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68 – ein permanenter Lernprozess

Ein persönliches Resümee,

aus: vorgänge Nr. 181, Heft 1/2008, S. 87-90

Von 1962 bis 1970 war ich Studentenpfarrer in Hamburg mit dem Auftrag, mich um die Studierenden außerhalb der Universität zu kümmern. Das waren die Studierenden der Musik- und der Kunsthochschule, der Hochschule für Wirtschaft und Politik, der Ingenieurschulen und der Fachschulen mit längeren Studiengängen, die als „höhere Fachschulen“ bezeichnet wurden, also der Seefahrtschule, der Fachschulen für soziale Berufe und derjenigen für Bibliothekswesen. Da ich aus der evangelischen Jugend- und Jugendakademiearbeit kam, Erfahrungen in einer Industriegemeinde und einer Landgemeinde mit hohem Anteil von Pendlern hatte, meinte ich, einigermaßen auf die Aufgabe vorbereitet zu sein. Ich musste dann aber schnell feststellen, dass mein neuer Arbeitsbereich eigene Gegebenheiten hatte. Die Studierenden waren stark auf ihren späteren Beruf ausgerichtet, das Studium sehr verschult, der Anteil sozialer Aufsteiger weit höher als an Universitäten, aber die öffentliche Anerkennung gering. Von dem Grummeln, das es an den Universitäten und höheren Schulen gab, war in diesem Bereich nichts zu spüren, nur das Bemühen um Anerkennung beschäftigte die Studierenden außerordentlich, weil davon ihr Ansehen und die Bezahlung im späteren Beruf abhingen.

Das allgemeine Grummeln bemerkte ich aber bald im Bereich einer zusätzlichen Aufgabe, die ich übernahm, bei den Kriegsdienstverweigerern. Die wachsende Kritik am Vietnamkrieg in den USA führte ab 1964 zur Zunahme der Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Zwar wurde das in den amtlichen Statistiken nicht gleich deutlich, weil die Anträge erst lange nach ihrem Eingang beim Kreiswehrersatzamt statt am Ende des Musterungsverfahrens registriert wurden. Zudem wurden viele Anträge aussortiert, wenn die Antragsteller für eine Einberufung zur Bundeswehr nicht in Frage kamen. Das wurde extensiv praktiziert, um die Bedeutung der Berufung auf Artikel 4, 3 GG herunter zu spielen und behaupten zu können, Kriegsdienstverweigerer seien ja nur ein paar merkwürdige Außenseiter. Deshalb gab es oft die Einstufung als „untauglich“ und auch großzügige Freistellungen. Ab 1967 ließ sich die stark steigende Tendenz der Anträge nicht mehr verheimlichen, weil die Bundesrepublik sich mit der Entsendung des Lazarettschiffs Helgoland de facto am Vietnamkrieg beteiligte, auch wenn das als humanitäre Hilfe dargestellt wurde. Die Zunahme der Anträge führte dann zu unerfreulichen Diffamierungen und Diskriminierungen der Verweigerer und zu Schikanen in den Prüfungsverfahren und Ersatzdiensten.

Die Kritik am Vietnamkrieg war zunehmend verbunden mit antiamerikanischen Ressentiments und Kritik am Kapitalismus sowie an undemokratischen Verbündeten der USA wie dem Schah von Persien. Hinzu kamen kritische Fragen wegen NS-belasteter Leute in führenden Positionen. In Hamburg sorgte die Ausstellung „Ungesühnte Nazi-Justiz“ für Aufregung, weil auch Juristen betroffen waren, die am Oberlandesgericht und an der juristischen Fakultät der Universität eine wichtige Rolle spielten. Es gab weiterhin Unruhe bei den Schülern, Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen im ÖPNV. Das führte in Bremen 1967 zu richtigen Krawallen. Kurz: An verschiedenen Stellen gab es zunehmende Kritik, und viele Jüngere begehrten mehr oder weniger auf.

Was ich erst nach und nach als umfassendere Entwicklung wahrnahm, tangierte mich zunächst nur bei meinen Aufgaben in zwei Bereichen: Mehr Anerkennung der Studierenden an den Ingenieur- und höheren Fachschulen und Hilfe für einzelne Kriegsdienstverweigerer. Erst als ich nach Wechseln im Studentenpfarramt der Dienstälteste und damit für das ganze Pfarramt verantwortlich war, wurde ich mit der neuen Situation umfassender konfrontiert.

Das begann gleich mit einer Eskalation. Am 3. Juni 1967, dem Tag nach dem Tod von Benno Ohnesorg in Berlin, kam der Schah nach Hamburg. Wie in Berlin, so gab es auch hier massive Kritik an dem Besuch und eine große Demonstration. Und wie in Berlin gingen persische Sicherheitsleute auf die Protestierenden los, die deutsche Polizei unterstützte sie und sperrte außerdem alle Fluchtwege ab. Die Prügelei wurde von den Hamburger Springerzeitungen (Welt, Abendblatt und Bild) wahrheitswidrig den Studierenden in die Schuhe geschoben, was deren Kritik an Springer natürlich herausforderte. Nach kurzer Zeit kamen dann aber korrekte Berichte mit Bildbelegen in Spiegel, Zeit und Stern. Das skandalöse Verhalten der „Prügelperser“ und der Hamburger Polizei wurde offenbar und zugleich wurde das Skandalöse der ersten Berichterstattung deutlich.

Mit dem Schahbesuch begann die heiße Phase dessen, was heute unter dem Kürzel 68 firmiert. Zunächst wurde noch versucht, die Situation zu deeskalieren. Ein Bürgerkomitee wollte zwischen den Studenten und der Polizei vermitteln. Angesehene und gewichtige Leute wie die Gräfin Döhnhoff von der Zeit und der Bergedorfer Fabrikant Körber machten mit, Universität und ASTA waren beteiligt, für die Kirche der Akademiedirektor Ziegenrücker und ich, und natürlich als Gegenüber der Studierenden die Polizeiführung. Es gab gute Gespräche, sinnvolle Absprachen und die Hoffnung, dass solche Konfrontationen künftig vermieden werden könnten. Bekanntlich kam es anders. Als der ASTA-Vorsitzende und ein anderer Student vor den Professoren, die im traditionellen Ornat einzogen, das berühmte Spruchband hertrugen „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“, begann öffentlich, was man gern als Studentenrevolte bezeichnet. Bald jagten sich Teach-Ins und Go-Ins, studentische Vollversammlungen an der Universität und Demonstrationen mit dem Ruf „Ho, Ho, Ho Tschi Min“. Es war eine hektische Atmosphäre entstanden, in der täglich gefragt wurde, was heute wieder los ist. Die Feindschaft zwischen den Springerzeitungen und der Studentenschaft wurde angeheizt durch die bösartige Berichterstattung, die natürlich nicht die sachlich begründeten Forderungen aufgriff, sondern nur über Randale und Unmoral berichtete. Die Folge waren Versuche, die Auslieferung von Springerzeitungen zu verhindern, Übergriffe auf Lieferwagen und Beschädigungen von Schaufenstern und eine zunehmende Konfrontation. Hamburg verzeichnete damals die größten Schäden.

Für mich entstand eine eigenartige Situation. „Meine“ Studierenden waren nach wie vor streng auf korrektes Auftreten bedacht. Auflagen bei Demonstrationen wurden genau beachtet. Das Ringen um die Hochschulanerkennung lief in geordneten Bahnen, weithin gemeinsam mit den Dozenten, in Gesprächen mit Politikern und Presseleuten. Die Studierenden organisierten sich, bildeten ASTAs und bundesweite Verbände, arbeiteten intensiv an durchführbaren Vorschlägen. Als ich bei einer Demonstration für sie sprechen sollte und erläuterte, dass diese Ingenieur- und höheren Fachschulen zwar nicht wie die Universitäten viele Studiengänge umfassten, aber je für ihr Fach Hochschulen, „Fachhochschulen“, seien, wurde das zur allgemeinen Losung. Ich bin heute noch stolz auf den ASTA-Arbeitskreis unserer Studentengemeinde, denn die und nur die, die in Hamburg dabei waren, wurden Fachhochschulen. Die medizinischen Hilfsberufe und andere, deren Ausbildungsstätten nicht mitgemacht hatten, verloren den Anschluss an die Entwicklung, und mancher Studiengang auch des öffentlichen Dienstes erreichte erst viel später das Level der Fachhochschulen.

Ganz anders war die Situation an der Universität. Hier preschten die politischen Hochschulgruppen vor und bestimmten die Diskussion. Provozierend und aggressiv der SDS, sachlicher der SHB und die Fachschaften, bremsend der RCDS. Zunehmend wurden außer Vietnam und der Kritik am Kapitalismus auch andere Themen aufgegriffen: Studentische Mitbestimmung, Kritik am Einfluss von Presse und Kapital auf parlamentarische Entscheidungen, Kritik an den überkommenen Formen von Ehe und Familie. Gerade nach der Unmoral der Studierenden wurde ich in Kirchengemeinden immer wieder gefragt und erntete verwundertes Staunen, wenn ich erklärte, dass Verheiratete ihre Stipendien verlieren würden wie nach dem Krieg ihre Großmütter die Rente, wenn sie heirateten. Und wie damals ziehe man dann eben ohne Trauschein zusammen. Die öffentliche Wahrnehmung war natürlich ganz anders, auf die ersten Kommunen und die wenigen Provokationen orientiert.

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde gegen das Vorgehen der Warschauer-Pakt-Staaten ebenso massiv demonstriert wie gegen den Vietnamkrieg. Gerade der Prager Frühling hatte große Hoffnungen geweckt auf einen Weg zwischen Stalinismus und Kapitalismus, auf einen demokratischen Sozialismus. Während sich die Systemkritik des SDS vornehmlich gegen den Westen und die des RCDS vornehmlich gen Osten richtete standen die Studierenden der Studentengemeinde dazwischen. Nachträglich kann ich sagen, dass ihre nüchternere und zurückhaltendere Kritik einerseits ausgewogener und andererseits gleichzeitig nachhaltiger war.

Für mich war diese Zeit nicht nur immer wieder aufregend, voller Zumutungen und Überlegungen, wie mit dieser oder jener vorgeschlagenen Aktion umzugehen sei, sondern auch eine interessante Zeit des Lernens. Ich hatte mir nie vorstellen können, dass eine Stimmung Menschen so prägen kann, dass auf einmal vieles möglich wird, was sonst nie denkbar war. Als ich im Göttinger ASTA war (1949), forderten wir Mitsprache bei studentischen Angelegenheiten im Senat und den Fakultäten wenigstens für zwei Vertreter. Wir trugen das dem Rektor vor, der uns freundlich anhörte, aber nach der nächsten Senatssitzung mitteilte, die Bitte sei abgelehnt. Jetzt aber gab es Zustimmung zur Mitwirkung von Assistenten und Studenten sogar bei der Berufung von Professoren, die Lehre sollte wie die Forschung bei Berufungen wichtig werden, selbst die Dienstleister der Uni sollten mitreden dürfen. Inzwischen ist vieles zurückgedreht worden, aber die Fragen der Lehre sind wichtiger und die Hochschulgremien anders geworden. Auch die Frage der Mitbestimmung wird heute anders beurteilt.

Nicht nur der Einfluss einer besonderen Stimmung, „Bewegung“, war interessant. Auch die Freiheit zur Kritik, der Anspruch, wirklich mitzureden, das Aufbrechen der tradierten Schranken zwischen den vorher Halbgöttern gleichenden Professoren und allen anderen war faszinierend. Und für mich als Theologen gab es auf einmal ein ganz neues Gefühl für einen solchen Aufbruch, ein neues Empfinden, was wohl bei den in den Evangelien berichteten Demonstrationen Jesu beim Einzug in Jerusalem und bei der massiven Kritik am Handel im Tempel vor sich ging. Natürlich gab es ebenso ein neues Nachdenken über Gewalt, über Regelverletzungen, über angemessene und übertriebene staatliche Reaktionen darauf. In meinem speziellen Arbeitsbereich gab es wenige Jahre später den Erfolg sachlicher Diskussionen und Demonstrationen.

Die Fachhochschulen haben die deutschen Hochschulen mehr verändert als jede andere Reform seit der Gründung der Berliner Universität 1810. Dagegen haben die Gewaltaktionen weniger erreicht, aber Widerspruch, Verketzerung und Reaktion bis heute zur Folge gehabt.

Im Bereich der Kriegsdienstverweigerung habe ich auf eine ähnlich sachliche Diskussion und Auseinandersetzung gedrängt und darauf geachtet, dass das Thema nicht vom Osten ausgenutzt wurde (was in einigen Verbänden der Fall war). Allerdings dauerte die Auseinandersetzung mit der staatlichen Missachtung des Grundrechtes viel länger und ist noch nicht abgeschlossen. Aber Verbesserungen wurden nach und nach erreicht, und die Diskriminierungen sind weitgehend auf die Seite geschoben worden. Geblieben ist aber bis heute die Pflicht, einen Antrag zu stellen, ihn zu begründen und prüfen zu lassen und die Kriminalisierung derjenigen, die jeden Kriegs- und Kriegsvorbereitungsdienst für ein solches Verbrechen halten, dass sie dafür auch keinen Ersatzdienst zu leisten bereit sind. Wenn der Schutz des Gewissens gilt, darf das nicht so sein.

Aber bisher wird die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr selbst vom Bundesverfassungsgericht dem Grundrecht der Gewissensfreiheit, deren Teil und Ausfluss die Kriegsdienstverweigerung ist, vorgeordnet. Was habe ich also gelernt? Dass aktive Mitsprache, Zusammenschlüsse, um etwas zu erreichen, Demonstrationen, Streiks, Lobbytätigkeit in einer demokratischen Gesellschaft normal sind und erfolgreich sein können. Aber auch, dass manche Ziele nur sehr langfristig erreicht werden können und dass überzogene Forderungen und Aktionen auch das Gegenteil des Gewünschten zur Folge haben können. Im Rückblick denke ich, dass nicht nur die „linken“ Aktivisten sondern ebenso ihre Gegner vom RCDS eine neue Art des Diskutierens, Streitens, Mitdenkens und demokratischer Aktivität eingeübt haben, die unser Land verändert hat und mich auch.

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