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Sozial­wis­sen­schaftler als Exegeten

Über den unzulässigen Versuch, das wahre Wesen des Islam aus seinen Schriften zu filtern,

aus: vorgänge Nr. 181, Heft 1/2008, S. 99-108

Wenn die Sozialwissenschaft religiöse Phänomene betrachtet, dann tut sie dies aus einer diskursiven Außenposition heraus. Knoblauch nannte es „methodologischen Agnostizismus“ (1999: 14f.) und meinte damit, nicht die Wahrheitsansprüche der betrachteten Religionsgemeinschaft zum Ausgangspunkt der eigenen Betrachtung zu machen, auch dann nicht, wenn man sie teilen sollte. Das wird in der Religionssoziologie zwar umfassend beherzigt. Die diskursive Außenposition hat jedoch eine weitere, vielleicht verstecktere Komponente, bei der Knoblauchs Vorgabe nicht durchgängig eingehalten wird. Das Betrachten einer religiösen Gruppe verschiebt sich nicht selten, in Arbeiten über sie, hin zu einem Betrachten der religiösen Schriften und einem eigenen Interpretationsversuch dieser Schriften. Die Rolle des Sozialwissenschaftlers ist jedoch die des Interpreten der Gruppe; hingegen ist es die Rolle des gläubigen Mitglieds der Gruppe, Interpret der religiösen Tradition zu sein, die er durch diesen Interpretationsversuch bereits als legitimatorischen Anker affirmiert. Die diskursive Außenposition bedeutet daher auch, dass eine Aussage bezüglich des „wahren“ Inhalts einer aus dieser Außenposition betrachteten Religion, ihrer Texte und Traditionen, nicht Aufgabe des Sozialwissenschaftlers sein kann. Sozialwissenschaft interpretiert soziales Handeln, in Fällen von religiösem Handeln häufig soziales Handeln in Berufung auf solche Texte, aber nicht religiöse Texte selbst. Eigene Interpretationen der Schriften, auf die beobachtete Gruppen sich berufen, usurpieren eine Innenposition, die der Sozialwissenschaftler nicht einnehmen sollte.

Besonders in Betrachtungen des so genannten „Fundamentalismus“ wird diese zweite Begrenzung häufig überschritten. Oft finden sich im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung verschiedener Fundamentalismen Feststellungen, was die „eigentlichen, wahren Inhalte“ dieser mit Fundamentalismus geschlagenen Religionsgemeinschaften seien, Inhalte, die gegen die fundamentalistischen Interpretationen als „richtige“ Deutungen ins Feld geführt werden. Auch wenn der methodologische Agnostiker den Glauben an diese ‚wahren’ Inhalte nicht teilt, glaubt er doch, sie zumindest feststellen zu können und begibt sich damit letztlich in die Position des Exegeten, die dem religiös Gläubigen vorbehalten sein sollte. Der Sozialwissenschaftler affirmiert so die Autorität des religiösen Textes als Text, nicht als Bezugspunkt einer Gruppe, die für sich aus diesem Bezugspunkt etwas macht, irgendetwas macht. Besonders in Betrachtungen des Fundamentalismus im Islam ist diese Hinwendung zum Text häufig anzutreffen. Dadurch tritt jedoch die religiöse Gruppe, die sich auf diese Texte bezieht, in den Hintergrund – während genau diese Fokus sozialwissenschaftlicher Betrachtung sein sollte.

Betrachtungen dieser Art gehen von einem Formalismus aus, nach dem die ‚wahren’ Inhalte einer religiösen Tradition an den Inhalten ihrer Schriften für jeden, auch jeden Außenstehenden, deutlich seien. Eine Sicht, die diesen Formalismus hinter sich lässt und stattdessen von gemeinschaftlich verankerten Lesungen spricht, wird dagegen die Bedeutung des Interpreten betonen.

„Der Islam ist“

Gerade im Fall des Islam wird häufig argumentiert, dessen „fundamentalistische“ Ausleger verkennen den „wahren“ Islam. So beginnt eine kleine Arbeit eines jungen Sozialwissenschaftlers über islamischen Fundamentalismus mit den Worten: „Als Lehre des Friedens lehnt [der Islam] jede Form der Gewalt, Zwang und Terror strikt ab“ (Karakaya 2004: 7). Dieser kleine Satz ist nicht lediglich Exegese, die ein unzerstörbares Wesen des Islam postuliert; er beinhaltet zudem die undurchdachte und fraglose Selbstverständlichkeit eines sehr spezifischen Friedensbegriffes, die dem Islam zugeschrieben wird, ohne dass die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, dass „Frieden“ auch durchaus anders interpretiert werden kann und wird. Indem „der Islam“ Zwang und Gewalt ablehnt, wird jedem, der im Namen „des Islam“ einen solchen Gewaltakt begeht, implizit die Zugehörigkeit zum Islam, jedenfalls zu diesem „wahren“ Islam, abgesprochen. Das ist als innerreligiöse Zuschreibung, als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen muslimischen Gruppen über die Füllung des Begriffes „Islam“ völlig legitim. In einem Werk der Sozialwissenschaft wird die Mehrheit der Leser jedoch bemerken, hier in eine religiöse Auseinandersetzung gezogen worden zu sein.

Dieses Hineinziehen ist verbreitet. Der evangelische Theologe Peter Steinacker definiert das Töten von Muslimen durch Muslime bei den Anschlägen des 11. September als „gerade für Muslime schlimmes Verbrechen“ (2002: 15), also als Verstoß gegen muslimische Normen, wie er sie feststellt und wie er die Tatbestandslage subsumiert. Er stellt daher stellvertretend für Muslime die Grundregeln ihrer Religion dar, gegen die einige Muslime seiner Ansicht nach ‚offenkundig’ verstoßen. Wieder ist der Außenstehende subjektiv in der Lage, die Wahrheit des Islam zu erkennen, während er jenen, die sich selbst als Muslime identifizieren, diese Erkenntnis abspricht. In dieselbe Kerbe schlägt Bernhard Lewis, der über die Aussagen und Handlungen Osama bin Ladens schreibt, sie „stehen in direktem Widerspruch zu elementaren islamischen Grundregeln und Lehren“ (2003: 150) und stellten innerhalb des Islam „Irrwege“ dar (151); eine genaue Begutachtung „des Islam“ käme zum Schluss, „lässt sich [die Praxis des Selbstmordattentats] auf irgendeine Weise mit der Lehre des Islam rechtfertigen? Die Antwort lautet eindeutig: Nein“ (165). Wieder ‚weiß’ der sozialwissenschaftliche Beobachter, welche Islaminterpretation die formalistisch ‚richtige’ darstellt und kann so eine Fehlinterpretation von Seiten der Fundamentalisten ‚wissenschaftlich’ als solche entlarven. Arnold Hottinger schreibt als Entgegnung auf die Praxis radikaler Islamisten, muslimische Herrscher im mittleren Osten als „Heiden“ zu bezeichnen, „der traditionelle Islam hat auch eine Lehre entwickelt, nach der es keinem Muslim zusteht, einen anderen Muslim als Ungläubigen abzuurteilen und auszustoßen“, wodurch diese Praxis klar als Verstoß gegen islamische Lehren portraitiert wird (1993: 35). Interessanterweise macht er durch seine Stellungnahmen vielleicht dasselbe, was er gerade als verboten identifizierte.

Der große Vertreter islamischer Exegese im Rahmen einer das Phänomen eigentlich von außen betrachtenden Sozialwissenschaft ist jedoch Bassam Tibi, der nicht müde wird, all seinen Zuhörern autoritative Aussagen über das Wesen und die Wahrheit „des Islam“ anzubieten. Tibi trennt bekanntlich Islam und Islamismus scharf, um festzustellen, dass Islamismus eine Fehldeutung des Islam sei: „Es trifft zu, dass die Islamisten den Islam falsch deuten“ (2002: 99) und fordert, dass „Aufklärung“ betrieben werden müsse, „dass Fundamentalismus eine falsche Interpretation des Islam ist“ (108). Die „wahre Religion“ vertrete dieser Islamismus nicht: „Im fundamentalistisch geprägten Denken im Islam sind nur die äußerlichen Symbole religiös“ (2000: 10). Tibi betrachtet vor allem die Vermengung von Politik und Religion, für ihn eines der Kernelemente des Islamismus, sowie das immer wieder diagnostizierte Streben nach der Hakimiyyat Allah (Herrschaft Allahs) als islamistische Vision eines totalitären Gottesstaates, als Schumuliyya (Totalität des Islam). Diese erstere Vermengung, schreibt er, ließe sich „weder im Koran noch in den autoritativen klassischen islamischen Quellen finden“ (2000: 9, wieder auf 81), sei somit formalistisch keine gültige Begrenzung; auch die beiden Formeln der totalitären Gottesherrschaft „lassen sich in irgendeiner der autoritativen islamischen Quellen finden“ (2000: 11). Die Begriffe, die sich dagegen finden lassen – Djihad, Schari’a – „dienen als alte Schläuche, in die der neue Wein – der islamische Totalitarismus – gefüllt wird“ (2000: 11) (übrigens eine böse Metapher, da sie den Islamismus mit Alkohol gleichsetzt), würden also gegenüber ihrer formalistischen, im Koran klar nachzulesenden Wahrheit fehlverwendet. Auch das von Steinacker bereits vorgebrachte Argument des Verstoßes gegen das Tötungsverbot anderer Muslime greift Tibi auf, wenn er schreibt, „[i]n Algerien, Ägypten, Pakistan, Afghanistan und in der Türkei ermorden Fundamentalisten andere Muslime, obwohl der Koran einen solchen Mord streng verbietet“, und „im Islam gibt es keine höhere Autorität als die des offenbarten Koran-Textes. Dennoch verletzen islamische Fundamentalisten, so sehr sie sich auch Allahs Kämpfer bezeichnen, diese koranische Vorschrift dadurch, dass sie ihre muslimischen Gegner ermorden“ (2000: 24).

So wird also davon ausgegangen, dass der Koran nicht nur eine klare Handlungsweise vorgibt bzw. in diesem Fall verbietet, sondern auch, dass Tibi diese Vorgaben richtig zu erkennen in der Lage ist, die Islamisten, Fundamentalisten etc. dagegen nicht. Damit würden, so Tibi, die Texte des Koran und anderer „autoritativer Quellen“ lediglich „instrumentalisiert“ (82), wohl mit wahrer und ehrlicher Überzeugung, wie er immer wieder betont, aber eben dennoch falsch und mit einem „außer-schriftlichen“, „außer-koranischen“, „außer-islamischen“ Ziel. Seine formalistische Exegese hat für Tibi bezeichnenderweise den Rang einer „islamkundlichen Klarstellung“ (82), der Darstellung der Wahrheit über den Islam gegenüber der von Fundamentalisten verbreiteten Lüge. Nun ist Tibi selbstverständlich gläubiger Muslim und als solcher sollte er eine Meinung darüber haben, was das heilige Buch der Tradition, mit der er sich identifiziert, wirklich meint. Diese religiöse Überzeugung, diesen Glauben als Sozialwissenschaft darzustellen ist jedoch auch in seinem Fall problematisch.

Ein Sozialwissenschaftler als Exeget sieht sich so in der Position, eine falsche Interpretation einer religiösen Tradition durch bestimmte ihrer Anhänger erkennen und entlarven zu können. In den präsentierten Beispielen zu „dem Islam“ handelt es sich um Versuche, Beispiele, an denen in der Tradition des Islam oder in seinen heiligen Texten „wissenschaftlich“ belegt werden soll, dass der Islam an sich etwas ist und etwas anderes nicht ist. Jene, die von diesem wahren Wesen des Islam abweichen, weil sie die offensichtliche Wahrheit in den Texten nicht erkennen, verraten so dessen Botschaft und wahres Sein. All diese sozialwissenschaftlichen Stellungnahmen gehen davon aus, dass der Sozialwissenschaftler, mit dem Text bewaffnet, von außen eine Feststellung machen kann bezüglich der Einhaltung religiöser Gesetze seitens derer, die in dieser religiösen Tradition stehen. Eine solche Herangehensweise birgt zwei Probleme. Zum einen handelt es sich um ein offensichtliches Beispiel von Formalismus, dem Glauben, dass die Bedeutung eines Textes eine Eigenschaft seiner Sprache sei. Ein zweites, und vielleicht praktisch schwerwiegenderes Problem stellt die Nonchalance dar, mit der Außenstehende über „wahre“ Inhalte religiöser Traditionen reden, denen sie nicht angehören, eine Nonchalance, die völlig verkennt, dass Glaubwürdigkeit der Interpretation eine Funktion der zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist. Deren Mitglieder können Interpretationen anbieten, die aufgrund dieser zugeschriebenen Zugehörigkeit erst ernst genommen werden.

Die Wahrheit über den Text

Der Versuch, den eigentlichen Inhalt eines Textes (heilig oder nicht) zu bestimmen, geht von der Annahme aus, ein Text hätte eine intrinsische, eigentliche Bedeutung als Sammlung von Zeichen jenseits seiner sozialen Einbettung. Es ist der Glaube daran, dass Zeichen Referenten haben, auf die sie fest verweisen. In dieser Sicht muss nur der Text richtig verstanden werden, um festzustellen, was er in einem statischen Sinne ist. Literaturtheoretisch ist diese Annahme als Formalismus bekannt. Sie wurde häufig und nachhaltig in Frage gestellt, unter anderen durch den Literaturwissenschaftler Stanley Fish.

Ein Text, so die These des Anti-Formalisten Fish, besitzt keine „objektive Wahrheit“, die ihm nur entlockt werden muss. Der Text erlangt erst im Prozess des Lesens durch einen in einer Interpretationsgemeinschaft stehenden Leser eine Bedeutung (vgl. Fish 1980). Er ist eine offene Hülle, die erst durch Interpretation gefüllt wird, wobei bei der Verwendung zuvor gefüllter Worte und Konstruktionen bestimmte Richtungen der Interpretation wahrscheinlicher sind als andere. Diese Wahrscheinlichkeit ist ebenso keine Folge des Textes selbst, sondern vorherig etablierter Lesungen in bestimmten Lesegemeinschaften, die jedoch auch immer wieder geändert werden können. Der Text ist „not discovered by the analytical method but produced by it” (13), und „meanings are not extracted but made, and made not by encoded forms but by interpretive strategies that call forms into being” (172f.). Es handelt sich so bei dieser Richtungsgebung um soziale Füllungen des Textes, die immer mit der Situation, in der die Worte aufkommen und der Gruppe, die ihn liest, verwoben bleiben. Kein Element, keine Kompatibilität, keine Konvergenz ist hier formalistisch auszuschließen oder formalistisch vorauszusetzen. Die Betrachtung eines Lesens muss daher feststellen, wie immer offene Quellen in einer Gemeinschaft situativ verwendet werden, um lokal verfestigte Bedeutungen identifizieren zu können. Der Bezug zum Text legitimiert diese Lesung danach, ist jedoch nicht formal Ursprung derselben. Die Autorität wird dem Text zugeschrieben, liegt aber in der interpretierenden Gruppe; der Text dagegen hat nur aufgrund seiner Offenheit die Möglichkeit, als Anker zugeschriebener Autorität zu dienen (Fish 1994).

Wenn nun die Bedeutung keine Eigenschaft des Textes ist, sondern eine Eigenschaft seiner Verwendung als Legitimationsanker für in einer sozialen Gruppe aufgekommene Lesungen des Textes, in denen gerade die Person des Lesers eine wesentliche Rolle spielt, macht das die formalistischen Exegesen religiöser Schriften von Seiten von Sozialwissenschaftlern nicht nur unproduktiv, sondern vielleicht gar kontraproduktiv. Sie glauben nicht nur, der Text bedeute formalistisch etwas, was sie gegen die Teilnehmer an der religiösen Tradition feststellen können und verlassen damit die diskursive Außenposition, die sie als Sozialwissenschaftler aufrechterhalten sollten. Sie vollziehen ihre Exegese zudem aus einer Position des nicht zur Exegese Berechtigten heraus und entfremden sich somit beiden Gruppen.

Sein und Nichtsein

Bereits der Vorwurf, Gegner würden offensichtliche Wahrheiten in den Texten nicht erkennen, ist das unverkennbare Merkmal der Formalisten. Sie geben vor, zu wissen, was der Islam „wirklich“ ist und machen diese Eigenerkenntnis zur Grundlage von formalinnerweltlichen „Begrenzungen“ dieser Religion. Tibi und seine Mitstreiter gehen davon aus, dass der Text des Korans einen bestimmten und bestimmbaren Inhalt habe, und dass er – und damit andere – diesen Inhalt klar sehen könne; dass dieser Inhalt in der Sprache des Koran verankert liege, die als abstraktes System bereits vorliege und nur richtig gelesen werden müsse; dass diese abstrakte Deutung die Basis für eine allgemeine Diskussion über „den Islam“ sein solle und dass dieses die möglichen Bedeutungen des Textes begrenze, nämlich so begrenze, dass gewisse Interpretationen – nämlich die der „Islamisten“ – nicht möglich seien, und wenn sie doch gemacht werden, eben unrichtig seien, da sie diese gesetzten Begrenzungen überschritten. Aus dieser Position heraus erklären sie dann diejenigen, die ihre Eigeninterpretation nicht teilen, entweder zu interessierten „Textverdrehern“ oder zu „Leseunfähigen“.

Auch Stellungnahmen zu Unterschieden im Islam bleiben häufig formalistisch. Mehdi Mozaffari schreibt, aufgrund der verschiedenen Teile des Koran – der Teil der „Mekka-Periode” sei größtenteils friedlich, der der „Medina-Periode“ größtenteils kriegerisch – „it is practically impossible to identify the ‘real message’ of Islam“ (2007: 22). Wieder wird der Grund für die Interpretationsoffenheit des Koran jedoch in einer so gesehenen inneren „Widersprüchlichkeit“ des Textes selbst gesehen, der prinzipiell eindeutig sein könnte, jedoch versäumt, es zu sein (ein Vorwurf, der allen heiligen Schriften gemacht wird). Der Hinweis auf eine „Widersprüchlichkeit“ des Textes ist jedoch ein weiteres klassisches Merkmal des Formalisten. Es ist gerade der Glaube an eine wahre Bedeutung des Textes, der eine innere Widersprüchlichkeit feststellen kann; der Formalismus wird durch diese Feststellung der Interpretationsoffenheit in keiner Weise geschmälert. Ein Text, der keine formalistische Bedeutung hat, kann auch nicht „in sich“ widersprüchlich sein, sondern höchstens so interpretiert werden.

Dabei ist jede Aussage über ein wahres, formalistisches Wesen dieses Islam oder verschiedener, widerstreitender Teile des Koran wie auch aller anderen Schriften, Traditionen, Gemeinschaften und Gruppen fragwürdig. Deshalb wurde Tibi, weil er Aussagen über „den Islam“ traf, bereits selbst Orientalismus vorgeworfen; Laila Abdallah nannte ihn „orientalisierten Orientalen“ (1998: 98). Dabei finden sich in Tibis Arbeit häufig Ansätze der Erkenntnis, dass es „den Islam“ holistisch nicht gibt. Tibi zieht aus dieser Erkenntnis jedoch nicht die Konsequenz, dass auch er selbst keine holistischen Aussagen über „den Islam“ und seine wahren Inhalte treffen sollte, jedenfalls nicht solange er sozialwissenschaftliche Deutungen anbietet.

Die Unmöglichkeit, die „wahre Botschaft“ irgendeines Textes zu bestimmen, liegt nicht in inneren Widersprüchen dieses Textes. Jeder Text ist offen; einen „widerspruchsfreien“, klaren und eindeutigen Text kann es nicht geben, und ein Text ist immer erst das, als was er situativ in einem bestimmten diskursiven Umfeld gelesen wird. Der Islamhistoriker Albert Hourani trifft die Problematik besser: „There was not one idea of Islam only, but a whole spectrum of them. The word ‘Islam’ did not have a single, simple meaning, but was what Muslims made of it” (1991: 457; meine Hervorhebung). Es gibt viele Islame, weil es viele Interpretationsgemeinschaften gibt, die sich auf den Titel berufen. Es gibt verschiedene Beschreibungen, die dasselbe Vokabular zu füllen versuchen, dieselben heiligen Texte als die ihren ansehen, die also den Koran, die Hadithen etc. als Teil der eigenen Tradition anerkennen. Die verschiedenen Islame sind verschiedene rhetorische Belegungen desselben Vokabulars, verschiedene Füllungen dessen, was Richard Rorty „abschließende Vokabulare“ genannt hatte (1989).

Dass es unterschiedliche Deutungen des Islam gibt, stellt auch Tibi fest; es ist schlechterdings selbstverständlich. Dass es unterschiedliche Deutungen der Shari’a gibt, ist dies ebenso; diese grenzt Tibi von „Gesetzbüchern“ wie dem Bürgerlichen Gesetzbuch ab, um den fehlenden Formalismus der Shari’a so zu untermauern. „Die Shari’a ist kein Gesetzbuch, sie ist interpretativ“ (2000: 78). Ihr spricht er die formalistische Bedeutung ab; hier vermengt sich ein Zugeständnis des fehlenden Formalismus „islamischer“ Regeln mit einem Bekenntnis zum Formalismus, den er „dem Gesetzbuch“ restlos zugesteht. Man könnte hier feststellen, er invalidiere dadurch seine Argumentation, denn wenn es formalistische Regelwerke gibt, dann wäre das „göttliche Gesetz“ für Gläubige selbstverständlich der erste Kandidat. Gerade das jedoch verneint Tibi, der liberale Gläubige, wenn er erklären möchte, „daß demokratische Verfassungen durch Menschen aufgestellt werden, Hudud [die in islamischen Ländern zunehmend zu beobachtende Strafrechtspraxis, M. D.] dagegen Verstöße gegen die Rechte Gottes als einzigem Souverän darstellen“. Was Tibi hier tatsächlich offenbart, ist kein interner Widerspruch seines Arguments, sondern seine Loyalität zur liberalen, rechtsstaatlichen Grundordnung. Diese ist erfreulich; sie ist aber gleichzeitig Ursache der Wirkungslosigkeit seiner Koraninterpretationen in fundamentalistischen Kreisen.

Jeder Versuch, im Textbezug eine dieser Orientierungen als „richtige” Interpretation des Islam – oder einer sonstigen religiösen Tradition – zu zeichnen, ist innerhalb des religiösen Diskurses ein völlig legitimes Vorhaben. Es ist so jedoch das Vorhaben eines religiösen Exegeten, nicht das eines Sozialwissenschaftlers, der diese Interpretationen und ihre Auswirkungen auf gesellschaftliche Prozesse aufzeichnen und analysieren kann, dessen Rolle es aber nicht sein kann, diese skriptual zu unterstützen oder zu widerlegen und so selbst diese religiösen Texte legitimatorisch zu nutzen. In dem Moment, in dem er dies tut, begibt er sich in den religiösen Diskurs und verstößt gegen den zweiten Teil des methodologischen Agnostizismus, der als Nichtinterventionsgebot formuliert werden könnte: Du sollst nicht in die Interpretation der Heiligen Schrift(en) anderer eingreifen, und in deiner Rolle als Sozialwissenschaftler auch nicht in die deiner eigenen Heiligen Schrift. Dies ist zudem keine rein akademische Begrenzung, sie hat durchaus praktische Vorteile; zumindest vermeidet sie deutliche Probleme, die auf Grund dieses Eingreifens auftauchen.

Die Bedeutung des Redners

Eine Behauptung, der Text bedeute eines und nicht etwas anderes, hat nur Gewicht, wenn sie legitimatorisch untermauert ist. Ein formalistischer Sozialwissenschaftler liefert Wahrheitsaussagen über religiöse Texte, weil er glaubt, dass diese Bedeutung bereits im Text vorhanden war und nur erkannt werden muss. Er glaubt so, dass der Text selbst ihn legitimiert und wird erwarten, dass diese Wahrheitsaussagen den Empfänger „bilden“, belehren.1 Texte sind jedoch nicht formal; sie legitimieren nichts von sich heraus. Erst ihre Auslegungen legitimieren, wenn sie anerkannt werden. Ob diese Anerkennung erfolgt, hängt ab von der Stellung, der Autorität desjenigen, der diese Auslegung macht. Eine „Aufklärung“ über die „wahre Bedeutung“ eines Textes durch einen Interpreten, dem keine Autorität zugeschrieben wird, ist nicht nur zum Scheitern verurteilt; diese Deutung mag gerade dadurch, dass sie von einem als außenstehend markierten Interpreten geliefert wird, weniger Zuspruch in der ihn ausschließenden Gruppe finden. So wird die Exegese des Sozialwissenschaftlers nicht nur problematisch, weil formalistisch, sondern gefährlich, weil entfremdend. Er läuft nicht nur Gefahr, die diskursinternen Teilnehmer nicht von seiner autoritativen Interpretation zu überzeugen, er wird von seinem extremistischen Gegenüber zudem als „Ungläubiger“ klassifiziert. So wird er seine Adressaten eher von der Annahme seiner Interpretation abbringen.

Diese Praxis der legitimatorischen Belegung ist bei Tibi erkennbar, nämlich in seiner Behandlung des von ihm als klaren Verstoß gegen das göttliche Gesetz gesehen Mordes an Muslimen. Hier bemerkt er nämlich, dass die Opfer zu kufr, Ungläubigen, umetikettiert werden, um deren Tötung zu rechtfertigen (2000: 33). Der Vorwurf des Mordes an Muslimen werde demnach von den Tätern zurückgewiesen. Dadurch kann eben das Gebot eingehalten werden, eine Einhaltung, die gerade durch diese Umetikettierung angezeigt wird. Sie versuchen so ebenso, den „Text“ legitimatorisch für ihre Seite zu gewinnen, genau wie Tibi versucht, den Text legitimatorisch für die Seite dessen zu verwenden, was er den „liberalen Islam“ nennt. Tibi stellt allerdings die legitimatorische Verwendung des Textes von Seiten seiner Gegner als ideologische Anmaßung, seine eigene Lesung als Wahrheit dar. Dass Tibi diese liberale legitimatorische Belegung versucht, ist völlig zu unterstützen. Dass er dies aus der Perspektive eines (am Ende doch westlichen) Sozialwissenschaftlers versucht, ist nicht nur akademisch sondern auch ganz praktisch problematisch. Während das politische Ziel, eine liberale Lesung „autoritativer Texte“ (Tibi) anzuregen, unterstützenswert bleibt, ist der Weg möglicherweise kontraproduktiv, denn die Anregung hierzu geschieht aus einer deutlichen Außenposition. Gerade weil es sich um einen internen Diskurs unter Gläubigen handelt, ist eine Stellungnahme von außen zur „Wahrheit“ des Textes eher geeignet, diese von außen hereingetragene Wahrheit in der Lesegemeinschaft der Gläubigen als zweifelhaft zu markieren.

Dass der Redner, der Interpret des Textes, eine wesentliche Rolle spielt, erkennt auch Tibi, auch wenn er diese Erkenntnis nicht auf seine eigene Exegese ausdehnt. Dass er Autorität benötigt, ist ihm ebenso bewusst. Er schreibt, „gegen islamische Fundamentalisten kann man mit dem klassischen Sufi-Muslim Ibn Arabi argumentieren, dass der Islam als Glaube [!] Gottesliebe, also nicht – modern ausgedrückt – eine ‚politische Ideologie’ ist“ (2000: 10). Er muss mit jemandem argumentieren – doch argumentiert er hier mit einer Quelle, die dem modernen muslimischen Fundamentalisten nicht sehr nahe steht. Wenn er selbst als Muslim argumentiert, dann ebenso aus einer Position, in der er gegenüber den modernen Fundamentalisten in sehr großer Distanz steht. Das ehrt ihn, aber es zerstört sein Projekt der Aufklärung zumindest gegenüber diesen besonderen Empfängern.

Keine der Lesungen, die von heiligen Texten angeboten werden, sollten von Sozialwissenschaftlern als richtig oder falsch bezeichnet werden. Sie sind immer Lesungen aus der Perspektive verschiedener Vormarkierungen, vorgenommen von Lesern, die selbst bereits vormarkiert sind. Man kann oder muss eine Vormarkierung haben – wir können nicht anders, als eine Markierung zu bevorzugen, denn Wahrnehmung ohne Vormarkierung ist nicht möglich. Keine Reflexion kann diesen Vorannahmen entkommen; diese Reflexionen sind „not insulated from, but are a function of, the deeply assumed norms and standards that are the grounds of possibility of any moment, including those named ‘deliberation’ or ‘reflection’” (Fish 1989: 441). Dies ist ein Punkt, der bei aller Bewusstheit unterschiedlicher Interpretationen Tibi niemals selbst bewusst wird, da er selbst zu sehr an die formale Wahrheit des Textes glaubt (als gläubiger Muslim ist ihm das selbstverständlich nicht anzukreiden, in seiner Rolle als Sozialwissenschaftler ist das jedoch durchaus ein Makel). So bleibt er bei der formalistischen Einschätzung, die Wahrheit kennen und vermitteln zu können, in der Überzeugung, dass diese Wahrheit im Text klar erkennbar ist und damit auch für seine Anhänger klar erkennbar sein wird, wenn nur ehrliche Überzeugungsarbeit geleistet wird. So drückt er seine Hoffnung aus, „nicht der Fundamentalismus, sondern ein islamischer Beitrag zur Versöhnung des Islam mit der Moderne und eine islamische Anerkennung von Säkularität, Rationalität, Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Pluralismus als Prinzipien des modernen demokratischen Lebens würden einen Rahmen für eine auf Entwicklung und Modernisierung bezogene islamische Identität bieten. Aber diese scheint nicht attraktiv zu sein“ (Tibi 2000: 70). Hierbei bemerkt er nicht, dass er einen Satz anbietet, der voller Begriffe ist, die als westlich vormarkiert sind und so jenseits aller Wünschbarkeit in extremistischen Kreisen Ablehnung finden werden. Als ein offen bekennender liberaler Muslim ist auch Tibi selbst in islamistischen Kreisen als ‚extern’ markiert. Seine Aussagen haben damit dort ohnehin wenig Gewicht und werden darüber hinaus mit einer Grundskepsis betrachtet, so unglücklich man darüber sein kann.

Sozialwissenschaftler sollten mit Gruppen argumentieren, nicht mit heiligen Texten. Der Sozialwissenschaftler als methodologischer Agnostiker ist in seiner Rolle als Sozialwissenschaftler in keiner religiösen Lesegemeinschaft Mitglied. Seine Lesung folgt anderen Annahmen, anderen Zielen und stammt aus einer anderen Lesegemeinschaft. Beteiligt sich der Sozialwissenschaftler an einem innerreligiösen exegetischen Diskurs über Bedeutungen von Texten, verlässt er den sozialwissenschaftlichen Diskurs, indem er am theologischen teilzunehmen versucht, und entrückt sich dadurch gleichzeitig (weiter als ohnehin) dem theologischen Diskurs, in den er einzudringen versucht, da er hier keine Anerkennung als interner Partizipant besitzt (und als Sozialwissenschaftler, auch als gläubiger Sozialwissenschaftler, auch nicht haben dürfte, um weiter mit dem „Hut des Sozialwissenschaftlers“ aufzutreten).

Sozialwissenschaftler sind keine Exegeten. Ihre Aufgabe ist die Interpretation der Gesellschaft, die Interpretation beobachteter Gruppen, nicht die Interpretation heiliger Texte. Als Beobachter religiöser Handlungen (oder Handlungen, die als religiös markiert worden sind – auch das ist natürlich eine Interpretation) kann der Sozialwissenschaftler feststellen, welche Rechtfertigung für sie aufgewandt wird, welche Bezüge zu heiligen Texten hergestellt werden und welche sozialen Gründe zu diesen Bezügen möglicherweise führen. Er kann die Konstitution verschiedener Gruppen in Berufung auf dieselbe autoritative Quelle zu erklären versuchen und feststellen, wie dieselbe autoritative Quelle durch die verschiedene interpretationsgemeinschaftliche Füllung verwendet wird. Das erklärt vieles. Den Teilnehmern an verschiedenen innerreligiösen Diskursen mitzuteilen, sie interpretierten ihre Quellen falsch, ist jedoch unzulässig. Mehr noch, es verkennt die zentrale Rolle der zugeschriebenen Autorität des Lesers für die Interpretation und liefert so nicht etwa eine Aufklärung über wahre Bedeutungen des Textes, sondern weitere Anlässe für Abgrenzung.

[1] Das ist Richard Rortys Unterscheidung zwischen metaphysischen und ironischen Neubeschreibungen: Der Metaphysiker liefert eine Neubeschreibung, von der er denkt, dass sie den somit neu Beschriebenen bildet und belehrt ihn so; der Ironiker macht dagegen nur einen Vorschlag. Die Demütigung, die aus einer Neubeschreibung erwachsen kann, ist somit beim Ironiker minimiert. Richard Rorty. Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt 1989: 154.

Literatur

Esposito, John L. (1993): The Islamic Threat. Myth or Reality? New York.

Esposito, John L. (Hg) (1997): Political Islam. Revolution, Radicalism or Reform? Boulder.

Fish, Stanley (1989): Doing What Comes Naturally. Change, Rhetoric and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies. Durham.

Fish, Stanley (1980): Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge.

Fish, Stanley (1994): There’s No Such Thing as Free Speech, and It’s a Good Thing, Too. Durham.

Hottinger, Arnold (1993): Islamischer Fundamentalismus. München.

Hourani, Albert. A History of Arab Peoples. Cambridge.

Karakaya, Ismail (2004): Islam und islamischer Fundamentalismus in der Neuzeit. Marburg.

Knoblauch, Hubert (1999): Religionssoziologie. Berlin.

Mozaffari, Mehdi (2007): What is Islamism? History and Definition of a Concept. In: Totalitarian Movements and Political Religions, 8. Jg.: 17-33.

Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt.

Steinacker, Peter (2002): Juden – Christen – Moslems. Monotheistische Religionen im Dialog oder in Konfrontation? In: Bundeskriminalamt (Hg): Islamischer Terrorismus – Eine Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft. BKA-Herbsttagung 2001. Neuwied.

Tibi, Bassam (2000): Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt.

Tibi, Bassam (2002): Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik. München.

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