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Historiker mit Säbel und Florett

Götz Aly und Norbert Frei rauben den 68ern ihre Einmaligkeit, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise,

aus: vorgänge Nr. 181, Heft 1/2008, S. 112-114

Götz Aly ist einer der wichtigsten Zeithistoriker Deutschlands. Seine Bücher verkünden meist neue Erkenntnisse und verkaufen sich bestens. Aly schreibt pointiert, schießt manchmal über das Ziel hinaus und klingt niemals unseriös. Der Historiker verneigt sich vor seinem Fach, indem er eine Sprache findet, die seine Forschung unter die Leute bringt und damit die öffentliche Diskussion zur deutschen Geschichte beeinflusst.

Götz Aly, Unser Kampf 1968, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, gebunden, 256 Seiten, 19,90 EUR.

Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008, 288 Seiten, 15,00 EUR.

Der gelernte Journalist fühlt sich einerseits wohl in staubigen Archiven und hat andererseits keine Angst vor der Kritik des Publikums oder gar der Kollegen.

In diesen Tagen erscheint Alys erste größere Forschungsarbeit zur deutschen Studentenbewegung unter dem Titel „Unser Kampf“. Schnell stellt sich die gedankliche Verbindung her zu Jillian Beckers Studie über die erste Generation der Roten Armee Fraktion (RAF) als „Hitlers Kinder“. Becker hatte schon 1978 versucht nachzuweisen, dass die so genannten Achtundsechziger die Niederlage der Elterngeneration nicht verwinden konnten. Ähnlich argumentierten Professoren wie Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, die die revoltierenden Studenten – unter ihnen auch Aly – als Feinde einstuften.

Die Essenz der Analyse überzeugt: So wie die Eltern weggesehen hatten, als Hitlers Schergen Juden und so unendlich viele andere „Nicht-Arier“ oder Andersdenkende ermordeten, jubelten ihre revoltierenden Kinder Massen- und Völkermörder hoch, die den Kommunismus predigten. Und indem sie sich Feinde außerhalb Deutschlands, vornehmlich in Israel und den Vereinigten Staaten suchten, gelang es ihnen, die deutsche Schande von sich abzuschütteln – und sie zugleich aufleben zu lassen. Denn sobald die Studenten die Enttarnung alter Nazis ad acta gelegt hatten, um sich dem internationalen Befreiungskampf zu widmen, fiel es ihnen umso leichter, Parolen zu verbreiten, die denen ihrer Eltern bis 1945 (und danach) in nichts nachstanden. Gewissenhaft wie ein Doktorand belegt Aly seine Erkenntnisse. Und er zwingt den Leser immer wieder zum Kopfschütteln, etwa wenn er mit einem erschütternden Zitat verdeutlicht, wie Rudi Dutschke und Bernd Rabehl die West-Berliner nach ihrer „Befreiung“ antiautoritär umerziehen wollten: „Ein Großteil der Bürokraten wird nach Westdeutschland emigrieren müssen. Wo es ganz klar ist, etwa bei älteren Leuten (…), da sollte man den Betreffenden die Möglichkeit geben, auszuwandern.“ Mit anderen Worten: Wer sich den neuen Machthabern nicht unterwerfen wollte, der täte besser daran, freiwillig zu verschwinden. Das war im Herbst 1967.

Damit war ein neuer deutscher Sonderweg geebnet. Während die revoltierenden Studenten anderswo weite Teile des Volkes hinter sich wussten und anfangs konkrete Ziele hatten – mehr Wohnheime für Nachwuchsakademiker in Frankreich oder das Recht auf freie Aussprache in den USA –, standen sie in Deutschland im gesellschaftlichen Abseits und gefielen sich in dieser Rolle sogar. Um das „faschistische“ Wesen des „Systems“ zu beweisen, wollten sie sich wie die Juden im Dritten Reich behandelt fühlen. Doch die Provokation verfing nicht beim Mann auf der Straße, mit dem die Radikalen doch wollten schreiten Seit’ an Seit’ gegen jenen Kapitalismus, dessen Ausgeburt angeblich der Faschismus war.

Politische Eliten, die die Erbmasse der Adenauer-Jahre angetreten hatten, gaben den jungen Stürmern anfangs erstaunlich oft Recht. So hat Aly in den Konvoluten der Regierungsakten Aussagen des Kanzlers Kurt Georg Kiesinger gefunden, der sich zum Gespräch mit SDS-Mitgliedern bereit erklärte, was diese ablehnten, und selbst jene Hochschulreform verlangte, die die Studenten angeblich auf die Straße trieb. Interessanter noch: Kiesinger bat um Mäßigung, wenn Politiker wie Helmut Kohl, Ernst Benda, Carlos Schmid oder Willy Brandt Ordnung, Zucht und Sitte von Staats wegen forderten. Alys Informationen sind ein Schlag in das Gesicht erinnerungstrunkener Achtundsechziger: War Kiesinger etwa ein Studentenversteher, ein heimlicher Sympathisant?

Dabei ist Alys Studie keineswegs als Fundamentalkritik an den Achtundsechzigern zu verstehen. Im Gegenteil, auch nach vierzig Jahren findet er genug Gründe für den Protest; vor allem die „mentale Verfassung der Mehrheitsgesellschaft“ habe den Widerstand erzwungen, schreibt er. Wo die Mehrheit ein neues Heil in der Verdrängung suchte, flohen die jungen Deutschen aus ihrer Geschichte, wie Henry Kissinger einmal anmerkte. So gelang es ihnen, die „deutsche Schuldzone“ zu verlassen, den Nationalsozialismus vorbei am Völkermord in die Kategorie des „Faschismus“ einzuordnen und nebenbei ihren „Judenknacks“ (Dieter Kunzelmann) loszuwerden. Auch deshalb konnte die Terroristin Ulrike Meinhof später die toten Israelis des „Schwarzen September“ bei den Olympischen Spielen 1972 in München bejubeln und den Judenstaat als „faschistischen“ Aggressor geißeln.

Aly bestreitet, was lange wie eine Binsenweisheit gehandelt worden ist: dass die Achtundsechziger das Land demokratischer und liberaler gemacht hätten. Der Historiker sieht sie ganz anders, antiliberal, eigenmächtig handelnd, größenwahnsinnig. Bei ihm erscheinen sie als Söhne der Dreiunddreißiger, den falschen Helden der Generation Diktatur wie aus dem Gesicht geschnitten. Aly ist nicht der erste, der den Achtundsechzigern attestiert, sie ähnelten „auf elende Weise“ den Dreiunddreißigern – jener Generation, die sich an Hitler berauscht und seinen Wahn unterstützt hat. Damit hat er jüngeren Politikwissenschaftlern und Historikern ein weiteres wichtiges Forschungsfeld eröffnet, das es ohne ideologische Scheuklappen zu erschließen gilt. Dass er die Achtundsechziger wortgewaltig als Parasiten der alten und der neuen Bundesrepublik beschreibt, bleibt dabei eine Anekdote am Rande. Schließlich war „1968“ auch sein Kampf.

Wo Götz Aly polemisiert und mit Meinung nicht spart, zeichnet ein anderer wichtiger Zeithistoriker ein schnörkelloses Gemälde der weltweiten Jugendrevolte. Norbert Frei lehrt in Jena und hat sich vor allem um die Erforschung des Nationalsozialismus verdient gemacht. Nicht zum ersten Mal trifft er auf Aly. Immer mal wieder ist er als dessen Kritiker aufgetreten.

Der Antrieb mag derselbe gewesen sein: der Verdruss, den das gedruckte Erinnerungsgeschwätz der Revolutionsteilnehmer bei jedem gründlich arbeitenden Forscher hervorruft. Frei schreibt, das deutsche Achtundsechzig sei „überdokumentiert und unterforscht“. Sein Ziel ist hehr: Ohne Erklärungen und ohne Bekenntnisse will er die Ereignisse des Jahres aufschreiben, das vom Datum eigentlich Siebenundsechzig heißen müsste. Es ist ihm gelungen. Zwar findet sich in diesem Buch kaum Neues, das ist allerdings nicht unbedingt seine Schuld. Mark Kurlansky in „1968. Das Jahr, das alles veränderte“ und Ingrid Gilcher-Holtey in „Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA“, aber auch Wolfgang Kraushaar und einige andere haben sich bereits intensiv mit dem Thema beschäftigt. Aber es ist gut zu wissen, dass es nun „den Frei“ gibt, der ohne Bedenken als Grundlage jedes Proseminars dienen kann. Im Gegensatz zu Aly ist Frei kein Meister der Pointe. Nie wird er ironisch oder witzig. Er bevorzugt das Florett, wo der andere zum Säbel greift. Dennoch ist die Studie in ihrer Sachlichkeit unbestechlich. Sie klärt auf über die Ereignisse und Gründe der großen Revolte. Der Aufstand war gewissermaßen Exportware aus den USA, die in Westeuropa abgeladen und ausgepackt wurde. „Es ging dabei um nichts Geringeres als um eine bessere Welt“, schreibt Frei. Nichts verband die Jugend so sehr wie das Gefühl, dass in Vietnam Unschuldige qualvoll starben.

In seiner Beschreibung des deutschen „Sonderwegs“ liegt Frei durchaus dicht bei Alys Analyse. Auch er erkennt das Bedürfnis der Jungen nach einem Strich, der sie von der Schande der Eltern trennen sollte. Auch er belegt, dass sich die Politiker zunächst nicht sonderlich dafür interessierten, warum tausende Studenten auf die Straße gingen, „sich die Revolution herbei [redeten]“ und dabei allzu gern für die Presse posierten. Frei stellt dem Positivbeispiel der in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) zusammengefassten Studenten das Negativbeispiel der RAF entgegen. Die Terroristen hätten der APO jene Bedeutung und Prominenz genommen, die sie wohl verdient habe, schreibt er.

Man wünschte, die Studie wäre ausführlicher geraten. Gerade im Kapitel zu Ostdeutschland begnügt sich der Jenaer Professor mit Allgemeinplätzen. Dabei war doch schon die Schreibweise der DDR – mit oder ohne Gänsefüßchen – eine der Gretchenfragen der Bundesrepublik. Gleichwohl ist Frei einer der wenigen Professoren, deren Bücher junge Forscher ermutigen, sich einer längst erforschten Materie abermals zuzuwenden.

Denn der Vorwurf der Achtundsechziger an die Eltern, Hitler nicht verhindert zu haben, ist ebenso gerechtfertigt wie die Frage, warum die revoltierenden Studenten mit der DDR paktierten, obwohl sie doch wussten, wie es Andersdenkenden dort erging. „Wir hatten für die DDR was übrig, weil wir für die BRD so wenig übrig hatten“, sagte der Stasi-Spitzel und spätere RAF-Anwalt Klaus Croissant, um diese Verbindungen zu rechtfertigen. Der Historiographie darf das nicht genügen.

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