Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Die Wirtschafts­wis­sen­schaften wurden von der Politik allein­ge­lassen

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 107-111

 In den letzen Jahrzehnten wurde die Idee der „Modernisierung“ ganz stark von paradigmatischen Vorstellungen über Privatisierung und Bürokratieabbau getragen. Gebetsmühlenartig wurden eine niedrigere Staatsquote und der Verzicht auf makroökonomische Konjunktursteuerung gefordert. Die weltweite Finanzkrise zeigt nun, dass dieses Paradigma – oder sollte man es besser „Ideologie“ nennen – grandios gescheitert ist! Der Begriff „grandios“ verharmlost zwar das Elend, dass die von der Finanzkrise verursachte Arbeitslosigkeit weltweit auslöst; aber die Arabesken am Rande – etwa mehrere Schneeballsysteme von betrügerischen Finanzakrobaten, die im Zuge der Krise aufflogen – haben schon etwas Grandioses an sich!

Jetzt wird gern auf die Wirtschaftswissenschaften geschimpft, die voll und ganz versagt hätten. Das ist insofern richtig, da das akademische De-Regulierungskonzept, insbesondere auf den Finanzmärkten, gescheitert ist. Aber nur auf die Ökonomen zu zeigen, greift zu kurz. Denn nahezu weltweit hat die politische Klasse auf Privatisierung und Deregulierung gesetzt. Und wissenschaftliche Disziplinen, die sich mit denselben Gegenstandsbereichen wie die Volkswirtschaftslehre beschäftigen, etwa Politik- und Verwaltungswissenschaft, haben mit ihren Bedenken intellektuell nicht überzeugt. Und letztendlich haben ja auch die Wähler mehrheitlich den Privatisieren geglaubt und die Patentrezepte gewählt. Nun aber reden plötzlich alle wieder von Regulierungen als einer zentralen staatlichen Aufgabe. Wie konnte das kommen? Können wir aus diesem Umschwung wenigstens für die Zukunft etwas lernen?

Die Ausgangs­lage

In den siebziger und achtziger Jahren gab es im Bereich der staatlichen Monopol-Betriebe, wie bei Bahn und Post, weltweit jede Menge Verkrustungen, schlechten Service und inneffiziente Strukturen. Deswegen war die übergroße Mehrheit der Ökonomen für Deregulierung. Dabei war auch vielen klar, dass man Regulierungs-Behörden braucht, wenn natürliche Monopole privatisiert werden. Ohne den Staat ist also auch Deregulierung vielfach gar nicht möglich. Trotzdem wurde „Staatsversagen“ zu einem Modebegriff und Politikern wurde gerne nicht nur von akademischen Ökonomen, sondern auch von Wirtschaftsführern und Leitartiklern, jede Kompetenz abgesprochen.

Schaut man rückblickend genauer hin, zeigt sich ein erstaunliches Strategieversagen vieler volkswirtschaftlicher Politikberater. So auch beim Autor dieses Beitrags. Um als sinnvoll angesehene Re-Regulierung durchzusetzen, die z. B. auch im Bereich sozialer Dienste wie der Kinderbetreuung vernünftig waren, wurden Probleme heruntergespielt und insgesamt ist ein Mainstream zugunsten von Deregulierung und Privatisierung entstanden, der überzogen war. Denn rasch hat sich tatsächlich herausgestellt, etwa bei Bahn, Telekommunikation und Energieversorgung, dass jede Menge Regulierung gebraucht wird, aber diese im Detail äußerst schwierig zu gestalten ist. In Großbritannien scheiterte die Regierung Major Mitte der neunziger Jahre mit einem eiligen Versuch, „Gutscheine“ für Kinderbetreuung einzuführen. Deren Wert war nicht angemessen berechnet worden. Und trotzdem sprach der Autor dieses Beitrags sich für die Einführung von Betreuungsgutscheinen in Deutschland aus. Mit im Detail guten Gründen[1] – aber so wurde faktisch die krude Deregulierungs- Idee mit vorangetrieben. Nachdem die Privatisierungs-Ideologie erst einmal in der Welt war, war sie kaum noch kontrollierbar, obwohl innerhalb der akademischen Volkswirtschaftslehre längst nicht mehr so schwarzweiß gedacht wird wie noch in den siebziger und achtziger Jahren. Die Notwendigkeit kluger Regulierung wurde im Detail diskutiert. Aber die akademische Forderung nach Re-Regulierung wurde von der Politik gleichgesetzt mit „Modernisierung“ durch Deregulierung und die Senkung der Staatsquote wurde zu ihrem Fetisch.

Angesichts des Drucks, der in jeder wissenschaftlichen Disziplin vom Mainstream ausgeübt wird, hatten in den letzten Jahren auch grundsätzliche Deregulierungs-Skeptiker ihre Vorbehalte nur vorsichtig geäußert und – wie der Verfasser dieses Beitrags – nur leise nach besserer Regulierung gerufen. Zumal es ja auch in vielen Bereichen noch Deregulierungs-Bedarf gab und gibt (z. B. in der Gesundheitsversorgung). Und zudem wurde die Regulierungs-Analyse rasch so ausdifferenziert und kompliziert, dass ein Einzelner es nicht mehr überblicken konnte. Umso leichter fiel es Grundsatzbedenken zurückzustellen, um sich nicht dem Vorwurf unzureichender Kompetenz auszusetzen. Der alte Mainstream hatte gewonnen.

Nun ist es in der Wissenschaft nichts Ungewöhnliches, dass ein Mainstream eine Disziplin eine Zeit lang dominiert. Die Politik kann – und sollte – daran nichts ändern. Die Weiterentwicklung eines wissenschaftlichen Mainstreams und dessen Ablösung durch ein neues Paradigma kann nur von innerhalb der Wissenschaft kommen. Die Politik kann sich auch leisten auf Fortschritte innerhalb einer Wissenschaft zu warten, da die meisten wissenschaftlichen Disziplinen nicht so unmittelbar für politische Gestaltung relevant sind wie die Volkswirtschaftslehre. Aber in der Volkwirtschaftslehre kann ein an sich rein akademischer Mainstream unmittelbar politisch wirksam werden. In den Naturwissenschaften gibt es zwar auch das Problem, dass ein Mainstream sachlich unangemessen dominieren kann. Aber vielfach geht es nur um persönliche Eitelkeiten, so z. B. in der theoretischen Physik, die in der Realität folgenlos bleiben. Und in der Experimentalphysik geht es zwar auch um viel Geld, aber selbst große Forschungsetats sind gegenüber den Finanzproblemen, die schlechter volkswirtschaftlicher Ratschlag verursachen kann, marginal. Und es geht in den Naturwissenschaften selten um die direkte Gestaltung der Gesellschaft. Auch das kommt in den Naturwissenschaften freilich vor; man denke etwa an die „Waldsterben“-Hypothese. Und diese hat sich im Nachhinein als völlig überzogen erwiesen.

Gegen den alten Deregulierungs-Mainstream gab es innerhalb der Volkswirtschaftslehre in den neunziger Jahren kaum noch Widerstand. Und andere Disziplinen, die sich mit denselben Gegenstandsbereichen befassen und die Bedeutung von Regulierung (und „Governance“) ununterbrochen betonten, wie Politik- und Verwaltungswissenschaft, waren intellektuell nicht stark genug, um gehört zu werden und sich durchzusetzen. Über die „Arroganz der Ökonomen“ zu lamentieren ist ja kein wissenschaftliches Argument. Insofern sind auch andere Disziplinen am Versagen des Deregulierungs-Mainstreams der Volkswirtschaftslehre schuld. Zumal es auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Befürworter der Deregulierung gab und gibt. Von den Juristen ganz zu schweigen.

Faktisch haben sich auch ausgesprochen marktferne Organisationen, wie z. B. die großen Kirchen und Wohlfahrtsverbände in Deutschland, der Ökonomie als „Leit-Wissenschaft“ ausgeliefert. Der betriebswirtschaftliche Jargon wurde vielfach übernommen und viele Leiter von kirchlichen und diakonischen Einrichtungen, die betriebswirtschaftlich agieren müssen, halten sich deswegen – ebenso wie andere Unternehmensführer – auch für gute Volkswirte und Wirtschaftspolitiker („das muss sich schließlich rechnen“). Die betriebswirtschaftliche Perspektive reicht aber nicht, um volkswirtschaftlich zu agieren.

Rolle der Politik

Die Dominanz des Deregulierungs-Mainstreams hat schließlich die Politiker dazu verführt, dass sie im Hinblick auf die Finanzmärkte zu leichtsinnig wurden. Hier handelt es sich ja auch nicht um Monopole, sondern um das Problem asymmetrischer Informationen und um eine Vielzahl neuer Produkte. Diese hätte man regulatorisch nur in den Griff bekommen, wenn man mutig eingegriffen hätte. Aber der Zeitgeist war dagegen und so überließ man „dem Markt“ die Entwicklung. Und in der Politik haben die „Modernisierer“ sich durchgesetzt.

Das Ergebnis der „Modernisierung“ auf breiter Front ist nun in der Tat grotesk, da in der globalen Finanzkrise der Staat weltweit kurzfristig im Wirtschaftsleben eine stärkere Rolle spielen muss als jemals zuvor. Sogar faktische Verstaatlichungen – das glatte Gegenteil von Privatisierung und Deregulierung – werden notwendig; wie z.B. in Deutschland bei der Hypo Real Estate. Dazu gibt es gar keine vernünftige Alternative. Langfristig sollte der Staat in der Wirtschaft aber trotzdem keine größere Rolle als Unternehmer spielen. Der Staat sollte vielmehr wieder den Mut aufbringen, kräftig die Wirtschaft zu regulieren.

Das ist, wenn man so will, eine Renaissance der traditionellen Vorstellungen der Sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört, dass wieder vom Marktversagen öffentlich geredet wird und potenzielles Staatsversagen, das es natürlich gibt, nicht als Totschlagargument gegen jedes vernünftige Staatshandeln benutzt wird. Wie gesagt: in der Volkswirtschaftslehre werden differenzierte Regulierungskonzepte längst diskutiert. Die moderne industrieökonomische Forschung ist im Detail empirisch und weit weg von einfach ideologischen Forderungen. Dass es einen Nobelpreis für „Institutional Design“ gab, zeigt das auch.

Das eigentliche Problem ist: der Erkenntnisfortschritt der Volkswirtschaftslehre, auch im Bereich der psychologisch untermauerten „Verhaltensökonomik“ ist noch kein Mainstream. Insbesondere nicht im öffentlichen Bewusstsein und in der Politik. Nach wie vor gilt das Diktum von John Maynard Keynes, dass er im letzten Kapitel seiner „Allgemeinen Theorie“ formuliert hat: Politiker und Entscheidungsträger hören auf das, was sie in jungen Jahren im Hörsaal gelernt oder gelesen haben. Das ist umso schlimmer, da der Mainstream einer Wissenschaft immer der Spitze des Erkenntnisfortschritts hinterher hinkt. Freilich: dass wissenschaftlicher Fortschritt seine Zeit dauert, ist unvermeidbar. Deswegen sind die Politiker gefordert, sich von ihren Beratern wieder stärker zu emanzipieren.

Ebenso wie die Wirtschaftswissenschaften jetzt dazulernen, muss auch die Politik aus der Krise lernen. Und zwar nicht, indem die Politik noch mehr als vorher auf die Fachleute der Wirtschaft hört, sondern indem sie wieder eigenständig agiert. Vor allem sollte das Anbiedern der Politik an die Wirtschaft aufhören. Ein Kanzler, der sich als Chefverkäufer versteht, macht einen grundsätzlichen Fehler. Und ein Bundeswirtschaftsminister, der wie ein Landesminister um ansiedlungswillige Industrieunternehmen buhlt, verliert rasch den Überblick. Vor allem macht zu große persönliche Nähe von Politikern zu Wirtschaftsführern es sehr schwer, gegen sie zu regulieren.

Die Vorstellung vieler Bürgerinnen und Bürger, dass es gut wäre, wenn Politiker und Wirtschaftsführer vernünftig miteinander reden würden, hat etwas Naives an sich; ja durchaus etwas Populistisches. Regulierung und Grenzen setzen hat auch etwas mit Interessenkonflikten zu tun und zu große persönliche Nähe kann handlungsunfähig machen. Hier sollte die „politische Klasse“ sich wieder emanzipieren. Zumal Politiker wissen könnten, dass die meisten Wirtschaftslenker sie ohnehin verachten.

Zur Revitalisierung der eigenständigen Rolle des Staates in der sozialen Marktwirtschaft gehört auch, dass das pauschale Beschimpfen von Politikern und der „politischen Klasse“ aufhört. Der öffentliche Diskurs ist seit Jahren völlig destruktiv und das, was von einigen Wirtschaftsführern der Politik vorgeworfen wurde, war schlicht verlogen. Wirtschaftsführer haben ja z. B. gerne in jeder Talkshow gesagt, Politiker würden nur an den nächsten Wahltermin statt an künftige Generationen denken. Aber woran haben diese Kritiker denn selbst gedacht? Offensichtlich nur bis zum nächsten Quartalsbericht! Als Staatsbürger kann man nur hoffen, dass die Politik hier aus der Defensive herausfindet. Es würde unserer Gesellschaft guttun. Aber das muss die Politik schon selbst leisten. Wirtschaftsführer, Unternehmensberater und Wissenschaftler werden weiterhin der Politik ihre Ratschläge geben. Ob diese richtig oder gar klug sind, können die Berater definitionsgemäß nicht beurteilen. Deswegen ist gegenseitige Kritik über disziplinäre Grenzen der Wissenschaft hinweg ebenso wichtig wie schwierig zu leisten. Und die Gesamtbeurteilung der wissenschaftlichen Ratschläge muss von außen erfolgen. Dazu muss die Politik wieder den Mut finden. Und die Oberhand im öffentlichen Diskurs zu gewinnen kann der Politik erst recht kein Berater abnehmen.

[1] Michaela Kreyenfeld und Gert G. Wagner, Der gescheiterte „Gutscheinversuch“ für Kinderbetreuung in Großbritannien, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 49. Jg., Heft 9, 1998, S. 347350; und Michaela Kreyenfeld, C. Katharina Spieß und Gert G. Wagner, Finanzierungs- und Organisationsmodelle institutioneller Kinderbetreuung – Analysen zum Status quo und Vorschläge zur Reform, Neuwied 2001.

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