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Editorial

aus: vorgänge Nr. 181 (Heft 1/2008), Achtundsechzig, S. 1 – 3

Auch im vierzigsten Jahr ihrer Geschichte bleiben sich die Achtundsechziger treu. Mit dem untrüglichen Instinkt für die provokante Geste hat der seinerzeitige SDSler und heutige Historiker Götz Aly zum Auftakt des Jubiläumsjahres sein Buch „Unser Kampf“ auf den Markt geworfen, dessen titelgebende Konnotation prompt die schon leicht rostende Deutungs- und Aufarbeitungsmaschinerie wieder in Gang setzte. Einmal mehr gilt es, Vergangenheit zu bewältigen, diesmal die der Söhne, die sich nach Alys Ansicht bei der Bewältigung der Vergangenheit der Väter diesen allzu sehr angewandelt haben. Eigentlich hatte dazu ein der Mittäterschaft gänzlich Unverdächtiger, der Merkur-Herausgeber Karl-Heinz Bohrer bereits vor sieben Jahren alles gesagt, als er anlässlich der Auseinandersetzung um die militante Vergangenheit des damaligen Außenministers Joschka Fischer befand, „die vielleicht trostloseste Wende zum regressiven, unanalytischen Moralismus ist die landauf, landab Bedenken auslösende Erwägung, die zurzeit betroffenen 68er müssten sich ihrer Vergangenheit stellen, so wie die Deutschen sich ihrer Nazivergangenheit gestellt hätten.“ 2001 war dieser Stellungsbefehl noch von konservativer Seite ergangen, nun also von einem Mittäter.

Stand der dreißigste Jahrestag noch ganz unter dem Eindruck einer sich mit dem Antritt der rot-grünen Regierung erfüllenden Geschichte des langen Marsches durch die Institutionen und wurde dem entsprechend seinerzeit vornehmlich über die politische Wirkmächtigkeit der 68er räsoniert, so dokumentiert das Werk des Historikers Aly zumindest, dass sie nun endgültig Geschichte geworden sind. 

Als solcher will sich auch diese Ausgabe der vorgänge der Ziffer 68 widmen. Aber statt alles über einen Deutungsleisten zu brechen, sollen in diesem Heft einzelne Stücke zusammengetragen werden, die zwar kein komplettes Bild, wohl aber einen Eindruck davon vermitteln, was mit 68 verbunden ist.

Die Vorhaltung von Götz Aly, die 68er seien Wiedergänger der 33er, ist alles andere als neu. Jens Hacke weist in seinem Beitrag darauf hin, dass es zeitgenössische konservative, liberale und sozialdemokratische Intellektuelle waren, welche bereits 68 diese Parallele sahen und auch mit anderen Selbstmythisierungen der Rebellen kritisch zu Gericht gingen. Viele von ihnen standen dabei den Anliegen der Studenten zunächst durchaus wohlwollend gegenüber, gingen jedoch bald auf Distanz. Doch die Kontroverse über und mit den Studenten setzte eine Auseinandersetzung über das Selbstverständnis der Bundesrepublik in Gang, das in eine produktive intellektuelle Streit- und Versöhnungsgeschichte mündete. So sehr die Studenten gegen den Wohlfahrtsstaat der sechziger Jahre rebellierten, so sehr war ihr Denken doch in ihrer Zeit verhaftet. Michael Ruck legt dar, dass der Glauben an die Möglichkeit einer planmäßigen Steuerung sozioökonomischer Entwicklungsprozesse die neomarxistischen Fortschrittspropheten mit den modernen Macht- und Funktionseliten der sechziger Jahre verband.

Auf die besondere Aneignung der NS-Zeit durch die RAF weist Christian Schneider hin. Deren Protagonisten insinuierten in ihrem Kampf, vor allem in dem gegen ihre Haftbedingungen, eine Wiederkehr von Auschwitz und sprachen sich selbst die Opferrolle zu. Der darin liegende maßstabslose Moralismus, den sie auch gegeneinander wendeten, war ein wesentlicher Baustein des Mythos der RAF.

Diese Anmaßung der RAF korrespondiert auf eigene Weise mit dem Antisemitismus, der nicht nur bei ihr und anderen Terroristen zum Tragen kam, sondern immer durchschien, wenn im Namen eines Antiimperialismus anti-israelische Positionen bezogen wurden. Michael Brumlik geht in seinem Beitrag dem Antisemitismus der westdeutschen Linken nach. 

Zu den gesellschaftlichen Tiefenwirkungen der 68er, die in keiner Erfolgsbilanz fehlen, gehören die sexuelle Befreiung und die antiautoritäre Erziehung. Aber stimmt diese Zuordnung so ohne weiteres und wie groß ist der Erfolg aus zeitlicher Distanz betrachtet. Gunter Schmidt lässt noch einmal fünfzig Jahre Sexualität und Sexualforschung Revue passieren und ordnet die Studenten des Jahres 68 als die ein, die gar nicht so permissiv waren, wie sie redeten. Sie maßen der Sexualität eine transformative Kraft bei und beförderten deren Liberalisierung. Mittlerweile ist das Verhältnis von Studenten zur Sexualität weniger programmatisch denn pragmatisch.

Lutz von Werder kommt zu dem Fazit, dass die antiautoritäre Erziehung bereits 1973 faktisch tot war. Erst jetzt scheint die schon damals geforderte „Vergesellschaftung der Vorschulerziehung“ in Deutschland auf fruchtbareren Boden zu fallen. In anderen Ländern wie Finnland oder Frankreich wurde hingegen die Modernisierung der Kleinkinderziehung eine Erfolgsgeschichte. 

Auch die Umweltbewegung wird unter die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit der Studentenbewegung ihren Ausgang nahmen, subsumiert. Das scheinen schon die personellen Kontinuitäten beider Bewegungen nahe zu legen. Doch Friedemann Hahn weist in seinem Beitrag nach, dass die 68er keineswegs grün waren. Das ökologische Anliegen hatte andere Protagonisten und die Linken verwendeten einige antikapitalistische Rabulistik darauf, es der Systemfrage unterzuordnen. 

Hingegen datiert der Beginn der Frauenbewegung landläufig auf 1971, als Frauen sich öffentlich im Stern der Abtreibung bezichtigten. Felix Brühl hinterfragt diese Datierung und erinnert an die erste Keimzelle der Frauenbewegung, die bereits im Januar 1968 aktiv wurde: Der Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, bei dem zunächst auch Männer mitmachten. Hanning Voigts porträtiert den früh verstorbenen SDSler Hans-Jürgen Krahl, dessen Versuch, die Kritische Theorie zu einer revolutionären Praxis zu öffnen, auf das Unbehagen deren Begründer Theodor W. Adorno und Max Horkheimer stieß. 1968 in der DDR, das waren wenige Aktive, die die vielen mit dieser Jahreszahl verbundenen Impulse umso begieriger aufnahmen. Es war eine ungleich individuellere und risikoreichere Revolte, als es dies im Westen war. Dieses 68 endete mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei und für Florian Havemann im Gefängnis. Ein Rückblick eines der wenigen 68er in der DDR. Ulrich Finckh erlebte die Umbrüche der sechziger Jahre als Studentenpfarrer in Hamburg, er war gleichermaßen Fürsprecher wie Vermittler zwischen den Lagern.

Im ersten Essay analysiert Florian Hartleb den widersprüchlichen Charakter der Partei „Die Linke“. Sie ist in sich zerrissener als es den öffentlichen Anschein hat, doch vermag sie, auch dank ihres Populismus, sich in der ehedem sozialdemokratischen Wählerschaft zu verankern. Im zweiten Essay kritisiert Michael Dellwing die wissenschaftliche Anmaßung, die in dem Versuch liegt, das wahre Wesen des Islam aus seinen Schriften zu filtern.

Sandra Pingel-Schliemanns Rezension zweier neuer Biografien über Ulrike Meinhof und Kristin Wesemanns Besprechung der Bücher über die 68er von Götz Aly und Norbert Frei runden diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.  

Ihr
Dieter Rulff

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