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Immer noch 68

aus: vorgänge Nr. 181, Heft 1/2008, S. 79-86

Ich stehe hier und kann nicht anders, als eine Fahne hochzuhalten. Diese Fahne ist ein bisschen abgewetzt, sie ist da und dort auch mit einigem Blut bespritzt, sie sieht schäbig aus, und ich – sicher ein bisschen auch lächerlich – halte diese 68er Fahne hoch. Wenn einem doch etwas an 68 überhaupt nicht gefallen kann, etwas so gar keinen Sexappeal besitzt, dann die 68er, die Überlebenden dieser Revolte. Jammerlappen, die nicht merken, dass sie gesiegt haben. Aber wie jede historische Bilanz: eindeutig fällt sie nicht aus. Eine Geschichte hochfahrender Irrtümer, aber auch großartiger Momente, vermischt in der Rückschau mit einer unerträglichen Sentimentalität, was man denn damals gewagt habe und Tolles erlebt. Dass 68 bei vielen Jüngeren in keinem guten Ruf steht, ich verstehe es, daran sind die 68er Schuld, nicht aber 68.

Going home von den Rolling Stones dauerte 11 Minuten und ein paar Sekunden mehr, das erste Stück populärer Musik, das das Format einer 2-Minuten-Single überschritt und damit direkt zu 68 führte. Die Überschreitung des Vorgegebenen, das ist 68, die Langspielplatte das 68er Medium, 68 nicht politisch allein, sondern auch und wahrscheinlich sogar in der Hauptsache eine Kulturrevolution, eine Umwälzung in den Sitten, den Formen des Zusammenlebens, eine Rebellion gegen das, was Staaten sich alles zu regeln anmaßten, und darin eine Erfolgsgeschichte. Deshalb doch auch die sexuelle Befreiung, deshalb doch auch 68 als der Beginn des Feminismus. Hier kam vieles zusammen. Als der Teufel, Fritz, von einem Hohen Gericht aufgefordert wurde, sich für seine Aussage als Angeklagter von seinem Platz zu erheben, antwortete er: „Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient“, und damit hatte sich der Teufel natürlich unsere Sympathie erworben, auch in der Gestalt von Fritz Teufel. Wenn sie denn so böse auf uns waren, die anerkannten Autoritäten, dann waren wir eben böse und grölten bei den Rolling Stones und ihrer Sympathy for the devil mit. Und noch einmal die Rolling Stones und nachdem ihr so friedliches, und natürlich kommunistisch freies free-concert im Hyde-Park zur Katastrophe von Altamont führte mit einem ein paar wenige Meter von der Bühne entfernt erstochenen Schwarzen, da hatte die 68er Kulturrevolution ihren schwarzen Tag. Und wir hatten doch gleich auch unseren Charlie mit dabei, den Beatles-Fan Manson, den Manson, den böse gewordenen Menschensohn und seine Jünger, die family, seine Mörderbande. Wir hatten nicht nur unsere eigenen Toten zu beklagen, die Springer-Presse wegen des Attentates auf Rudi Dutschke anzuklagen, wir hatten auch unsere Opfer und unseren Terror. „Gewalt hat sehr viel mit Harmonie zu tun“, so Charles Manson sehr viel klarer, als dies ein überideologisierter Andreas Baader hätte sagen können, und weiter: „Man kann die Intelligenz nicht erreichen, also greift man zu ihr, greift man zur Gewalt.“

Die stalinistische Tonnenideologie überwinden, vom Schwermetall zur Software – diesen technologischen Schritt und sicher auch Fortschritt mit zu vollziehen, reden wir gar nicht davon, ihm avantgardistisch voranzugehen, das war diesem Sozialismus nicht möglich, in den ich hineingeboren wurde, in dem ich heranwuchs, dessen Widersprüche mich zu einem 68er werden ließen. Sein Ende ganz klassisch marxistisch dann damit zu erklären, dass auch hier wieder mal die Entwicklung der Produktivkräfte die Produktions- und damit auch Eigentumsverhältnisse revolutionär sprengte. Wobei wir natürlich nicht vom Volkseigentum reden, dessen VEB nur an den Fabriktoren stand, nicht aber dem entsprach, wer allein in diesen Fabriken das Sagen hatte. Das, was dem tschechischen und auch unserem DDR-68 vorangegangen war, diese Reformbestrebungen, die es überall in den sozialistischen Staaten gegeben hatte, dabei ging es doch um das, was in dem Titel dieses bemerkenswerten Buches Programm wurde, bei dem der Schriftsteller György Konrád mitgeschrieben hat, der spätere Präsident der Akademie der Künste in Berlin: Die Intelligenz ergreift die Macht. Aber nein, sie hat es nicht geschafft, die Intelligenz, die Macht zu ergreifen, sie wurde daran von den obersten Parteibürokraten gehindert. Versucht man sich, wiederum marxistisch, an einer Klassenanalyse dieser auch im Osten 68 kulminierenden Entwicklung, dann wird man auf die Intelligenz als die sie tragende Schicht stoßen, auf die Intelligenz als Klasse eines etwas erweiterten Klassenbegriffs. Das war doch nicht Sache der Arbeiter, der Arbeiterklasse, im Osten wie im Westen nicht, wir wenigen Ost-68er nicht ohne soziologischen Grund Kinder genau dieser Intelligenz – auch deshalb gibt es hier diesen inneren Zusammenhang zwischen 68 im Osten und im Westen. In Polen, das immer der DDR ein bisschen voraus war, auch dort gab es doch einen, natürlich brutal niedergeschlagenen Studentenaufstand, einen also der Intelligenz, der zukünftigen, der werdenden, die allein den Schritt in das Computer-Zeitalter hätte gehen können. 68, das Scheitern von 68, das ist, auch so gesehen, der Anfang vom Ende des Sozialismus.

Wenn es 68 in San Francisco gegeben hat, in Chicago, Paris und in Warschau, in Prag, Florenz und Mailand und in Frankfurt und West-Berlin, dann wird es doch wohl auch ein 68 in Ost-Berlin gegeben haben – noch nie davon gehört? Wir waren eine so kleine radikale Minderheit, wir mussten gar nicht groß radikal sein. Ihr wart zu dritt? Nein, wir waren zu siebent, wie sich herausstellte, aber doch eigentlich ein paar mehr. Geschätzte 300, wenn`s hoch kommt, nach oben hin aufgerundet. Wir hätten uns ohne weiteres in einem Kulturhaus versammeln können. Ihr hättet es tun sollen, dabei hätte sich sicher vieles klären lassen. Aber das ging doch gar nicht, ein Ding der Unmöglichkeit, sich da im Osten der Verbote unter Gleichgesinnten in einem Kulturhaus zu versammeln. Da hätte doch die Stasi gut ein Auge auf euch haben können, alle auf einen Haufen. So ein bisschen ein Auge hatte die Stasi auf uns, sie nannte uns den Diskussionsclub in ihren Akten. Aus denen das ja dann heute zu entnehmen sein müsste, onsclub in ihren Akten. Aus denen das ja dann heute zu entnehmen sein müsste, wie viele ihr wart. Da stehen ja dann nicht alle drin, eine Aufstellung der 68-Verdächtigen findet sich dort nicht. Und ihr habt natürlich auch keine Mitgliederlisten geführt. Niemals, das war ein rein informeller Zusammenhang. Wir haben Party gemacht. Also doch keine Diskussionen? Am Rande, und das ärgerte mich ja, der ich für Diskussionen war. Gib es zu, du warst der einzige 68er im ganzen Osten. Du allein. Alles nur Einbildung. Ich erwache aus einem Alptraum.

Gut, sprechen wir ein paar Sätze lang auch über diese Marginalie, über die 68er im Osten. Wir waren zu siebent damals, waren im Osten nur sieben 68er, mehr nicht. Jedenfalls sieben wahre 68er – sehen Sie, wenn Sie mir dies auch nur einen Moment abgenommen haben, dann sind Sie mir schon auf den Leim gegangen, und dies nicht nur wegen den sieben, den glorreichen Sieben, wegen dem von mir behaupteten Fähnlein der sieben Aufrechten, die damals gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei protestiert haben, dafür ins Gefängnis gingen, wegen staatsfeindlicher Hetze verurteilt wurden, denn natürlich waren wir schon ein paar wenige mehr (und es waren auch ein paar mehr, die in der DDR deswegen im Knast gesessen haben), sondern auch weil Sie sich zumindest gedanklich auf diesen Irrsinn mit den wahren 68ern eingelassen haben. Denn natürlich gibt es das nicht, ist auch im Osten dieser Unterschied nicht zu machen, zwischen wahren und dann unwahren, zumindest nur halbgaren 68ern. Kein 68 war ein wahrer 68er und könnte dies von sich behaupten, ein wahrer 68er gewesen zu sein. Trotz aller Unterscheidungen, die natürlich zu machen wären, zumindest akademisch. Wussten Sie eigentlich, dass wir 68er gar nicht wussten, 68er zu sein? Das scheint banal, ist es aber nicht ganz, denn als 68er dachten wir doch, mit 68 beginne etwas, das weit über 68 hinausgeht und niemals ende. Wie endlich zum Beispiel diese DDR sein würde, und damit der real existierende Sozialismus auf deutschem Boden und russischen Bajonetten, das ahnten wir doch nicht, wir nahmen doch sicher an, das dauert ewig und dauert nur deshalb nicht ewig, weil aus dem real existierenden doch noch der wahre Sozialismus werde, dank unseres Dazutuns zum Sozialismus, und aufgrund unserer permanenten Revolution dann auch noch der Kommunismus bis in alle Ewigkeit der Geschichte.

Hineingeboren in den Sozialismus, und das machte schon mal einen entscheidenden Unterschied zum Westen, den West-68ern, die sich ihren Sozialismus selber erfunden oder doch mehr akademisch in den damals angesagten Büchern vorgefunden und sich angeeignet haben. Für uns gegeben, nicht etwas, auf das wir von selber gekommen wären. Ausgangspunkt, starting point, keine Errungenschaft, nichts, das auf unserem eigenen Mist gewachsen wäre. Die Regierenden: Genossen, die Unterdrücker von 68: Genossen, Sozialisten wie wir. Wenn auch andere Sozialisten, aber Sozialisten. Und keine alten Nazis, gegen die wegen ihrer braunen Vergangenheit aufzubegehren gewesen wäre. Alles andere als Nazis, Anti-Nazi, Antifaschisten mit einer insoweit sauberen, keiner kackbraunen Vergangenheit, von der wir uns hätten reinwaschen müssen. Mit einer allerdings stalinistischen Vergangenheit, die aber doch auch unsere Vergangenheit war. Selber nur geläuterte Stalinisten, aber immer noch Enthusiasten und damit irgendwie doch immer noch Stalinisten, denen es nun zu lasch geworden war, nicht mehr revolutionär und radikal genug zuging, die auf den neuen Menschen hin marschierten.

Ein 68er Ost-West-Unterschied: Bildung, zum ersten Mal genossen, berauscht, steigt einem zu Kopfe, versetzt in einen Begeisterungstaumel, der einem zu dem Irrglauben verleitet, man könne eben mal die Welt verändern und das dann gleich ganz grundsätzlich. Die erste Dröhnung Bildung hat doktrinäres Denken zur Folge, etwas, das schlimmer noch ist als die alte Unbildung mit ihrem naiven Charme. Die Naivität bleibt, der Charme des ungebildeten, aber geraden oder verschlagenen Charakters verschwindet, Fanatiker entstehen, Leute, die an das Erstbeste oder Allerschlechteste zu glauben bereit sind, was ihnen bei dem Abenteuer Bildung, mehr oder minder zufällig oft, als Erstes begegnet ist. Die Naivität bleibt erst bestehen, sie verwandelt sich in Gewalttätigkeit, der des die komplexe Welt vergewaltigenden, des sie allzu vereinfachenden Gedankens. Von der Doktrin zur Propaganda der Tat, von der Propaganda der Tat zur Tat, zur Aktion. Hirngespinste, die dann des Nachts wirklich als Gespenster umgehen, um im Namen der Befreiung der Menschheit irgendwelche Polizisten-Schweine umzubringen, Polizisten, die der Gedanke erst einmal entmenscht und zu Schweinen gemacht hat. Ich vereinfache das, aus meiner elitären Ost-Perspektive heraus, denn natürlich schickten die alteingebildeten Bildungsbürger weiterhin ihre Söhne und zunehmend auch ihre leicht von der Militanz angesteckten Töchter zur Universität. Aber es drängten nun ganz andere junge Leute da massenhaft hinein, die Kinder bisher bildungsferner Klassen und Schichten, die der höheren, der dann akademischen Bildung über mehrere Generationen langsam näher gekommen waren. Die Universitäten drohten zu platzen, die Massenuniversität entstand, und für 68 im Westen gilt das, was Mao für ganz andere Verhältnisse und Menschen als Losung ausgegeben hatte: Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Wir dagegen im Osten, wir Ost-68er, wir waren ein ganz elitärer Club, die Kinder von Familien, die schon über mehrere Generationen Bildung hinter sich hatten, die doktrinäre Phase spätestens in uns überwanden. Wir wollten das Doktrinäre hinter uns lassen, den Dogmatismus des Denkens überwinden, wir wollten im Denken frei sein, wir wollten den unfertigen Gedanken denken. Wir zweifelten, bezweifelten, was uns an Doktrin vorgesetzt worden war, wir wollten keine alte durch eine neue Doktrin ersetzen. Auch nicht durch eine von uns selber zu schaffende. Ein weiterer 68er Ost-West-Unterschied, der hierher gehört: wir sind in den Sozialismus hineingeboren, wir haben ihn nicht für uns entdeckt. Für uns war das keine Welterklärungstheorie mehr, die stimmte, wir sahen, was an ihr nicht stimmte, nicht mit unserer eigenen Erfahrung übereinstimmte. Natürlich waren wir Sozialisten, das war unser Ausgangspunkt, aber wir waren kritische Sozialisten, den Sozialismus kritisierende Sozialisten.

Dass es sich bei diesem ganzen Ost-68 um ein Oberschicht-Phänomen gehandelt hat, worauf ich ja immer wieder bei Gelegenheit hinweise, wozu ich mich als beteiligter DDR-Oberschicht-Bubi, der dann später und in Folge von 68 andere Schichten und Klassen kennen gelernt hat, auch offen bekenne, das erkennt man ganz gut daran, dass wir, die wir doch in diesem Knapp-Land DDR mit seiner immer wieder an der Katastrophe vorbei schlitternden Mangelwirtschaft lebten, unsere westlichen Kampf- und Gesinnungsgenossen in ihrer Abwehr der Konsumgesellschaft, ihrem Ekel vor dem bloßen materiellen Wohlstand, der geistlosen Verschwendung sehr wohl verstehen konnten. Auch uns erschien dies kein lohnendes Ziel, da in der Hauptsache materielle Bedürfnisse befriedigen zu wollen, die Gier nach Konsumgütern war auch für uns abstoßend und es gefiel uns gar nicht, dass sich dieser Sozialismus, der in unserem Sozialismus von der Sozialistischen Einheits-und Staatspartei propagiert wurde, in diesem entscheidenden Punkte so wenig von den Zielen des westlichen Kapitalismus zu unterscheiden schien. Aber, wie gesagt: Oberschicht, wir litten ja diesen Mangel nicht, der der nominell herrschenden Arbeiterklasse, der dem die volkseigenen Betrieben besitzenden Volk das Leben in diesem Staat, der unser war, nicht ihrer, so schwer und sauer machte. Wir litten daran, nicht alle Bücher, die wir gern gelesen, die Schallplatten, die wir gern gehört hätten, kaufen zu können, und das eben nicht, weil wir sie uns nicht hätten leisten können, sondern weil verboten, verpönt und nicht zu haben, nur aus dem Westen zu besorgen. Woran wir litten, das war der Mangel an Freiheit in diesem Staate.

Sie erinnern sich an das Manifest der 2000 Worte? Ich meine, wenn man nicht mehr zu sagen hat, endlich frei sprechen kann – aber genau dies war doch genau der Inhalt dieses Manifests, deshalb auch sein Titel, der nur zu verstehen ist, wenn man an dieses andere Manifest denkt, das von Marx und Engels in der Nachfolge von 1848 verfasste und in den Staaten des Ost-Blocks allein als Manifest geltende Kommunistische Manifest. Keine Ideologie, Anti-Ideologie. Kein wirkliches Gegenprogramm. An ein Gegenprogramm war nicht zu denken, und es war auch besser, an keines zu denken, da dies nur auf eine Utopie hinausgelaufen wäre, die schöne Vorstellung von einem Sozialismus, den es im Sozialismus gar nicht hätte geben können. Politisch waren wir 68er im Osten Anhänger des demokratischen Weges, etwas Besseres fiel auch uns nicht ein. Also Sympathisanten der Prager Entwicklung, der Prager Frühling auch für uns ein Aufbruch. Wir konnten uns da politisch nur dranhängen. Aber um dies klarzustellen: 1968 in Prag und auch uns, die wir diese Entwicklung dort verfolgten, ging es um einen demokratisierten Sozialismus, nicht um den demokratischen Sozialismus, den viele in der Linken der sich jetzt erneuernden Partei noch einmal ins Programm schreiben wollen. Dieser demokratisierte Sozialismus, der 1968 möglich schien, er ist mit dem so wenig demokratischen, so sehr aber realen Sozialismus untergegangen. Da gibt es nichts wieder zu beleben, nichts, woran anzuknüpfen wäre, das gehört alles in eine abgeschlossene historische Epoche.

Ansonsten sage ich hier nur soviel dazu: Aus der Entwicklung in Prag, dem Prager Frühling und dem Einmarsch dann im August, aus beidem zusammengenommen waren für einen sozialistischen Oppositionellen drei mögliche Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn wir außen vor lassen, welche Schlüsse die Parteioberen daraus gezogen haben mögen. Die erste mögliche Schlussfolgerung war die, und mein Bruder hat sie gezogen, der mit mir wegen unserem Protest gegen den Einmarsch im Gefängnis gesessen hat, und mit ihm auch viele andere: man müsse, da die ganze Entwicklung in Prag von der Partei ausgegangen war, selber in die Partei eintreten, um sie, die einzige politische Wirklichkeit, von innen heraus zu verändern, in ihr auf eine der Prager Entwicklung vergleichbare Veränderung hinwirken. Ich war damals strikt gegen diese Schlussfolgerung, in der Meinung auch, dass eher die Partei diejenigen verändern, weil zur Anpassung zwingen würde, die in sie eintreten, um die Partei zu verändern. Im Nachhinein weiß auch ich, dass es gut war, dass damals so viele eigentlich kritische Geister zu Genossen der SED wurden, an der sie dann so sehr verzweifelten. Denn dies hat mitgeholfen, dass diese Staatspartei, ohne ihre Macht wirklich anzuwenden, 1989 abgetreten ist, von der Macht gelassen hat. Die zweite der möglichen Schlussfolgerungen setzte, im Unterschied von der von mir hier zuerst genannten, nicht daran an, welche Kräfte denn die Prager Entwicklung in Gang gesetzt hatten, sondern daran, wer sie so brutal beendet hatte: die sowjetischen Genossen mit ihrer Breschnew-Doktrin. Eine solche Entwicklung wie die in Prag müsse also in Moskau, in der Sowjetunion stattfinden, im Zentrum des sozialistischen Blocks, soll ein solcherart demokratisierter Sozialismus eine Chance haben, denn sonst kämen immer die imperialen Interessen der Sowjetunion ins Spiel, ihre Furcht im Kalten Krieg, in der Konfrontation mit dem so starken Westen einen Verbündeten zu verlieren, einen vorgeschobenen Posten auch für die Rote Armee. Dies war die Schlussfolgerung, die mein Vater gezogen hat, dies war auch die gedankliche, die visionäre Vorwegnahme dessen, was Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika wollte. Nur, wie sich herausstellte, war es da längst zu spät für einen demokratisierten Sozialismus. Zum Glück vielleicht für meinen Vater hat er diese Enttäuschung nicht mehr erleben müssen. Die dritte Schlussfolgerung, und das war meine Schlussfolgerung, war die, dass sich ein Einsatz für einen demokratisierten Sozialismus nicht mehr lohne und dass es sich schon gar nicht mehr lohne, in der DDR wegen seiner abweichenden politischen Meinung noch einmal ins Gefängnis zu gehen. Denn dies hätte doch nicht ausbleiben können, oder es wäre statt des Gefängnisses die Irrenanstalt gewesen, in die sie einen gesteckt hätten. Mit Prag, mit dem Prager Frühling habe der Sozialismus seine letzte Chance gehabt, mit dem Einmarsch in Prag, der Niederschlagung dieses Versuchs, den Sozialismus zu demokratisieren, sei diese letzte Chance verspielt worden. So das, was ich mehr gefühlsmäßig als wirklich durchdacht, in vielen kleinen Schritten mir langsam darüber klarwerdend, aus dem Prager Jahr 1968 schloss, nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen worden war. Mich noch einmal für diesen Sozialismus zu engagieren, dem ich keine Zukunft mehr gab, das wollte ich nicht, wegen eines solchen Einsatzes noch einmal ins Gefängnis kommen, schon gar nicht. Da ich sicher in diesem Staat DDR, der immer wieder die opportunistische Anpassung von seinen Bürgern verlangte, angeeckt wäre, blieb eigentlich nur die Flucht – nicht die in den Westen, die aus dem Osten weg. Ich war ja dann nicht der einzige, der diese Schlussfolgerung gezogen hat, für die es, im Unterschied zu den beiden anderen möglichen, keine wirklich rationalen Argumente gab. Die Geschichte hat uns recht gegeben – leider, denn mir zumindest wäre doch lieber gewesen, ich hätte mich da geirrt.

68 endete ja nicht wie ein normales Jahr am 31. Dezember und am Silvesterabend. 68 war kein normales Jahr und am Silvesterabend sahen wir die Beatles im Fernsehen mit ihrem Abgesang auf die Revolution, den Song, der nur Revolution hieß, aber Evolution predigte. Spätestens da wussten wir, dass wir längst schon in einer anderen Epoche lebten, nach diesem kurzen Zwischenspiel 68. In Paris endete 68 wohl schon Ende Mai, wenn ich dies so aus der Ferne einschätzen kann, dort, im revolutionserprobten Paris dauerte das ganze 68 wohl gar nicht länger als nur diesen Mai lang. In West-Deutschland, in West-Berlin ganz besonders, endete 68 am Tag des Attentats auf Rudi Dutschke. Und für uns im Osten endete 68 definitiv am 21. August, am Tag des Einmarsches in die Tschechoslowakei. An diesem Tag endete unser Ost-68, wurde es brutal beendet – dies jedoch nicht, weil der Prager Frühling so sehr auch unser Ost-Berliner Frühling und wenigstens Frühlingstraum gewesen wäre.

Wir nahmen das natürlich wahr, was da in Prag geschah, insoweit man dies von Ost-Berlin aus überhaupt wahrnehmen konnte, sehr eingeschränkt nämlich nur. Wir sympathisierten auch mit dieser Entwicklung dort und staunten nicht schlecht, dass ein Mann wie Dubcek einfach so dort in Prag auf der Straße herumging, ganz spontan von der Leuten angesprochen wurde, gefeiert wurde – keiner unserer Oberen hätte dies gewagt. Aber unser 68er Ding war doch etwas anderes, etwas sicher sehr viel nebulöseres als dieser konkrete Prager Versuch, den Sozialismus zu demokratisieren. Wir wollten alles, alles auf einmal, eine andere Art von Politik, von Opposition auch, nicht mehr diese Trennung zwischen dem Politischen, dem Privaten, eine andere Art des Zusammenlebens, die wirklichen, weil freiwilligen Kollektive und Kooperationen, Zusammenarbeit, Freundschaft, Liebe und natürlich eine andere, eine freiere Art der Sexualität, eine andere Kunst, besonders diese andere, diese berauschende Musik, andere Räusche auch – also viel zu viel auf einmal und deshalb kam aus unserem 68, für das wir ein halbes Jahrhundert gebraucht hätten, natürlich so viel erst einmal gar nicht heraus. Dieser Einmarsch aber, der den Prager Frühling am 21. August beendete, er zwang uns eine Reaktion auf, eine deutliche Stellungnahme dagegen. So nicht. Nicht mehr. Aber dass wir zu reagieren glauben müssten, schon dies war unser Ende von 68, wo unser 68 doch bedeuten sollte, endlich selber zu agieren, aus der Passivität herauszukommen, einer bloßen Meinungsopposition auch. Nun mussten wir diese Entscheidung unser Oberen parieren, mussten wir diese Herausforderung annehmen. Ohne das 68 davor hätten wir dies nicht getan, aber es beendete unser 68. Es beendete unser 68 ganz brutal auch deshalb, weil von den wenigen Ost-68ern dann nur ein paar wenige, zu wenige diese Herausforderung annahmen, die meisten von uns sich doch feige verdrückten. Damit, dass wir wenigen von den wenigen ins Gefängnis kamen, war die Party vorbei, und da half dann auch keine Silvesterparty mehr, die das Jahr 1968 ganz regulär beendete.

Aber natürlich endete 68 gar nicht mit dem Jahr 68. 68 ging doch weiter, und geht weiter bis in unsere Gegenwart, wir leben in der Nach-68er-Epoche, und eigentlich begann 68 erst richtig nach 68. Das, was 68 angelegt und begonnen worden war, fruchtete sehr viel später. Eine Erfolgsgeschichte, nur sah es direkt nach 68 gar nicht danach aus. Und 68 begann auch, genauso wenig wie 68 mit 68 endete, im Jahre 68. Ohne einen Vorlauf hätte es doch dazu gar nicht kommen können, dass in diesem Jahr die Dinge so sehr kulminierten und auch ins Politische eskalierten. Die Kulturrevolution, die 68 eigentlich gewesen ist, sie begann früher, sie dauerte auch viel länger als 68. Weil eine Kulturrevolution, eine Umwälzung der Sitten eben länger braucht. Nicht nur das Betreten des Rasens war doch vor 68 verboten, was eine rebellische Jugend natürlich dazu verleiten musste, den Rasen zu betreten (heute betreten ihn alle), es gab auch noch ein paar mehr dieser Empfehlungen, auf die sich jeder ordnungsliebende Bürger als freiwilliger Hilfspolizist berufen konnte. Fasse Dich kurz!, stand in der Telefonzelle und natürlich wollten wir uns nicht kurz fassen, weder in der Telefonzelle, noch in anderen Zellen, auch der kleinsten des Staates nicht, der Familie. Und am Revers packen lassen, das wollten wir noch weniger, wir trugen ja auch deshalb keine Jacken mehr, an deren Kragen man uns hätte packen können. Unendliches Gelaber, nicht auf den Punkt kommen, kein politisches Programm, bloß nicht – unser Ost-68 dauerte so kurz, dass wir da nichts fabriziert haben, dessen wir uns heute schämen müssten, unser 68 im Osten, das war 68 quasi in der Nuss-Schale und alles in einem, nicht ausdifferenziert, eine Sache der Provinz, aber natürlich der Hauptstadt dieser Provinz, von ein paar jungen Leuten, die sich etwas Besseres dünkten. Gegen die Normen ihrer Kleingartenanlage aufbegehrten. Aber auch bei einer Revolte, nicht erst bei einer Revolution, gibt es immer Gewinner und Verlierer, auch bei einer solchen halbwegs und erstmal gescheiterten, auf längere Sicht dann aber doch erfolgreichen. Und es gibt die, die erst als Verlierer dastehen, dann aber doch auf lange Sicht gewinnen, und zu denen gehöre ich wohl, Verfassungsrichter nun, zum Glück aber auch immer noch umstrittener Buchautor. Und es gibt sie, die Akademiker, die am Ende immer gewinnen, für die sich irgendein Job, ein Auskommen aus dem ergibt, was andere getan, gewagt haben.

The year of the clown. Keine Angst davor zu haben, sich lächerlich zu machen, das war 68. In den Augen der Angepassten, der Opportunisten unvernünftig zu sein, sich unglaublich wichtig nehmen, das war 68, ein nach allen ansonsten geltenden Maßstäben hypertrophes Selbstwertgefühl. Sich selber endlich wichtiger nehmen als die Sache, den Sozialismus im Osten, und die vielen Sachen, die materiellen Güter im Westen. In der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse noch keine Befriedigung finden, das war 68. Mit einem Sinn für Höheres in einem Wolkenkuckucksheim leben, jenseits der Banalität des Alltagslebens. Der Ausnahmezustand, der friedliche, der dann leider doch nicht für immer die Regel außer Kraft setzte. Die Rebellion nun nicht mehr ohne Grund. Die Revolte mit so vielen Gründen, das sich bald niemand mehr mit ihnen auskannte, sie viele vollkommen durcheinander brachten, sich in ihren Fallstricken verhedderten. Die Zeit von Marx und den Marx-Brothers. Eine Linke, die neu sein wollte. Menschen, die mehrdimensional werden wollten. Das große ideologische Durcheinander. Das Chaos der Weltreligionen. Jesusfreaks und andere Erlöser. Lesben, die zu predigen begannen. Die Frauen, die sich zu bewegen anfingen. Studentinnen, die ihren Professor mit dem blanken Busen in die Flucht schlugen. Schöne junge Frauen, die sich hässliche Nietenhosen anzogen. Anti-Mode. Akademiker in Arbeitsklamotten. Die Emanzipation des Kleinbürgers vom Kleinbürger. Das Ende aller Ordnung. Junge Männer, die sich nicht scheuten, mit ihren hohen Stimmchen nette Lieder zu trällern. Die sich die Haare weibisch lang wachsen ließen. Sich mit Ketten behängten, sich in Blumenmuster kleideten. Die nur noch märchenhafte Phantasieuniformen anziehen wollten. Die Verweiblichung der bis dahin so forcierten Männlichkeit. Nackend im Park. Auf der Betreten-verboten-Wiese. Die Verbote, die mit einem Mal nur dazu da schienen, übertreten zu werden. Die Befreiung der Sexualität von ihren kleinbürgerlichen Fesseln und Tabus. Tanzen, ohne eine Tanzschule besucht zu haben. Die wilden Zuckungen, der Taumel. Die Erfindung der Luftgitarre. Das erste aus ökologischen Gründen gegessene Müsli. Der erste Horrortrip. Halluzinationen und neue chemische Räusche. Die Ekstase. Das Rumhängen und Nichtstun, die Gammelei. Die verdreckte Wohnküche. Die Kommunarden im Schlafzimmer. Das beginnende Kindergewimmel. Eine Jugend, die jung sein wollte. Die Zukunft, die uns gehörte. Aber dann: The carneval is over, die Party war vorbei.

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