Vom revolutionären Willen, „ohne den die Kritische Theorie nichts mehr ist“
Zum politischen Denken des Adorno-Schülers und SDS-Mitglieds Hans-Jürgen Krahl,
aus: vorgänge Nr. 181, Heft 1/2008, S. 70-78
„Er ist unersetzlich und meiner Überzeugung nach, wäre er ein höchst bedeutender Mensch geworden. Mag Ihnen das Bewusstsein, dass er ein unendlich intelligentes Wesen war, neben dem Schmerz, auch eine gewisse Befriedigung gewähren“.[1] Diese Zeilen schrieb Max Horkheimer an die Eltern von Hans-Jürgen Krahl, nachdem dieser in der Nacht auf den 15. Februar 1970 tödlich verunglückt war. Der anerkennende Ton des Briefes ist überraschend, da Horkheimer Krahl und den SDS seit Beginn der Studierendenrevolte stets scharf kritisiert und mehrfach in die politische Nähe faschistischer Bewegungen gerückt hatte. Krahl seinerseits hatte der frühen Kritischen Theorie immer wieder die Kapitulation vor den gesellschaftlichen Zuständen vorgeworfen. Krahl war außerdem weniger mit Horkheimer verbunden, sondern Musterschüler und Doktorand von dessen Freund und Kollegen Theodor W. Adorno, der ein halbes Jahr vor Krahl verstorben war. Um Hans-Jürgen Krahl, den Adorno-Schüler, den SDS-Agitator, den Alkoholiker mit dem Glasauge, rankten sich schon zu Lebzeiten zahlreiche Mythen. Die Anerkennung Horkheimers trotz aller politischen und theoretischen Differenzen wirft dagegen ein Schlaglicht auf den Philosophen und Theoretiker Krahl, dessen Konzeption einer kritischen Gesellschaftstheorie und politischen Praxis im Folgenden rekonstruiert und kritisch gewürdigt werden soll.
Einige Informationen zu Krahls Werdegang: Hans-Jürgen Krahl wurde am 17. Januar 1943 in Sarstedt bei Hannover geboren.[2] Nach einem politischen Engagement im rechtsradikalen „Ludendorffbund“ und in der CDU begann er 1963 in Göttingen Philosophie, Geschichte, Germanistik und Mathematik zu studieren. Ein Jahr später trat Krahl dem Göttinger SDS bei.[3] Nach Frankfurt kam er 1965 und begann bei Adorno eine Dissertation zum Thema „Naturgesetze der kapitalistischen Entwicklung bei Marx“. In der Hauptphase der Studentenbewegung ab Juni 1967 wurde Krahl ein wichtiger Sprecher des antiautoritären Flügels des SDS, den er durch sein gemeinsam mit Rudi Dutschke gehaltenes „Organisationsreferat“ (Krahl 1984: 53 ff) entscheidend prägte. Schnell bundesweit bekannt, versuchte „der Krahl“ in zahllosen Debatten und Podiumsdiskussionen, die entstehende Neue Linke in seinem Sinn zu prägen. Dabei machte er sich für eine auf das Individuum und seine Befreiung zielende politische Praxis stark und kritisierte autoritäre, marxistisch-leninistische Tendenzen in der Linken in aller Schärfe als „dogmatische Regression“ (Krahl 1971: 283).[4] Krahls plötzlicher Tod – er wurde nur 27 Jahre alt – traf den SDS unerwartet. Die nach Hannover zur Beerdigung angereisten Genossinnen und Genossen beschlossen noch am Tag der Trauerfeier informell das Ende des Verbandes, der zu dieser Zeit schon längst durch Flügel- und Grabenkämpfe gelähmt und in Auflösung begriffen war.
Zur Möglichkeit der Revolution im Spätkapitalismus
Wer Zugang zu Krahls Denken sucht – die meisten Aufsätze, Reden und Skizzen wurden postum im mittlerweile vergriffenen Band „Konstitution und Klassenkampf“[5] veröffentlicht – wird über den fragmentarischen Charakter seiner hinterlassenen Schriften stolpern. Einen bedeutenden Teil von „Konstitution und Klassenkampf“ machen Exzerpte aus, die Krahls kritische Rezeption von Marx, Adorno, Horkheimer, Sartre, Lukács, Lenin, Habermas und Marcuse dokumentieren. Sein unorthodoxer Umgang mit Schriften aus fünf Jahrzehnten marxistischer Theoriebildung erklärt sich aus seinem zentralen theoretischen wie politischen Anliegen, das sich wie ein roter Faden durch seine Schriften zieht und die oberflächliche Zerrissenheit seines Werkes widerlegt: Krahl versuchte in der Rekonstruktion der marxschen Kritik der Politischen Ökonomie, der durch den Nationalsozialismus verschütteten marxistisch-philosophischen Debatten der zwanziger Jahre und in Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie Frankfurter Prägung eine antiautoritäre Revolutionstheorie für die zeitgenössische Gesellschaft zu entwerfen. Die bürgerliche Gesellschaft, das stand für Krahl außer Frage, stand mit ihrer Tendenz zur Unterdrückung des Individuums, zur sinnentleerten Lohnarbeit und zu Krieg und Faschismus einem menschenwürdigen Leben grundsätzlich im Wege. Die Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft wie Freiheit und Emanzipation waren für ihn erst durch eine sozialistische Revolution einzulösen (Krahl 1971: 27).
Krahl arbeitete an der „Rekonstruktion revolutionärer Theorie als einer Lehre, deren Aussagen die Gesellschaft unter dem Aspekt radikaler Veränderbarkeit begreifen“ (ebd.: 343). Zentral für sein Verständnis einer Einheit von Theorie und Praxis war die Organisationsfrage, er suchte in Anlehnung an Georg Lukács’ Überlegungen aus „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (vgl. Lukács 1988: 452 ff) nach einer Form für „die gemeinsame und solidarische Erhebung der proletarisch Ausgebeuteten“ (Krahl 1971: 230). Der marxistisch-leninistische Fetisch einer „proletarischen Partei“ war für Krahl dabei historisch überholt (ebd.: 182 ff). Während Lenin wie auch Marx noch von der Existenz einer Arbeiterbewegung hätten ausgehen können, bestehe die Aufgabe heute darin, Bewusstseinsgruppen zu konstituieren, die eine radikale Kritik an der Gesellschaft wieder formulieren könnten (ebd.: 155). Zentral war für Krahl die Bedeutung des Individuums, das zur Kritik am Bestehenden und zur Wahrnehmung der eigenen Unterdrücktheit befähigt werden müsse. Eine emanzipatorische Bewegung sollte für ihn das „Reich der Freiheit“ der Tendenz nach schon durch solidarischen internen Umgang einlösen und damit dem Individuum die Erfahrung ermöglichen, dass Gesellschaft ganz anders sein könnte. „Wir demgegenüber haben erkannt, dass es, wenn man gegen diese Gesellschaft kämpft, notwendig ist, die ersten Keimformen der künftigen Gesellschaft schon in der Organisation des politischen Kampfes selbst zu entfalten – die ersten Keimformen anderer menschlicher Beziehungen (…)“ (ebd.: 26).
Die Notwendigkeit einer neuen Revolutionstheorie stellte sich für Krahl vor allem, weil der Spätkapitalismus noch nicht theoretisch durchdrungen sei, die Kritische Theorie als einzig erfolgversprechender Ansatz aber den revolutionären Willen verloren habe. Krahl wollte diesen in seinen Augen passiven Standpunkt umgehen und gab der Kritischen Theorie einen voluntaristischen und organisatorischen Dreh. Sie sollte das Scheitern der Arbeiterbewegung und den autoritären Realsozialismus analysieren, sich aber gleichzeitig wieder als Teil einer radikalen Opposition verstehen. Die Lage vieler Intellektueller als besser bezahlte Lohnabhängige war für Krahl die materielle Grundlage dieser Parteinahme der Intelligenz. Die fortschreitende Produktivkraftentwicklung subsumiere, so Krahl, die geistige Arbeit mittlerweile so sehr unter das Kapital, dass der Begriff der produktiven Arbeit weiter gefasst werden müsse (ebd.: 295). „Der Klassenverrat ist organisierbar geworden, die wissenschaftliche Intelligenz gehört ihrer objektiven Lage zufolge tendenziell der herrschenden Klasse nicht mehr an, nur ihrer sozial zurechenbaren geschichtlichen und sozialen Herkunft noch“ (Krahl 1970: 72). „Proletariat“ war für ihn ein noch zu Bildendes, das auch Intellektuelle umfassen sollte, die „zum kollektiven Theoretiker des Proletariats“ (ebd.: 345) werden sollten.
Im Gegensatz etwa zu Adorno oder Horkheimer war Krahl nicht bereit, die Veränderbarkeit der Gesellschaft durch revolutionäre Praxis grundsätzlich in Frage zu stellen. Für ihn bewiesen die antikolonialen Befreiungsbewegungen in der so genannten Dritten Welt und die Protestbewegungen in Westeuropa, dass gesellschaftliche Strukturen stets veränderbar seien. In seinen „Angaben zur Person“ vor Gericht führte Krahl aus: „Die Solidarisierung mit den sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt war entscheidend für die Ausbildung unseres antiautoritären Bewusstseins. Denn dort liegt die Unterdrückung offen zutage; dort ist sie noch nicht verschleiert durch einen schon etablierten bürgerlichen Tauschverkehr. So lehrte uns die Dritte Welt einen Begriff kompromissloser und radikaler Politik (…)“ (Krahl 1971: 23). Krahl wollte den scheinbar revolutionären Impetus der Dritten Welt auf die europäischen Metropolen ausweiten, dabei erlag auch er einer Romantisierung der Dekolonisierungsbewegungen (ebd.: 145 ff). Krahls politischer Ansatz lässt sich vielleicht mit einem Zitat gut zusammenfassen, das aus Max Horkheimers Frühschrift „Dämmerung“ stammt: „Wenn der Sozialismus unwahrscheinlich ist, bedarf es der um so verzweifelteren Entschlossenheit, ihn wahr zu machen“ (Horkheimer 1933: 343).[6]
Die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie
Hans-Jürgen Krahl war von der Kritischen Theorie geprägt, wie sie von Adorno, Horkheimer und auch Marcuse entwickelt worden war.7 Er fühlte sich ihrer „Heimatlosigkeit“ verpflichtet, weil er die westlichen Demokratien ebenso wie den Realsozialismus und dessen Apologeten kritisierte. Eine befreite Gesellschaft war auch für ihn im Hier und Jetzt nicht positiv bestimmbar (Krahl 1971: 27). Einig mit der Kritischen Theorie war Krahl sich ebenso in der Bedeutung der Theoriebildung für jede Gesellschaftsveränderung: Seine Schriften lassen das Bemühen um die theoretische Herleitung der Möglichkeit emanzipatorischer Praxis erkennen, purer Aktionismus war Krahl stets fremd, selbst wenn einige Reden Anderes vermuten lassen (ebd.: 145 ff).
Zentral für Krahls politisches Denken waren Marcuses Überlegungen zum „Eindimensionalen Menschen“ und Horkheimers frühe Texte wie „Autoritärer Staat“. Die analytischen Konzepte dieser Texte bezog Krahl als Gegenwartsanalyse auf die BRD der sechziger Jahre, was zumindest für Horkheimers frühe Werke ein durchaus fragwürdiges Vorgehen war. „Beide theoretische Konzeptionen bieten einander ergänzende systematische Ansätze, die auf das veränderte Ganze der kapitalistischen Gesellschaftsformation zielen“ (ebd.: 216). Dieses veränderte Ganze begriff Krahl in einer Weise, die schon in den dreißiger Jahren im Institut für Sozialforschung diskutiert worden war. Für Friedrich Pollock und Max Horkheimer war damals eindeutig, dass die Tendenz zur Monopolisierung sowie die totalitären Regime mit ihren staatlichen Eingriffen in die Ökonomie einen neuen Kapitalismus eingeläutet hatten. Der liberale Frühkapitalismus war dahin, so die Analyse, das bürgerliche Individuum als autonomes Subjekt war durch die Macht der Trusts, durch Kulturindustrie und Volksgemeinschaft endgültig zur Ideologie geworden. Der Faschismus war die politische Ordnung, die den Kapitalismus durch die Krise rettete. In den USA der vierziger Jahre erblickte Horkheimer einen „integralen Etatismus“, der durch die psychische Internalisierung der Herrschaft seine autoritäre Macht sogar ohne direkte Unterdrückung absichern könne (vgl. Horkheimer 1940).
Krahl übernahm diese Thesen vom monopolisierten Kapitalismus und vom Ende des Individuums. Die veränderte Situation versuchte er zu erfassen und klassisch marxistische Fragestellungen, wie die zu Klassenkampf und kritischem Bewusstsein, neu zu stellen. Dabei konnte er weder an Lukács noch an die Kritische Theorie einfach anknüpfen, selbst wenn letztere den Studierenden „Emanzipationsbegriffe an die Hand geliefert“ (Krahl 1971: 234) habe. Die Trauer um das untergegangene Individuum war für Krahl einer der Ausgangspunkte der antiautoritären Studentenbewegung (ebd.: 25 f). Diese habe die „Vertierung des Menschen“ (ebd.: 24) in den westeuropäischen Gesellschaften bemerkt: „Denn nicht anders ist es zu erklären, dass selbst das bürgerliche Individuum (…) durch den Prozess des Faschismus hindurch vernichtet wurde; dass, wie es Theoretiker der Frankfurter Schule einmal gesagt haben, sich einige Menschen schämen müssten, wenn sie ‚ich’ sagen, – das bedeutet, dass im bürgerlichen Ich, so wie Marcuse es ausführte, immer noch die Fähigkeit zur Kritik, zur Erfahrung, zur Erinnerung und zum Begreifen enthalten war, dass aber heute (…) die Menschen auf bloße Reaktion, gleichsam nach dem Pawlowschen Reflex, reduziert werden (…)“ (ebd.: 24 f).
Die für Krahl entscheidenden Fragen, die Fragen nach der Organisation politischer Praxis, die die Vereinzelung des Individuums überwinden könne, stellten die Denker der Kritischen Theorie zu Krahls Enttäuschung nicht. Stattdessen gab Horkheimer Interviews, in denen er die Möglichkeit zur Gesellschaftsveränderung leugnete und den Schutz der Individualität vom Bestehen der warenproduzierenden Gesellschaft abhängig machte (vgl. Der SPIEGEL, 5.1.1970).
Adorno, in diesen Fragen vorsichtiger, mochte sich vom Ideal einer gerechten Gesellschaft nicht verabschieden. Dennoch war seine Kritik an der sich als revolutionär verstehenden Studentenbewegung vernichtend. Die Studierenden ergingen sich in blinder und theoriefeindlicher „Pseudo-Aktivität“ (Adorno 1969: 772), die letztlich regressive und autoritäre Tendenzen hervorbringe. Bereits 1965 hatte Adorno in seinen „Vorlesungen über Negative Dialektik“ ausgeführt, die Umwälzung der Gesellschaft sei nach Auschwitz nicht mehr wie im 19. Jahrhundert als politische Revolution zu denken (vgl. Adorno 2007: 71 ff). Auch für ihn war eindeutig, dass es irgendwann einmal sozialistischer Praxis bedürfe (vgl. ebd.: 75 f), für den Moment aber konstatierte er ein „Zurückgeworfensein auf die Philosophie“ (ebd.: 88).
Krahl wandte sich mit seinen Überlegungen zur Praxis und zur Organisationsfrage daher von Adorno und Horkheimer ab und kritisierte deren Ansichten zur Praxis hart und oft polemisch.[8] Adornos Prägung durch den Nationalsozialismus und das Exil, so Krahl, „ließ seine progressive Furcht vor einer faschistischen Stabilisierung des restaurierten Monopolkapitals in regressive Angst vor den Formen praktischen Widerstands gegen diese Tendenz des Systems umschlagen“ (Krahl 1971: 385). Adorno bleibe wider besseren Wissens in der Ruine des bürgerlichen Individuums gebannt. Seine Kritik an der Studentenbewegung wies Krahl zurück: „Damit [mit Adornos Vorwurf der „Pseudo-Aktivität“, H.V.] aber ist jede Praxis a priori als blind aktionistisch denunziert und die Möglichkeit politischer Kritik schlechthin boykottiert nämlich die Unterscheidung zwischen einer im Prinzip richtigen vorrevolutionären Praxis und deren kinderkranken Erscheinungsformen in entstehenden revolutionären Bewegungen“ (ebd.: 285).
Adornos und Horkheimers Denken, wie es sich in der Kritik an der Studentenbewegung zeigte, war für Krahl eine praktische Resignation und damit ein Widerspruch: „(…) das Elend der Kritischen Theorie ist auf einer bestimmten Ebene einfach auch das Fehlen der Organisationsfrage (…). Die Erfahrung des Faschismus scheint der Kritischen Theorie und Adorno suggeriert zu haben, dass kollektive Praxis notwendig bewusstseinsdestruktiv ist (…). Im Grunde genommen ist die resignative Position bis hin zur Aussage von der fixierten Intergration der Arbeiterklasse ins kapitalistische System orientiert an einem traditionellen Begriff des unmittelbaren Industrieproletariats (…)“ (ebd.: 294 f). Da politische Praxis und Gesellschaftstheorie für Krahl nie trennbar waren, kamen für ihn auch der soziale Status der Frankfurter Denker und dessen Auswirkungen auf die Theorie in den Blick. Seine Forderung an Adorno und Horkheimer war, den akademischen Elfenbeinturm zu verlassen und sich als „kritische Autoritäten“ (Krahl 1971: 257 ff) an einem Aufklärungsprozess und einer langfristigen Organisation zu beteiligen. „Wenn man schon davon spricht, dass Studenten, Intellektuelle und Theoretiker das Bewusstsein und den Willen bekunden müssen, sich auf den ‚Standpunkt des Proletariats‘ zu stellen, so kann das nur heißen: eine praktische Periode revolutionärer Aufklärung zu entfalten (…)“ (Krahl 1970: 70 f).
Zumindest bei Horkheimer schien Krahl aber Zweifel zu haben, ob dieser an befreiender Praxis überhaupt noch interessiert war: „Zwar war einst für Horkheimer die Zurechnung der Theorie zur befreienden Praxis des Proletariats programmatisch; doch die bürgerliche Organisationsform der Kritischen Theorie brachte schon damals Programm und Durchführung nicht zur Deckung“ (Krahl 1971: 287). Seine Kritik an Horkheimer fasste Krahl daher derart zusammen, „(…) dass schließlich in den Schriften des Alternden dieses unglückliche spätbürgerliche Bewusstsein resignativ den revolutionären Willen zersetzt, ohne den die Kritische Theorie nichts mehr ist“ (ebd.: 230).
Machtloses Individuum, autoritärer Staat und emanzipatorische Organisation
Parallel zur Rekonstruktion einer revolutionären Theorie der Gesellschaft ging es Krahl darum, ein „politisches Realitätsprinzip zu entfalten“ (ebd.: 278). Dieses sollte in einer neuen Form von Organisation langfristige Perspektiven für die Veränderung der Gesellschaft aufweisen. Die These von der veränderten kapitalistischen Vergesellschaftung ging hier ebenso konstitutiv ein wie sein weiter Begriff des Proletariats. Eine endgültige Fassung seiner politischen Überlegungen hat Krahl nicht mehr entwerfen können, seine Vorstellungen sind aber in einer frühen, dichten Form im „Organisationsreferat“ (Krahl 1984: 53) festgehalten, das er zusammen mit Rudi Dutschke für die 22. Delegiertenkonferenz des SDS im September 1967 verfasste.[9] Während Dutschke das Referat vortrug und strategische Überlegungen beisteuerte, stammte der analytische Teil des Referates weitgehend von Krahl (vgl. Lönnendonker et al. 2002: 382). Darin wird die BRD der sechziger Jahre mit dem Begriff Horkheimers als ein System des „integralen Etatismus“ analysiert, in dem die Menschen durch autoritäre Denkstrukturen und die systemkonforme Propaganda in Presse und Fernsehen nicht in der Lage seien, ihre eigene Unterdrücktheit adäquat wahrzunehmen (Krahl 1984: 58). Gegen Ende des „Wirtschaftswunders“ greife die Große Koalition mit der „konzertierten Aktion“ der Ära Kiesinger und besonders mit der Notstandsgesetzgebung verstärkt in den Produktionsprozess ein, der Staat hebe die kapitalistische Konkurrenz auf (ebd.: 55). Letztlich drohe sogar die Gefahr eines neuen Faschismus, der im Gewand einer formalen Demokratie erscheinen könne.
Aus dieser Analyse folgern Krahl und Dutschke, jede Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel müsse wieder auf den revolutionären Willen der Menschen setzen. Da die Produktivkraftentwicklung nicht zu einer Revolution geführt habe, sei Marx’ ökonomische Kritik des Anarchismus hinfällig und anarchistische Ideen in der Tradition etwa von Michail Bakunin müssten rehabilitiert werden (ebd.: 58). Der SDS müsse sich daher als bürgerliche Mitgliederpartei auflösen und die Aufklärung breiter Bevölkerungsschichten in Form von „revolutionären Bewusstseinsgruppen“ (ebd.: 58) vorantreiben. „Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt bilden die mobilisierenden Faktoren in der Verbreiterung der radikalen Opposition (…)“ (ebd.: 58). Das Vorbild dieses Einzelkämpfers war für Krahl und Dutschke in Anlehnung an Che Guevara der Guerillero der Dritten Welt: „Die ‚Propaganda der Schüsse’ (CHE) in der ‚Dritten Welt’ muss durch die ‚Propaganda der Tat’ in den Metropolen vervollständigt werden, welche ein Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität (…). Die Universität bildet seine Sicherheitszone, genauer gesagt, seine soziale Basis (…)“ (ebd.: 58 f).
Besonders durch die Artikel von Wolfgang Kraushaar, auch für die vorgänge (Kraushaar 1998), ist die Debatte um das „Organisationsreferat“ auf den Begriff der Stadtguerilla, die Gewaltbereitschaft der APO und ihre Beziehung zur RAF zugespitzt worden. Zwar zieht auch Kraushaar keine direkte Linie von den „irregulären Aktionen“ (Krahl 1984: 58) des Organisationsreferates zum Terror der RAF (vgl. Kraushaar 1987: 23; 31), dennoch deutet er Krahl und Dutschke als Vordenker einer militanten linksradikalen Opposition. Zu Krahls Verhältnis zur Gewalt ist zu sagen, dass es ihm um die Verbreiterung von Protest ging, um eine „Kultur- und Bewusstseinsrevolution in den Metropolen“ (Lönnendonker 2002: 381). Im „Organisationsreferat“ ist mit der Stadtguerilla daher vor allem ziviler Ungehorsam und ein neuartiges Aufklärungskonzept gemeint, und nicht militante Aktionen als Selbstzweck. Selbst wenn er sich zum Beispiel gegenüber Habermas von Gewaltanwendungen distanzierte (vgl. Lönnendonker 2002: 351), war für Krahl die Anwendung von Gewalt aber generell durchaus legitimierbar (vgl. Krahl 1971: 26). Irreguläre, auch illegale Aktionen waren dabei aber stets nur als Mittel zur Verbreiterung radikalen Protests gedacht. Der maoistische Ansatz der RAF, die blinden Terrorakte gegen einzelne Repräsentanten des Staates, sind dagegen mit Krahls Denken, das um die Befreiung des vereinzelten Individuums, langfristige Organisation und Theoriearbeit kreiste, in keiner Weise in Einklang zu bringen. „Marxistische Kritik und Selbstkritik hat mit ‚Selbstbefreiung’ nichts, dagegen mit revolutionärer Disziplin sehr viel zu tun“ (Hoffmann 1997: 28) – Phrasen wie diese aus einem Flugblatt der RAF stehen für genau die Form von autoritärem Bewusstsein und ontologisiertem Marxismus, die Krahl unter Verweis auf die Notwendigkeit antiautoritärer Ansätze immer wieder kritisiert hat (vgl. Krahl 1971: 311 ff).
Fazit
„Nicht an allem, was in dem Buch gesagt ist, halten wir unverändert fest. Das wäre unvereinbar mit einer Theorie, welche der Wahrheit einen Zeitkern zuspricht, anstatt sie als Unveränderliches der geschichtlichen Bewegung entgegenzusetzen“ (Horkheimer / Adorno 1988). Dieses Zitat aus dem Vorwort zur Neuauflage der „Dialektik der Aufklärung“ macht deutlich, dass Adorno und Horkheimer die in ihrem gemeinsamen Schlüsselwerk getroffenen Aussagen über die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft nicht für endgültige Wahrheiten hielten. Hans-Jürgen Krahl, durch die Kritische Theorie beeinflusst und doch ein völlig anders sozialisierter Denker, hielt den praktischen Pessimismus der Kritischen Theorie für nicht mehr zeitgemäß. Es bedeutete es für ihn sogar ein Widerspruch, nicht nach den Möglichkeiten einer revolutionären Politik zu suchen – in diesem Punkt war er sich etwa mit Herbert Marcuse durchaus einig. Krahls Kritik an der Kritischen Theorie – so wie Lukács Polemik gegen die Frankfurter Theoretiker, die es sich im „Grand Hotel Abgrund“ bequem gemacht hätten – ist wegen der Zuspitzung auf die individuelle Lebensführung Horkheimers und Adornos teilweise durchaus fragwürdig. Dennoch benannte sie sehr präzise die Aporien der Kritischen Theorie und ihre Beeinflussung durch die Erfahrung des Exils und des Faschismus. Indem er dem alternden Horkheimer dessen eigene Schriften aus den dreißiger Jahren vorhielt, erinnerte Krahl an die reale Hoffnung auf eine befreite Gesellschaft, die die Kritische Theorie ursprünglich inspiriert hatte. Dass Krahl im Gegensatz zu seinen Professoren eine Revolution für möglich hielt, erklärt sich einerseits aus seinen anderen Lebenserfahrungen, andererseits aus dem Kontext einer sich radikalisierenden Studentenbewegung, die jedoch in vielen Punkten völlig an der Realität vorbeiging. Krahls praktische Vorschläge, wie sie im „Organisationsreferat“ festgehalten sind, bildeten eine nachvollziehbare Konsequenz aus seiner Analyse der spätkapitalistischen Gesellschaft, auch wenn seine Ansprüche oft wenig mit der realen Situation des SDS oder der APO zu tun hatten. Sein voluntaristischer Dreh in der Kritischen Theorie und sein Avantgardedenken, das teilweise noch leninistische Züge trug, müssen heute aber ebenso wie die völlige Fehleinschätzung der sozialen Lage zum Zeitpunkt des „Organisationsreferates“ einer deutlichen Kritik unterzogen werden. Der Gedanke, dass der Weg zu einer befreienden Praxis tatsächlich für den Moment versperrt sein könnte, wurde von Krahl nicht ausreichend reflektiert. „Aber die Behauptung, daß die Menschen ihre Geschichte bewußt gestalten können, schließt weder die Behauptung ein, daß sie es stets tun, noch, daß sie es jeweils zum Besseren richten. Kritische Theorie hält aber den Gedanken an diese Möglichkeit fest“ (Greven 1994: 15). Hans-Jürgen Krahl steht für den Versuch, eine kritische Gesellschaftstheorie trotz der Übermacht des Bestehenden voranzutreiben und die Möglichkeit praktischer Veränderung aus der Kritik abzuleiten. Eine Aufgabe, vor die sich Kritische Theorie auch heute noch gestellt sieht.
[1] Das Kondolenzschreiben Horkheimers vom 19.02. 1970 ist im Horkheimer-Archiv der Universität Frankfurt unter der Signatur V.97/270 einzusehen. Die falsche Zeichensetzung und Rechtschreibung sind dem Original entnommen.
[2] Zu Krahls Biographie vgl. Claussen 1998; Kraushaar 1998.
[3] Über die Hintergründe von Krahls Kehrtwende zum Linksradikalismus lässt sich hier nur spekulieren. Er selbst erklärte sie in seinen „Angaben zur Person“ als Annahme eines proletarischen Klassenstandpunktes: „Nachdem mich die herrschende Klasse rausgeworfen hatte, entschloss ich mich dann auch, sie gründlich zu verraten, und wurde Mitglied im SDS“ (Krahl 1971: 22).
[4] Zu leninistischen und maoistischen Tendenzen in der Studierendenbewegung hat Krahl sich verschiedentlich kritisch geäußert, vgl. unter anderem Krahl 1971: 311 f; 278 ff; 303 ff.
[5] Der Band „Konstitution und Klassenkampf“ ist in einer eigenwillig falschen Rechtschreibung verfasst, die aber durch die Ersetzung des „ß“ durch „ss“ teilweise der neuen deutschen Rechtschreibung gleicht. Eine kritische Neuauflage des Bandes, vom Verlag Neue Kritik schon vor Jahren angekündigt, lässt leider weiter auf sich warten. Im Folgenden wird auf die Korrektur der Zitate aus „Konstitution und Klassenkampf“ durch [sic] verzichtet.
[6] Auch Kraushaar bringt das Zitat mit dem Denken Krahls in Verbindung, vgl. Kraushaar 1987: 26.
[7] Obwohl Krahl in seiner Gegenwartsanalyse einige zentrale Topoi von Marcuse übernahm, kritisierte er ihn scharf als von Heidegger beeinflussten Existentialisten (vgl. Krahl 1971: 98 ff; 122 ff). Die Kritik an Marcuse scheint Krahl aber insgesamt nicht so wichtig gewesen zu sein wie die an seinen Frankfurter Lehrern Adorno und Horkheimer.
[8] Krahls Kritik an der Kritischen Theorie ist vor allem zu finden in seinen Textfragmenten „Der politische Widerspruch in der Kritischen Theorie Adornos“ (Krahl 1971: 285 ff), „Kritische Theorie und Praxis“ (ebd. 289 ff) sowie in einem Diskussionsbeitrag zur Kritischen Theorie bei Max Horkheimer (ebd.: 230 ff).
[9] Das Organisationsreferat galt jahrelang als verschollen und wurde nach seiner Wiederentdeckung seit den späten achtziger Jahren besonders von Wolfgang Kraushaar immer wieder zur Diskussion gestellt. Kraushaar legt in seinen Interpretationen den Fokus auf Rudi Dutschke und dessen Gewaltbereitschaft, ihm geht es besonders um die Verbindungslinien zwischen der antiautoritären Studentenbewegung und dem Terror der RAF. Vgl. zum Organisationsreferat auch Lönnendonker et.al. 2002: 379 ff., Kraushaar 1987, Kraushaar 2005.
Literatur
Adorno, Theodor W. 1969: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: ders. Gesammelte Schriften 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt a.M., S. 759-782.
Adorno, Theodor W. 2007: Vorlesungen über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, Frankfurt a.M.
Claussen, Detlev 1998: Hans-Jürgen Krahl -Ein philosophisch-politisches Profil, in: Kraushaar, Wolfgang (Hg.) 1998: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995. Band 3: Aufsätze und Kommentare, Register, Hamburg, S. 65-70.
Der SPIEGEL, 5. Januar 1970: „Was wir ‚Sinn’ nennen, wird verschwinden“ SPIEGEL- Gespräch mit dem Philosophen Max Horkheimer, Hamburg, S. 79-84.
Dutschke, Rudi / Hans-Jürgen Krahl 1967: Organisationsreferat, in: Hans-Jürgen Krahl 1984: Vom Ende der abstrakten Arbeit, Frankfurt a.M., S. 53-59; außerdem in: Wolfgang Kraushaar (Hg.) 1998: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 19461995, Band 2: Dokumente, Hamburg, S. 287-290.
Greven, Michael Th. 1994: Kritische Theorie und historische Politik, Theoriegeschichtliche Beiträge zur gegenwärtigen Gesellschaft, Opladen.
Hoffmann, Martin (Hg.) 1997: Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin. Horkheimer, Max 1933: Dämmerung. Notizen in Deutschland, in: ders. Gesammelte Schriften 2: Politische Frühschriften 1922-1932, Frankfurt a.M., 309-452.
Horkheimer, Max 1940: Autoritärer Staat, in: ders. Gesammelte Schriften 5: „Dialektik der Aufklärung“ und Schriften 1940-1950, Frankfurt a.M., 293-31 9.
Horkheimer, Max / Theodor W. Adorno 1988: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.
Krahl, Hans-Jürgen 1970: Ausgewählte Werke – Aufsätze, Fragmente, Exzerpte, Notizen, Helsinki.
Krahl, Hans-Jürgen 1971: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Schriften, Reden und Entwürfe aus den Jahren 19661970, Frankfurt.
Krahl, Hans-Jürgen 1984: Vom Ende der abstrakten Arbeit. Die Aufhebung der sinnlosen Arbeit ist in der Transzendentalität des Kapitals angelegt und in der Verweltlichung der Philosophie begründet, Frankfurt a.M Kraushaar, Wolfgang 1987: Autoritärer Staat und Antiautoritäre Bewegung. Zum Organisationsreferat von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der 22. Deligiertenkonferenz des SDS in Frankfurt (4.-8. Sept. 1867), in: ders. 1998: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Band 3, Hamburg, S. 15-33.
Kraushaar, Wolfgang (Hg.) 1998: Einleitung: Kritische Theorie und Studentenbewegung, in: ders. 1998: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Band 1, Hamburg, S. 17-32.
Kraushaar, Wolfgang 2005: 1968 und die RAF -Ein umstrittenes Beziehungsgeflecht, in: vorgänge 171/172, Sept./Dez. 2005, Heft 3/4, S. 208-220.
Lönnendonker, Siegward / Rabehl, Bernd / Staadt Jochen 2002: Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD, Band 1: 1960-1967, Wiesbaden.
Lukács, Georg 1988: Geschichte und Klassenbewusstsein, Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt / Neuwied.