Widerspruch auflösen. Dazu werden seine personellen, strategischen und inhaltlichen Gesichtspunkte untersucht.

Dicker als Wasser – die personellen Bindungen

Bis um die Wende zum 20. Jahrhundert war das Verhältnis von SPD und Gewerkschaften klar geregelt. Die Gewerkschaften hatten sich der Partei unterzuordnen. Doch das Mitgliederwachstum, der Abschluss von Tarifverträgen, die Verankerung in den Selbstverwaltungsstrukturen der Sozialversicherungen und das eigene Unterstützungswesen hatten die „Rekrutenschule der Partei“ mächtiger und selbstbewusster werden lassen. Die Debatte um die Anwendung des Massenstreiks trug dazu bei, das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften grundlegend neu zu ordnen. Im Mannheimer Abkommen von 1906 legten SPD und Gewerkschaften die Grundsätze ihrer Zusammenarbeit fest. Faktisch errangen die Freien Gewerkschaften die Gleichberechtigung gegenüber der Partei.

Organisatorisch und funktional waren damit Partei und Gewerkschaften endgültig voneinander geschieden, ohne dass die personellen Verflechtungen, Zusammenhänge und Kooperationsmöglichkeiten dadurch aufgehoben wurden. Gewerkschaftsführer der verschiedenen Ebenen waren oftmals Mandatsträger für die SPD, während umgekehrt die SPD-Mitgliedschaft faktische Voraussetzung für eine Anstellung in den (Freien) Gewerkschaften blieb. Diese wechselseitige personelle Durchdringung blieb bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten, obwohl die Gewerkschaften ihre eindeutige parteipolitische Orientierung im Konzept der Einheitsgewerkschaft aufgaben. Unter den aktiven Mitglieder dominierten Sozialdemokraten, während umgekehrt die gewerkschaftlich orientierten Arbeiter eine wichtige Stütze der SPD bei Wahlen waren (Schroeder 2005: 15f.).

Die SPD pflegte die enge Bindung zu den Gewerkschaften trotz oder gerade wegen ihres Volksparteicharakters, den sie nach dem Godesberger Parteitag 1959 demonstrativ zu Schau stellte: Einzelne Vorsitzende oder hohe Repräsentanten der Einzelgewerkschaften gehörten für die SPD dem Bundestag an, nahmen Funktionen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene wahr und traten als sozialdemokratische Minister in Bundes- und Landeskabinette ein. Über ihre bloße persönliche Präsenz dort stellten sie sicher, dass der Draht zwischen SPD und Gewerkschaften selbst dann nicht abriss, wenn inhaltliche Differenzen erhebliche Spannungen verursachten.

Diese engen Bindungen auf der Elitenebene wurden ergänzt durch eine wechselseitige Durchdringung der Organisationen. Beide waren bis in die 1960er Jahre hinein durch das gemeinsame alte Arbeitermilieu geprägt. Wer in diesen Jahren politisch sozialisiert wurde, wer sah, welche Fortschritte Sozialdemokraten und Gewerkschafter im Betrieb wie in der Kommunal-, Landes- und Bundespolitik erzielten und wer hiervon unmittelbar profitierte etwa durch die Bildungsexpansion oder den abgefederten Strukturwandel, der entwickelte eine hohe Organisationsloyalität. Ein erheblicher Teil der gewerkschaftlichen Führungsschicht hat diese Erfahrung verinnerlicht. Leute wie Jürgen Peters oder Hubertus Schmoldt sind dafür Beispiele. Gleiches lässt sich über die Spitzenpolitiker der SPD sagen, wie Kurt Beck, der selbstredend aktives Mitglied in Gewerkschaft und Partei wurde.

Mit der Regierungsbeteiligung der SPD auf Bundesebene 1969 setzte ein Umbruch in der Mitgliedschaft beider Organisationen ein. Die jüngere Generation sympathisierte mit linkssozialistischen, redogmatisierten und visionären Positionen und trug diese über die Jusos beziehungsweise die Gewerkschaftsjugend in die Organisationen hinein. Während beide Seiten einen Schub in Richtung Radikalisierung erhielten, lockerte sich die personelle Bindung aneinander langsam, fast unmerklich, allerdings im Rückblick offenkundig. Innerhalb der SPD prägten in wachsendem Maße Akademiker das Bild des Parteinachwuchses. Sie kamen vielfach aus einfachen Verhältnissen, eine gewerkschaftliche Bindung ergab sich teils aus familiärer Tradition, teils aus eigener gewerkschaftlicher Überzeugung. Da ein großer Teil allerdings Lehrberufe anstrebte, waren etliche Mitglied der kleinen Lehrergewerkschaft GEW oder der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes ÖTV geworden. Die großen Industriegewerkschaften waren in der Mitgliedschaft der jungen SPD-Mitglieder fortan unterrepräsentiert (Schroeder 2005: 18). Zugleich dominierte in den Gewerkschaften weiterhin der klassische industrielle Facharbeitertypus, der sich oftmals mühselig über den Zweiten Bildungsweg weiterbildete (Hassel 2006: 216), während die meisten Sozialdemokraten jener Jahre zwar häufig als erste in ihren Familien zur Universität gegangen waren, jedoch in der Regel über den ersten Bildungsweg.

Für das Gros der Funktionsträger wird diese berufsbiographische Differenz zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften prägend. Sie wurde verstärkt durch die unterschiedlichen innerorganisatorischen Sozialisationen: man wurde entweder als junger Gewerkschafter oder als Jungsozialist politisch geschult und sozialisiert, beide Organisationen standen nicht mehr in einem nennenswerten Austausch untereinander. Die Bereitschaft, der SPD beizutreten, wurde in der Folge all dieser Prozesse von vielen Gewerkschaftern nicht mehr als selbstverständlich angesehen, sondern als notwendiges Übel betrachtet. Gleiches galt für das Wahlverhalten vieler Arbeitnehmer (Deppe et al. 1979: 204). Exemplarisch lässt sich dieses bei DGB-Chef Michael Sommer zeigen, der erst nach einer Mitgliedschaft in der SEW 1980 zur SPD stieß. Berthold Huber, der einst maoistische Splittergruppen unterstützte, fand sogar erst 1991 den Weg in die SPD. Für das Führungspersonal der SPD, das in jenen Jahren anfing, sich zu engagieren war die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zwar noch selbstverständlich, jedoch erwuchsen daraus kaum eigene gewerkschaftspolitische Aktivitäten. Wir sehen dieses an den Lebensläufen von Edelgard Bulmahn, Peer Steinbrück oder Rainer Wend.

Genau in dieser Altersgruppe der heute 45-bis 60-jährigen fand vor allem das Schisma zwischen SPD und LINKE bei den Gewerkschaftern statt. Begünstigt hat es wohl eine mehrfache Oppositionserfahrung der Gewerkschaftsmitglieder dieses Alters. Als jungen Arbeitnehmern stand ihnen in der Partei der siebziger und achtziger Jahre jener Gruppe von Akademikern gegenüber, die sich in stunden- und nächtelanger Marxexegese den Kapitalismus zurechtinterpretierten, während sie selber frühmorgens arbeiten mussten (Walter 2002: 194f.). Den Impuls der Lehrlingsbewegung und der Studierenden nahmen sie gleichwohl auf und trugen ihn in die Gewerkschaften. Dort wurden sie von den Älteren ständig kritisch beäugt, als sie sich in den Kontroversen um die Bildungsarbeit und die gewerkschaftliche Strategie aufrieben. Als sie selber in den Gewerkschaften ein hinreichendes Standing besaßen, war die SPD im Bund in der Opposition. Dass der Regierungswechsel 1998 dann nicht zum Durchbruch all der Hoffnungen führte, die man darauf projiziert hatte, führte bei vielen zu jener ungemeinen Frustration, die sich 2005 im Bruch mit der Sozialdemokratie entlud.

Anders sieht es bei denjenigen aus, die mehr und mehr bei den Gewerkschaften in Funktionen drängen. Viele dieser um die 40 Jahre alten Sekretäre wurden sozialisiert durch die Umwelt-und Friedensbewegung, aber auch durch die friedliche Wende 1989 in Ostdeutschland. Ein gewisser Antiparteienreflex war ihnen dabei nicht fremd. Eine parteipolitische Bindung der Gewerkschaften geht dieser Generation grundsätzlich gegen den Strich, auch eine zur neuen Linken. Eine gemeinsame Identität von Gewerkschaften und Sozialdemokratie wird weder empfunden noch gelebt. Der enge Schulterschluss zur Bundestagswahl 1998 missfiel vielen der jüngeren Funktionäre, wurde allerdings akzeptiert. Die Schröder-Jahre bestärkten sie aber darin, die Gewerkschaften als eigenständige Kraft zu positionieren. Eigenständig bedeutet dabei eine prinzipielle Distanz zu allen Parteien.

Ihre sozialdemokratischen Altersgenossen sind gleichsam ohne nennenswerten gewerkschaftlichen Hintergrund politisch sozialisiert worden. Ein ‚Nur-Gewerkschaftertum‘ korrespondierte mit dem ‚Nur-Sozialdemokratentum.‘ In der Riege der jüngeren SPD-Mandatsträgern, geboren am Ende der sechziger oder in den siebziger Jahren ist die Gewerkschaftsmitgliedschaft zwar noch vereinzelt anzutreffen, aber keineswegs mehr integraler oder selbstverständlicher Bestandteil der Biografie. In den Kurzbiographien von SPD-Generalsekretär Hubertus Heil im Volkshandbuch des Deutschen Bundestags findet sich bezeichnenderweise noch nicht mal ein Hinweis auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft. Ein wenig rätselhaft ist es, warum die Historikerin Kerstin Griese Mitglied der IG Bergbau-Chemie-Energie und der gelernte Lehrer Sigmar Gabriel Mitglied der IG Metall ist. Anscheinend sind einiger jüngere Mitglieder der SPD mehr aus taktischen Gründen in der Gewerkschaft, weil man es halt von einem Abgeordneten erwartet, dass er in bestimmten Sport-, Schützen- oder Kaninchenzüchtervereinen im Wahlkreis Mitglied ist.

Es lässt sich also zeigen, dass in der mittleren Generation die Tendenzen zur Partei“Die Linke“ am stärksten sind, während die Älteren eine enge Bindungen sowohl zur Gewerkschaft wie zur SPD pflegen und die Jüngeren eher gleichgültig den Parteien gegenüber stehen. Eine vollständige Hinwendung der Gewerkschafter zur Linkspartei hat es also nicht gegeben, wohl aber eine Abwendung von der SPD als der zentralen parlamentarischen Vertretung von Arbeitnehmerinteressen.

Strate­gi­sche Fragen

Während der Weimarer Republik erschien von Karl Zwing ein „kurzgefaßte Abriß“ über die Geschichte der freien Gewerkschaften. Besonders betonte Zwing die Tatsache, dass die SPD das Gewerkschaftswesen unterschätzt habe und gerade die beharrlichen Reformbemühungen der Gewerkschaften der Arbeiterschaft mehr gebracht hätten als etwa Bebels Glauben an den Sozialismus (Zwing 1928: besonders 76f.). In Zwings Bilanz drückte sich der Kern des gewerkschaftlichen Handelns aus, die stetige und nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Daraus leiteten sich verschiedene Anforderungen an unterschiedliche Politikbereiche ab. Gleichzeitig erwuchs daraus eine Präferenz für einen reformerischen Weg. Das bedeutete, dass Gewerkschaften in den Blick nahmen, wie sie ihre Agenda politisch umsetzen konnten.

Bezogen auf die Sozialpolitik setzte dieses Verständnis voraus, dass es Gewerkschaften gelingt, sich mit den jeweiligen Mehrheiten in den Parlamenten zu arrangieren. Gegenwärtig kommt es nicht alleine auf die rechnerischen Mehrheiten im Bundestag an, sondern natürlich auch auf jene im Bundesrat und auf die Mehrheiten im Europäischen Parlament und im EU-Ministerrat. Dass die Verhältnisse im Bundesrat gegenwärtig keine Mehrheit ohne die Union möglich machen, ist bekannt. Der Auftritt der Linken bei Landtagswahlen erschwert eine Verschiebung der Mehrheiten in der Länderkammer, so lange die Linke entweder knapp unter der 5-Prozent-Hürde bleibt oder eine Kooperation mit der SPD auf Landesebene unwahrscheinlich bis ausgeschlossen bleibt. Doch dieses Problem ist lösbar, währenddessen die europäische Ebene weitaus größere Probleme aufwirft. Auf ihrem Kerngebiet, der Tarifpolitik, sind die Versuche, innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zu einer grenzüberschreitenden Koordination zu gelangen, bislang wenig erfolgreich (so das deutliche Urteil bei Gollbach 2005). Nationale Interessen der Gewerkschaften überlagern ein gemeinsames Vorgehen auf europäischer Ebene, während der Sozialpartner, die Arbeitgeber, unter den Bedingungen des Binnenmarktes dasjenige soziale Regulationsmodell auswählen kann, das seinen jeweiligen Bedürfnissen am besten entgegenkommt. Er kann ansonsten wirksam mit einer Verlagerung von Produktion und Dienstleistungen in einen anderen Nationalstaat drohen (Pierson/Leibfried 1998: 409f.). Dies hat Rückwirkungen auf die Politik der Mitgliedsstaaten, etwa darauf, wie sich die Unternehmensbesteuerung in den letzten zehn Jahren entwickelt hat. Diese befindet sich in einem fortlaufenden Steuersenkungswettlauf, der weit reichende Folgen für die Handlungsfähigkeit der Staaten hat (Randzio-Plath 2006: 466), zumal eine expansive Finanzpolitik vor dem Hintergrund der Stabilitätskriterien der Währungsunion ausgeschlossen ist.

Wegen der Verwirklichung des Binnenmarktes und der Währungsunion müssen Gewerkschaften Wege finden, wie sie wirksam europäische Standards durchsetzen können. In Ermangelung einer europaweit kohärenten Politik der Gewerkschaften dürfte der Weg dazu nur über die Kommission selber, den Ministerrat oder das Parlament gehen. Deppe (Deppe 2005: 91) sieht deswegen gar die Ziele zukünftiger gewerkschaftlicher Strategien in einer zielgerichteten Beeinflussung der nationalen Regierungen. Daran gemessen scheint die gegenwärtige Strategie, über die Linkspartei Einfluss zu erwirken, für Deutschland wenig fruchtbar zu sein. Um in den Ministerrat hineinzuwirken, bedarf es aber administrativer Macht, d. h. der Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung. Diese wird aber gegenwärtig von Seiten der „Linken“ abgelehnt. Selbst wenn sich „die Linke“ beteiligen würde, wäre fraglich, ob dieses der Mehrzahl der Gewerkschafter zusagt. Schließlich gibt es neuerdings Anzeichen dafür, dass sich Politiker der Linken von den Einheitsgewerkschaften ab- und kleinen berufsständischen Organisationen zuwenden, so wie während des Lokführerstreiks der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Neskovic im Interview mit dem ZDF.

Dass es zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Positionen mehr bedarf als einer möglichst hohen Kohärenz zwischen Linksparteien und Gewerkschaften, zeigt sich beim Europäischen Parlament, wo eine gewerkschaftsfreundliche Stimmenkoalition vor allem auf der Kooperation von Sozialdemokraten, den Liberalen und dem Arbeitnehmerflügel der Volkspartei aufbaut. Zudem führte der verringerte Einfluss auf Sozial- und Christdemokraten zuletzt dazu, dass die essentiellen Kontakte der Gewerkschaften in die Sozialministerien abgerissen sind (Trampusch 2006: 348).

Die Gewerkschaften kommen kurz- bis mittelfristig nicht umhin, sich mit den Sozialdemokraten zu arrangieren und parallel dazu Kontakte zu den Christdemokraten auszubauen. Bei den Mehrheiten im Bundesrat und den Mehrheiten in den Europäischen Institutionen ist es gegenwärtig ohne Belang, wie sich „die Linke“ verhält. Im Bundesrat wirkt sie lediglich über die rot-rote Koalition in Berlin und in den Ministerräten ist sie allenfalls durch ihrer italienischen Schwesterpartei vertreten.

Eine enge Bindung der Gewerkschaften an „Die Linke“ kann nur dann aus gewerkschaftlicher Sicht sinnvoll sein, wenn daraus tatsächlicher Einfluss erwüchse. Doch dies setzt zumindest die prinzipielle Bereitschaft der Linkspartei zur Übernahme von Regierungsverantwortung voraus.

Inhaltliche Probleme

Wenn „die Linke“ als Partei der Gewerkschaften auftreten will, so wird sie also konkret vor die Frage gestellt werden, wie sie regieren will. Dieses setzt eine Klärung ihrer programmatischen Widersprüche voraus. Ihr gegenwärtiger Forderungskatalog nimmt alle Wünsche und Hoffnungen auf den Sozialstaat auf, ohne zu eindeutigen Gewichtungen zu gelangen. Dass darüber kein Konsens besteht, dürfte einer der Gründe sein, warum die Partei bei ihrer Gründung kein Grundsatzprogramm beschloss. In dem müsste nämlich insbesondere die Frage geklärt werden, ob der Sicherung von Statuslagen oder der Vermeidung von Armut höhere Relevanz beigemessen wird. Beide Ziele stehen nämlich in einem Widerspruch zueinander. Besonders deutlich wird dies bei der Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Solchen leistungslosen Einkommen standen Gewerkschaften und Sozialdemokraten immer skeptisch gegenüber, seit Karl Marx‘ Schwiegersohn Paul Lafargue das erste Mal das „Recht auf Faulheit“ reklamiert hat. Katja Kipping als stellvertretende Vorsitzende der Partei „Die Linke“ unterstützt gegenwärtig das Konzept der bedingungslosen Grundsicherung. Hingegen hat das gewerkschaftsnahe WSI deutlich gemacht, dass dieses zu einer Nivellierung der Lebensverhältnisse aller Menschen auf Sozialhilfeniveau führen würde und sich die Ungleichheiten zwischen Kapital und Arbeit vergrößern würden (Schäfer 2007). Die definitiv nicht im Verdacht des Neoliberalismus stehende Memorandum-Arbeitsgruppe überzog dieses Instrument mit einer beißenden Kritik und formulierte Zweifel an der Finanzier- und Realisierbarkeit (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2006: 261ff.). Wer an der Hartz-Gesetzgebung ungerecht findet, dass Arbeitslose nach Jahrzehnten der Beitragszahlung in die Arbeitslosenversicherung nur ein Jahr gesichert sind und dann auf Hartz IV-Niveau fallen, der kann unmöglich ein solches Konzept gutheißen. Deswegen tritt die Mehrheit der Partei auch nicht hierfür ein, sondern favorisiert eine bedarfsorientierte Grundsicherung. So lange aber diese Konzepte nebeneinander stehen, wird es der Linken nicht gelingen, regierungsfähig zu werden. Sie müsste grundlegende Richtungsentscheidungen treffen und würde immer einen beachtlichen Teil ihrer Anhängerschaft brüskieren.

Einer Regierungsbeteiligung steht gegenwärtig ohnehin nicht zur Debatte. Aus Sicht der SPD steht die Person Lafontaine jeder Kooperation entgegen, für einen Teil von ihr ist dies zudem wegen der SED-Vergangenheit der Linken ausgeschlossen. Bei der missglückten Wahl von Lothar Bisky zum Vizepräsidenten des Bundestags mag dies eine Rolle gespielt haben.

Die Linke kann jedoch nur über die SPD jemals an einer Regierungskoalition beteiligt werden und nur mit einer Regierung lässt sich die Politik verändern. Hierfür müsste die Linke mehr bieten als die bloße Kritik der Verhältnisse und das rhetorische Überbieten der Sozialdemokratie.

Fazit

Gewerkschaften und Sozialdemokratie band lange Zeit mehr aneinander als „nur“ die gemeinsamen Wurzeln. Bis in die siebziger/achtziger Jahre hinein war trotz programmatischer Differenzen eine hohe personelle wechselseitige Durchdringung typisch. In den siebziger Jahren erodierte die Selbstverständlichkeit, mit der Gewerkschafter sich der SPD anschlossen. Die programmatischen Differenzen und die unterschiedlichen Ausbildungswege haben verschiedene Sozialisationsmuster hervorgebracht, die erkennbar Spuren hinterlassen haben. Gewerkschaften und Sozialdemokraten koexistieren eher nebeneinander. Die nachrückenden Gewerkschafter waren erst distanziert gegenüber den Parteien und sind mittlerweile ihnen entfremdet. Dies gilt nicht nur für die SPD, sondern für alle Parteien. Umgekehrt lockerten Sozialdemokraten ihre Anbindung an die Gewerkschaften. Der Verzicht auf gegenseitige Durchdringung hat die Auseinandersetzungen zwischen beiden Stützen der Arbeiterbewegung verschärft. Nachdem die SPD die Agenda 2010 zu ihrer Politik erklärt hat und die Linkspartei erstarkt ist, fällt es beiden Seiten sichtlich schwer, zu beschreiben, wohin sich das frühere Bündnis weiter entwickeln soll. Es fehlen die Botschafter und Vermittler zwischen beiden Seiten, klimatische Verstimmungen bei Zusammentreffen von SPD und Gewerkschaften sind auch künftig zu erwarten.

Die Gewerkschaften koppeln sich, wenn sie sich einseitig auf die Linke orientieren, längerfristig von möglichen Regierungsmehrheiten ab. Sie entwickeln ein distanziert – funktionalistisches Verhältnis zum Regierungssystem insgesamt. In gleichem Maße schotten sich die Parlamente und mehr noch die Regierungen in Bund und Ländern gegen den Einfluss von gewerkschaftlichen Interessenverbänden ab. Es scheint einen wechselseitigen Mechanismus der Interessenentflechtung zwischen Parlament und Regierung einerseits und Gewerkschaften andererseits zu geben. Waren die Gewerkschaften in den korporativen Strukturen der bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik lange Zeit privilegierte Interessenvertretungen, so gilt es nun fast schon als schick, einen potenziellen „Veto-Spieler“ auszuschalten, zu ignorieren oder bewusst zu brüskieren.

Dieses betrifft nicht nur die Bundesebene. Auf Landes- und auf kommunaler Ebene liegt es im Trend, als sozialdemokratischer Funktionsträger darauf hinzuweisen, dass man keiner Gewerkschaft angehört und deswegen unabhängig von deren Interessenlagen das Gemeinwohl beurteilen könne. Indem sie die Gewerkschaften als einen Verband unter anderen betrachtet, offenbart ein Teil der mittleren Funktionärsschicht der SPD ein geradezu bürgerliches Demokratieverständnis. Anscheinend ist dies einer der Konsequenzen einer Politik, mit der die SPD bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002 ins bürgerliche Lager vordringen konnte. Die politischen Eliten in der SPD sprechen eine andere Sprache als jene klassischen Wählergruppen der Partei. Das hat aber zur Folge, dass lange vorhandene Bruchlinien zwischen SPD und Gewerkschaften vertieft werden.

Auf gewerkschaftlicher Seite ist „die Linke“ keineswegs diejenige Partei, der die Mitglieder der Gewerkschaften zuneigen. Es ist eine bestimmte Funktionärsschicht aus den Gewerkschaften, vor allem die 45-bis 60-jährigen, die in der Linken eine Repräsentanz der Gewerkschaften sieht. Die Älteren halten aus Gründen der Organisationsloyalität zur SPD an der gemeinsamen Identität fest, den jüngeren wiederum ist es reichlich egal, mit welchen Parteien man sich arrangieren muss. Für die SPD bedeutet das in jedem Falle, dass ihnen eine zentrale gesellschaftliche Stütze nachhaltig verloren gegangen ist, wohingegen den Gewerkschaften ein adäquater Ansprechpartner im Regierungssystem fehlt. „Die Linke“ jedenfalls ist als regierungsunwillige Partei dazu ungeeignet.

Die Zukunft gewerkschaftlicher Einflusspolitik wird in der Europäischen Union zu suchen sein. Den Gewerkschaften muss es gelingen, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen, wozu Gewerkschaften in der Lage sind. Dazu bedarf es gemeinsamer europäischer Aktionen, die zivilgesellschaftlichen Druck aufbauen, dem sich weder die Abgeordneten im Europäischen Parlament noch die nationalen Regierungen entziehen können. Wichtigster Partner in den europäischen Gremien sind dabei die Sozialdemokraten, aber auch Teile der Liberalen, der Grünen und der Christdemokraten. Daraus folgt für die Gewerkschaften eine nicht unproblematische Situation, da die ihnen prinzipiell zugeneigten Kräften in den Mitgliedstaaten ihren dortigen Reformkurs immer mit europäischen Bedürfnissen der Gewerkschaften legitimieren könnten, was wiederum den jeweiligen nationalen Interessen der Gewerkschaften zuwiderlaufen kann. Es sei denn die europäische Ebene bildet den Ausgangspunkt, um den gewerkschaftlichen Einfluss in die nationalen Parteiensysteme wiederzubeleben. Das Ergebnis dürfte davon abhängen, inwieweit es den Gewerkschaften selbst gelingt, sich auf eine gemeinsame europäische Politik zu verständigen.

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