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Der Feind in mir

Die Wiederkehr von Auschwitz – der Mythos der RAF,

aus: vorgänge Nr. 181, Heft 1/2008, S. 23-29

Seinen ersten großen Auftritt hatte Andreas Baader 1958. Es ging um die Liquidation eines Volksfeindes. Der blutjunge Mann fühlte sich dem politischen Auftrag verpflichtet, spürte aber Skrupel und einen seltsamen Widerwillen: Das Zielobjekt erinnerte ihn irgendwie an seinen Vater. Seine Lage verbesserte sich nicht, als es per Zufall zu einem flüchtigen Kontakt zwischen ihnen kam. Andreas, damals führte er den Namen Maciek, gab ihm im Hotel, das beide bewohnten, Feuer. Maciek gehörte zur nationalistischen Fraktion des polnischen Widerstands, die verhindern wollte, dass die Kommunisten die moralische Autorität der Widerstandsbewegung gegen die Deutschen monopolisierten und für die Eroberung der Macht im neuen Staat missbrauchten.

Als Asche und Diamant 1958 in die westlichen Kinos kam, war das Echo groß. Mit Andrzej Wajdas Film verwandelte sich Jerzy Andrzejewskis Roman über das Chaos der polnischen Nachkriegssituation in ein existenzialistisches Szenario. Das kam an, denn damals war alles irgendwie existenzialistisch. Für die nun adoleszente Generation der Kriegsgeborenen sprangen die Identifikationsfiguren mitunter direkt von der Leinwand in ihr Leben. Das sich in Deutschland vor der bizarren Kulisse von Neubauten in Trümmerlandschaften abspielte. Was war eigentlich Phantasie, was Realität?

Kaum ein Jahr später jedenfalls findet sich Andreas als kleiner Gauner und Anarch in Paris wieder. Diesmal heißt er Michel, tritt ebenso in Schwarzweiß auf wie Maciek, aber ohne jeden politischen Auftrag. Er möchte einfach nur durchkommen, ohne allzu viel Arbeit, mit möglichst viel Spaß. Er ist weiß Gott kein Intellektueller, glänzt aber mit philosophisch-fatalistischen Sprüchen über die Hierarchie von Liebe, Leben und Tod. Am Ende wird er, genauso wie sein polnisches Pendant, überraschend zum Opfer: Außer Atem rennt er mit einer Kugel im Bauch, wie im Jahr zuvor Maciek, noch entsetzlich weit, bevor er in der Gosse verreckt. Michel stirbt unter Jean Luc Godards Regie mit einem letzten Luftkuss an seine Liebste, die ihn verraten hat und nun verwirrt seinem Sterben zuschaut, Wajdas Maciek dagegen einsam in der gekrümmten Haltung eines Embryos auf einer Müllhalde. In beiden Fällen erscheint der Tod kontingent und doch schicksalhaft vorgezeichnet.

So war das halt bei Typen ihres Schlages. Sie trugen den Tod in sich. „Er war ein dunkler Typ, sah aus wie ein Franzose oder Ire, und er wirkte irgendwie romantisch. Eine Zeitlang hat er uns vorgespielt, Krebs oder Tuberkulose zu haben. Er lief in München herum, mit dem Gesicht eines Mannes, der wusste, dass er sterben muss, aber das Beste daraus machen will. Er tat immer so, als würde er Blut in sein Taschentuch husten, aber das Tuch blieb weiß.“[1] So erinnert sich ein Mitschüler von Andreas Baader. Weiß, die Farbe der Unschuld.

Während Andreas-Maciek-Michel eingebildetes Blut in blütenweiße Tücher spuckte, Motorräder stahl und sich in der Schwabinger Szene herumprügelte, erschien in Hamburg ein Text, der die existenzialistisch verspielte Jugend an die politische Bedeutung der Farbe Braun erinnerte: „Von Heusinger bis Foertsch, von Oberländer bis Globke, von Heyde/Sawade bis Eichmann hat sich erwiesen, dass im Deutschland von 1961 nicht ungeachtet (…) von Auschwitz und Buchenwald gelebt werden kann.“ Jeder, insbesondere aber die Jugend habe darüber zu wachen, dass sich das Nazimonster nicht wieder erhebe. Es gelte Widerstand zu leisten. „Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus kann nicht durch antifaschistische Sandkastenspiele nachgeholt werden, weder für die nachgewachsene Generation noch für die Älteren. (…) Wie wir unsere Eltern nach Hitler fragen, so werden wir eines Tages nach Herrn Strauß gefragt werden.“[2]

Die eigene Generation wird sich, so insinuiert Ulrike Meinhofs Text, nicht herausreden können wie die der Eltern. Er trägt den Titel „Hitler in euch“. Bei der schmalen Schicht antifaschistischer (damals hatte der Begriff seine Unschuld noch nicht vollständig verloren) Deutscher, die seinerzeit versuchten, die Erinnerung an die NS-Vergangenheit wach zu halten, waren solche Wendungen, die den Nationalsozialismus noch als Gegenwart sahen, üblich. Die Radikalsten vermuteten ihn sogar als eine Art Gift in sich selber. Aber Meinhofs Text heißt nicht „Hitler in uns“. Er ist in seiner anklagenden Warnung nicht selbstreflexiv, sondern markiert eine Grenzziehung, die die Welt, generationenübergreifend, in Wir und Ihr aufteilt. Die Analogie von Hitler und Strauß – eine Assoziationsfigur, die die westdeutsche Linke fast ein Vierteljahrhundert zusammenhielt – war damals noch neu, und man muss schon historisch altklug sein, um heute die Verzeichnung zu kritisieren, aus dem caudillohaftkorrupten Bayern einen neuen Hitler zu machen. Man brauchte damals bühnenfähiges Personal, um in der seltsam abstrakten Nachkriegsrepublik das Lehrstück von der Wiederkehr der braunen Gefahr eindringlich zu inszenieren. Denn letztendlich war es, trotz der ruhig im Lande lebenden NS-Verbrecher, eine Republik ohne zurechenbare Gesichter. Eichmann stand nicht in Berlin, sondern in Jerusalem vor Gericht. „Mag sein, dass manchem der Maßstab verloren ging angesichts der Millionen, um deretwillen Eichmann verurteilt wurde“, schreibt Meinhof in einer „Auf Anhieb: Mord“ übertitelten Kolumne, die den Skandal kommentiert, dass ein Nazirichter zum Bundesanwalt bestallt worden war. „Aber den Betroffenen ist es gleichgültig, ob er einer unter Millionen oder nur einer unter drei Dutzend ist.“[3] Es wirkt divinatorisch. Tatsächlich, mit Auschwitz war der Maßstab verloren gegangen: Niemand, kein Einzelner, keine Gesellschaft, verträgt so viel gewaltsamen Tod.

Am Abend des 2. Juni 1967 versammelte sich im Berliner SDS-Zentrum am Kurfürstendamm eine Gruppe tief schockierter Demonstranten. Wenige Stunden vorher war der Student Benno Ohnesorg während einer Protestaktion gegen den Schah durch die Kugel aus einer Polizeipistole gestorben. Man diskutierte erregt die Lage. Ein Beitrag lautete: „Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren.“ Die Sprecherin hieß Gudrun Ensslin.[4]Sie formulierte damals, ob sie es wusste oder nicht, das Kernprogramm der RAF: Widerstand ist – in der Konfrontation mit den Verantwortlichen für Auschwitz – notwendigerweise gewaltsamer Widerstand. Politisches Handeln ist in diesem Programm Notwehr: Gegengewalt scheint die einzig verbliebene Chance der prospektiven Opfer.

Andreas Baaders theatralische Inszenierung des eigenen Todes, Ulrike Meinhofs Angst vor der Wiederkehr der mörderischen NS-Gewalt, Gudrun Ensslins Opferphantasie sind Variationen eines Generationsthemas. Das Phantasma, Opfer einer nicht enden wollenden, sich immer wieder erneuernden, gewalttätigen Geschichte zu sein, war in der politischen Generation nach Auschwitz eine zentrale untergründige Kollektivphantasie. Dass Baader, Meinhof und Ensslin sich als Köpfe einer Gruppe zusammenfanden, die unter dem wuchtigen Namen Rote Armee Fraktion eine wilde Mischung höchst ungleichnamiger Erfahrungen, Phantasien und Ängste zusammenführte, ist letztlich kontingent – nicht dagegen sind es die Ingredienzien dieses Cocktails: sie bringen exemplarisch intellektuelle Kraftlinien der deutschen Nachkriegskultur zum Ausdruck. Die existenzialistische Spielfreude des narzisstischen Machos Baader gehörte ebenso zu diesem Generationsrepertoire wie Meinhofs und Ensslins messerscharfe protestantische Ethik. Nur blieben diese unterschiedlichen Lebensphilosophien normalerweise durch den Abstand ihrer Ursprungsmilieus strikt voneinander getrennt. So gab es auch wenige Chancen, ihre heimlichen Ähnlichkeiten wahrzunehmen. Zum Beispiel den enormen Kältekern, der sowohl in der existenzialistischen Antimoral wie im protestantischen Gewissenspathos stecken konnte; und vor allem das beide unterirdisch bewegende Thema: der Tod, der nach Weltkrieg und völkischer Vernichtungspolitik eine neue Vorstellungsdimension gewonnen hatte. Eine Verbindung dieser beiden Positionen war der krasse Ausnahmefall, in der nervösen Republik der Jahre 1967 und 1968, in der plötzlich wieder – staatliche und außerstaatliche – Gewalt auf der Agenda stand, wirkte sie wie die Zusammenführung von kritischer Masse und Zünder. Das Codewort für diese Synthese hieß: Auschwitz.

Das Geheimnis der RAF liegt in dieser Synthese. Denn solche wie Baader, Meinhof- und Ensslin gab es damals mehr als man denkt, wenn auch meist weniger grell in Überzeugung und Auftreten. Die beiden Frauen etwa waren so sehr vom protestantischen Geist durchdrungen, dass sie voreinander erschraken, als sie sich kennen lernten. Das war 1968, als Gudrun Ensslin zusammen mit Baader angeklagt war, in Frankfurt ein Kaufhaus angezündet zu haben. „Wir taten es aus Protest gegen die Gleichgültigkeit, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusehen“, sagte sie und überließ es Baaders Verteidiger Horst Mahler, die Parallele zum Nationalsozialismus zu benennen. „Wir haben gelernt“, sagte sie, „dass Reden ohne Handeln unrecht ist.“ Es muss, berichten Augenzeugen, von einer beinahe überirdischen Überzeugungskraft gewesen sein. Ihr Vater, ein evangelischer Pastor, sprach danach von der „ganz heiligen Selbstverwirklichung“ seiner Tochter: „Das ist für mich das größere Fanal als die Brandlegung selbst, dass ein Menschenkind, um zu seiner Selbstverwirklichung zu kommen, über solche Taten hinweggeht.“ Und ihre Mutter spürte, „dass sie mit ihrer Tat auch etwas Freies bewirkt hat, sogar in der Familie“. Selbst der Gerichtspsychiater fasste es in für seine Profession erstaunlich emphatische Worte: „Sie leidet unter dem Ungenügen unserer Existenz. Sie wollte nicht mehr warten. Sie wollte in die Tat umsetzen, was sie letztlich im Pfarrhaus gelernt hatte. Sie wollte den Nächsten en gros umfassen – gegen seinen Willen.“ Ihr Verteidiger formulierte das etwas anders: „Die Angeklagte ist nicht nur Überzeugungstäterin, sondern Gewissenstäterin.“ Tatsächlich wurde sie das Gewissen der RAF, ihre Mühewaltung reichte von der Kassenführung bis zur Aufstellung von Moralregeln für den revolutionären Alltag. Woran beinahe wichtige politische Koalitionen gescheitert wären. „Was macht ihr denn“, fragte Gudrun Ensslin ihre Terrorkollegen von der „Bewegung 2. Juni“, „ihr rennt durch die Wohnungen, fickt kleine Mädchen, raucht Haschisch. Das macht Spaß. Das darf es nicht. Dieser Job, den wir machen, der ist ernsthaft. Es darf keinen Spaß machen.“[5] Es klingt nach Missionarsstellung und revolutionärer Pflichterfüllung. Für die Ulrike Meinhof – bei Blanqui – die entscheidende Formulierung fand: „Es ist die Pflicht eines Revolutionärs, immer zu kämpfen, trotzdem zu kämpfen, bis in den Tod zu kämpfen.“ Womit wir wieder ein paar Jahre weiter und zurück beim Tod wären.

Im Juni 1972 waren alle drei in Haft – 25 Monate nach der Initialaktion der „Roten Armee Fraktion“, der Befreiung Andreas Baaders aus der Haft. Als Ulrike Meinhof dem fliehenden Baader mit einem Sprung aus dem Fenster folgte, blieben am Ort der dilettantisch durchgeführten Aktion ein Mann mit Lebersteckschuss und ihre Handtasche zurück. In ihr fanden sich, wie die Beweisstücke eines – lange vor diesem Schritt in den Untergrund – gespaltenen Lebens, ein Revolver und ein Hypothekenbrief für ihr Grundstück in Hamburg-Blankenese.

Als Berufsrevolutionäre waren die RAF-Gründer Stümper. Ihre zweijährige Aktionsphase diente faktisch nur der Selbstreproduktion, und die „Bomben ins Bewusstsein der Massen“ hatten wenig mehr als die Isolation von vermeintlich Gleichgesinnten zur Folge. Politische Wirkung entfalteten sie erst in der Haftzeit: als sie sich endlich und endgültig als Opfer fühlen konnten. In dieser Rolle fanden sie zu sich selbst – und die Bestätigung des Phantasmas, das sie erst in den Untergrund und schließlich ins Gefängnis getrieben hatte: „Der politische begriff für den toten trakt, köln, (des Kölner Gefängnisses, in dem Meinhof saß, C.S.), sage ich ganz klar ist: das gas.“ So Ulrike Meinhof in konsequenter Kleinschreibung. „meine auschwitzphantasien da drin waren realistisch.“[6] Gudrun Ensslin schrieb: „Unterschied toter Trakt und Isolation: Auschwitz zu Buchenwald. Der Unterschied ist einfach: Buchenwald haben mehr überlebt als Auschwitz… Wie wir drin ja, um das mal klar zu sagen, uns nur darüber wundern können, dass wir nicht abgespritzt werden.“ Andreas Baader, den kein geringerer als das Haupt des französischen Existenzialismus, Jean Paul Sartre persönlich im Stammheimer Hochsicherheitstrakt besuchte, fasste es am knappsten: „Wir sollen vernichtet werden“, sagte er vor Gericht. Seinen Mitgefangenen schrieb er: „Ich denke, wir werden den Hungerstreik diesmal nicht abbrechen. Das heißt, es werden Typen dabei kaputtgehen.“ Die phantasierten Opfer einer faschistischen Vernichtungsmaschinerie blieben sich in diesem Punkt bis zum Schluss treu. Noch in ihrem Auschwitz bewahrten sie sich die souveräne Entscheidung über Leben und Tod. Sie waren Opfer – und omnipotent: Baader drohte missliebigen Wärtern schon mal damit, ihre Ehefrauen töten zu lassen.

Aus der Position des omnipotenten Opfers konnten sie ein letztes Mal intransigente Moralvorstellungen formulieren. Und fanden nun bei vielen ihrer Generationsangehörigen, die mit ihnen dasselbe Phantasma, dieselbe Opferidentifikation teilten, Aufmerksamkeit und Solidarität. Drei Tage vor seinem Hungertod schrieb Ensslin an Holger Meins, wie man abzutreten habe: „Ohne zu trauern. Das – das Ziel. Du bestimmst, wann Du stirbst. Freiheit oder Tod.“ Die Freiheit über den Tod – das war der existenzialistische Rest der großen moralischen und politischen Entscheidung von einst. Aber selbst diese Freiheit wurde vom Phantasma der Vernichtung konterkariert. In Meins´ Testament heißt es: „Für den Fall, dass ich in der Haft vom Leben in den Tod komme, war´s Mord. Gleich, was die Schweine behaupten werden.“[7] Die „Auschwitzphantasien“ waren wirklich vernichtend: sie zerstörten selbst noch den letzten moralischen Triumph der freien Entscheidung.

In ihrem letzten Gefecht wendeten die Gründer der RAF die mörderische Kehrseite ihrer Opferidentifikation wie eine destruktive fremde Macht gegen sich selbst. „Mord gleich Selbstmord gleich Mord“ riefen ihre Sympathisanten nach Ulrike Meinhofs Freitod. Ein Jahr später ging diese grausige Gleichung in der (Selbst-)Mordinszenierung von Ensslin, Baader und zwei weiteren RAF-Angehörigen auf. Alles war bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt, Phantasie und Realität, Täter und Opfer nicht mehr zu unterscheiden.

Das berühmteste aller RAF-Papiere, „Das Konzept Stadtguerilla“ vom April 1971 beginnt mit dem Mao-Motto „Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!“ und bezeichnet wohl die größte Schwierigkeit der Gruppe: eben diese Trennung vorzunehmen, um eindeutig den Feind bestimmen zu können. Denn, das war der Selbstverdacht ihrer Protagonisten, diese Trennung war nicht klar.

Ihre Ursprungsparole umzusetzen, gelang ihnen im Leben nicht. Und auch nicht im Tod. Tatsächlich enthält sie eine unmögliche Forderung. Jedenfalls dann, wenn der vermeinte Feind im eigenen Inneren sitzt. Spätestens seitdem sie in Haft war, spielte der Mangel an klarer Trennung für Ulrike Meinhof eine eminente Rolle. Es gibt Selbstbeschreibungen aus dieser Zeit, die diesen Mangel an Getrenntheit als lebenslanges Leiden verständlich machen. In einem Brief an Baader und Ensslin hält sie fest, „was hier bei mir Sache ist“: „Meine Sozialisation zu Faschist, durch Sadismus und Religion, die mich eingeholt hat, weil ich mein Verhältnis dazu, d.h. zur herrschenden Klasse, mal ihr Schoßkind gewesen zu sein, nie vollständig aufgelöst, restlos in mir abgetötet habe… Die Scheiße in meinem Wahn… sich zur RAF verhalten, wie ich mich zur herrschenden Klasse verhalten habe: Arschkriecher; d.h. Euch behandeln wie Bullen, das heißt einfach: Selbst längst ´n Bulle sein, in den psychischen Mechanismen von Herrschaft und Unterwerfung, Angst und Klammern an die Vorschrift. Eine scheinheilige Sau aus der herrschenden Klasse, das ist einfach die Selbsterkenntnis. Alles nur ´als ob´ …“[8]

Sie war nicht die Einzige, die mit diesem Selbstverdacht haderte. Kampfkollege Helmut Pohl schreibt in Versalien vom „TODFEIND IN MIR SELBST“ und Holger Meins spricht von der Notwendigkeit einer „revolution in einem selbst: in einem selbst die herrschende klasse stürzen (…) ‚unter meiner haut beginnt das befreite gebiet, die selbständige rote macht‘. selbstkritisch muss man die alte klasse, soweit sie einen noch beherrscht, besitzt und besetzt hält, rausschmeissen, widerstand zuerst (…), dann befreiungskrieg, die besetzten gebiete zurückerobern, seine dimension als mensch, seine ehre zb wiedergewinnen und schließlich sieg bis zur restlosen vernichtung der klasse.“[9]

Die Selbstbeschreibungen und -anklagen der RAF-Angehörigen während der Haftzeit wirken so, als gehöre ein Teil des eigenen Selbst immer „den anderen“. Als sei einer Herkunft nicht zu entgehen, die einen immer wieder zurück ins Alte zieht. Nimmt man Holger Meins´ Rede ernst, wäre der Sieg über den Feind letztlich mit dem eigenen Tod identisch. Er starb, 1,83 Meter groß und 39 Kilogramm schwer, an den Folgen eines Hungerstreiks. Vielen Betrachtern des veröffentlichten Obduktionsphotos gruselte, weil sie meinten, Bilder solch ausgemergelter Körper schon einmal, in einem anderen historischen Kontext, gesehen zu haben.

„Mord gleich Selbstmord gleich Mord“: In der finalen Selbstmord-Inszenierung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller verdichtete sich die gespenstische Wiederkehr von Auschwitz als agierter Vernichtungsphantasie der Nachgeborenen: die phantasmagorische Wiederkehr jener Gewalt, die zum negativen Ursprungsmythos der zweiten deutschen Republik wurde. Die Gründer der RAF richteten in Stammheim das geschichtlich verdrängte Potenzial an Destruktivität, dessen Rückkehr doch alle fürchteten, demonstrativ, verzweifelt und eine falsche Realität vortäuschend gegen sich selbst. Der „Mythos“, den man der RAF später andichtete, hat hier seinen Ursprung. Die Verschlingung von Tod und Mord, von Täter und Opfer, von Realität und Phantasie gehört ebenso zur mythologischen Rede wie die phantasmatische Verschlingung der Zeiten: Was ist Gegenwart, was Vergangenheit? Unterm Gesetz der exzessiven Gewalt(phantasie) bleibt auch dies unklar, irisierend. Wer das Phänomen RAF verstehen will, muss sich als erstes daran machen, dieses falsche Ineinander aufzulösen. Es geht darum zu trennen, was die Mythografie zusammen zwingt. Eben dies heißt: Analyse.

Die immense sozialpsychologische Bedeutung der RAF für die Bundesrepublik liegt darin, dass mit ihr ein Kapitel der mörderischen Geschichte, die ihrer Gründung vorausging, wieder aufgeschlagen wurde – und ein neues begonnen wurde. Was wir erst noch zu begreifen haben. Denn die Geschichte der RAF ist sowenig beendet wie ihre Gründer es von der Geschichte des Nationalsozialismus meinten. Nach wie vor gibt es auf der einen Seite einen ungeheuren Solidarisierungsdruck. Nach wie vor wird die notwendige Aufarbeitung auf der anderen Seite tabuiert. Nach wie vor dominiert im Umgang mit dem Phänomen allerorts die mythische die analytische Rede. Es ist zuviel darin gefangen, zuviel gewaltsamer Tod für unsere Fassenskraft. Was sich nur unangemessen in den Zahlen spiegelt. Zu Lebzeiten der RAF-Gründer gingen 47 Tote auf das Konto des „bewaffneten Kampfs“. Diese Realität, für sich grausam genug, bleibt phantasmatisch mit den unübersehbaren Leichenhaufen verknüpft, die der Vorgängerstaat der Bundesrepublik zu verantworten hat. Eine falsche Verknüpfung? In all diesen Punkten hat die kritische, die trennende Arbeit der Analyse anzusetzen.

[1] Zitiert nach Stefan Aust, Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 1997, S. 25f.

[2] Ulrike Meinhof, Hitler in euch. In: Ulrike M. Meinhof, Deutschland, Deutschland unter anderem. Aufsätze und Polemiken, Berlin 1995, S. 38ff.

[3] ebd., S. 55ff.

[4] So die Version von Stefan Aust. Ensslins Autorschaft wird inzwischen in Zweifel gezogen. Unstrittig bleiben indes die damalige Aktualität der „Argumentationsfigur“ und der Angstaffekt.

[5] Alle Zitate nach Stefan Aust, a.a.O., S. 78ff und S. 204.

[6] P.B. Schut (Hg.), das info. Briefe von gefangenen aus der raf, Hamburg 1987, S. 21.

[7] Zitiert nach Aust, S. 292 und 303.

[8] Aust, S. 298f.

[9] Schut, a.a.O., S. 72 und 83.

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