Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Es ist Zeit für einen Green New Deal

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 97-106

I. Katas­tro­phen­hilfe ohne Verän­de­rungs­willen

Angesichts der Wirtschaftskrise werden viele Rezepte ersonnen, um die Lage zu stabilisieren. Durchgesetzt hat sich bislang im politischen Vordergrund ein (phantasieloser) Ad-hoc-Keynsianismus, hinter dessen Rücken bereits die Rückkehr zu „business as usual“ vorbereitet wird. Die konzeptionellen Vorschläge zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise stammen überwiegend aus dem (Denk)Milieu und den Akteursnetzwerken derer, die die Krise verursacht haben. Konsequenterweise gibt es trotz lauter Ankündigungen nur zaghafte Ansätze strengerer Regulierung, während die Übernahme enormer Kosten und Risiken der Privatwirtschaft durch den Staat im Sauseschritt erfolgt. Anstatt die Gestaltungsmacht des Staates endlich zu nutzen und dadurch zu stärken, legt die Bundesregierung ihren Nachfolgern mit diesem Schuldenberg die haushaltspolitischen Fesseln der Zukunft an. In der Folge könnte der Neoliberalismus[1] von seiner selbstverschuldeten Krise sogar noch dadurch profitieren, dass wegen des künftig massiveren Sparzwangs Forderung nach „Bürokratieabbau“ eine vordergründige Plausibilität gewinnen. Der Neoliberalismus ist bislang der geheime Profiteur dieser Krise.

Die allgemeine Empörung über das unmoralische Verhalten „der Manager“ und deren Gehälter bzw. Bonuszahlungen ist zwar verständlich, trifft den Kern des im Wesentlichen regulatorischen Problems nicht und ist insbesondere aus dem Mund derer unredlich, die an den Grundsätzen der herrschenden Ökonomik nie etwas auszusetzen hatten. Wenn Politiker ebenfalls das Problem einzig in der Maßlosigkeit bzw. Habgier von Teilen der Wirtschaftseliten oder gar nur einzelner „schwarzer Schafe“ identifizieren, besteht die Gefahr, dass wesentliche Ursachen, nämlich die Regeln des Wirtschaftsleben, die genau dieses Verhalten hervorbringen und honorieren, unbeachtet bleiben. Tugendethische Empörung verebbt folgenlos und der Diskurs nimmt im Jahre 2009 ein neues „framing“ an: Es geht jetzt darum, welche von Insolvenz und Konkurs bedrohten Firmen (nicht) mit Hilfe des Staates gerettet werden sollen (Opel, Arcandor, Quelle, Werften usw.). Die Rettungsaktionen bedeuten bislang allerdings keine Stärkung des staatlichen Ordnungsrahmens. Vielmehr riskiert der Staat durch die Hilfen seine eigene finanzpolitische Gestaltungskraft[2]. Sobald der Staat seine Schuldigkeit getan hat, wird man wieder hören, dass er sich auf seine „Kernaufgaben“ beschränken möge. Die verebbende moralische Kritik an Habgier, die intakten Akteursnetzwerke der Wirtschaftseliten und das dominante Rettungs-„framing“ sorgen im Vorwahlkampf dafür, dass tiefer gehende Debatten über die Denkformen des Neoliberalismus, die Kontextualisierung der Wirtschaftskrise in andere politischen Rahmungen (Klimakrise, Armut usw.) und Regulierungsoptionen kaum noch die Filter medialer Aufmerksamkeit passieren. Die Bevölkerung scheint mehrheitlich die der Krisenbewältigung zu billigen. Wir leisten uns hier ein „dissenting vote“.

II. Ursache­ner­mitt­lung

Beginnen wir mit einer Kritik an der Denkform des Neoliberalismus. Diese Denkform besteht aus bestimmten Grundannahmen und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen: Individuen und Unternehmen, die (nur) so agieren, dass sie ihren individuellen Nutzen maximieren; Märkte als Koordinationsprinzip, was den Teilnehmern den größten Wohlstand verschafft und umso effizienter funktioniert, je weniger rechtliche Regulierung es gibt und je mehr Bereiche marktwirtschaftlich organisiert sind. Die Akteure dürfen und sollen innerhalb der rechtlichen Rahmenordnung ihren Nutzen maximieren. Die Maximierung des eigenen Nutzens ist ex definitione „rational“. Für die Vertreter dieser Denkform ist es demnach rational, in guten Jahren Profite zu privatisieren und in schlechten Jahren Verluste der Allgemeinheit aufzubürden. Diese Strategie ist ebenso rational wie „moral-hazard“-Verhalten, wie „free riding“ auf Kosten anderer und wie das Abwälzen externer Effekte. Es ist daher im Moment in diesem Sinne rational, möglichst viele Folgekosten der Krise auf staatliche Haushalte, Arbeitnehmer und die natürliche Umwelt abzuwälzen.

Ebenso rational ist es, in den Details der „bad-bank“-Konzeptionen versteckte Klauseln einzubauen, die den Banken nutzen und dem Staat schaden. Und man soll nicht vergessen, dass für die ökonomische Rationalität die menschliche Sprache nur ein Instrument intelligenter Nutzenmaximierung ist. Daher kann es bei passender Gelegenheit rational sein, zu rufen, dass „wir alle im gleichen Boot sitzen“. Alles in allem lässt sich aus der Finanzkrise soviel lernen, dass habitualisierte Nutzenmaximierer auch in Krisenzeiten ihren Verhaltensmaximen treu bleiben. Viel mehr als diese Erwartung in intelligentes strategisches Verhalten von Wirtschaftseliten ist von den Versprechungen des Neoliberalismus nicht übrig geblieben. Eine tiefer gehende Veränderungsbereitschaft wäre aus Sicht dieser Gruppen irrational und ist nicht zu erwarten.

Man muss natürlich über eine Analyse der Denkform realökonomische Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise identifizieren können, wenn man ernsthafte Therapievorschläge unterbreiten möchte. Plausibel scheint der marxistische Ansatz der Überakkumulationskrise, die durch gesättigte Märkte, Überkapazitäten, zu geringe Massenkaufkraft in den wirtschaftlichen Zentren und die Ansammlung hoher Geldvermögen gekennzeichnet ist. In neoklassischer Terminologie kann man von der „global-savingglut“- Hypothese ausgehen, wonach dieses Sparvermögen auf der Suche nach lukrativen Renditen um den Globus zirkuliert. Die USA galten aufgrund ihrer Leitwährung, des Konsumismus, des Finanzsystems usw. als „sicherer Hafen“ für diese Geldströme. Durch den Zustrom dieser Geldanlagen und durch die hohen Gewinnerwartungen wurde das US-amerikanische Finanzsystem unter Druck gesetzt, immer neue „innovative“ Finanzprodukte zu generieren. Um diese Strategie ausreizen zu können, wurden unter der Bush-Administration die rechtlichen Rahmen, beispielsweise durch die Aufhebung des Glass Steagall Act, so gelockert, dass immer neue „innovative“ Finanzprodukte generiert werden konnten. Die Geschäfte mit allerlei verbrieften Anleihen, Kreditderivaten und Zertifikaten entwickelten sich zu einer Finanz-Alchemie, deren Details keiner mehr verstehen konnte, besser: sollte und deren Risiken immer unüberschaubarer wurden. Viele Risiken wurden durch die Gründung von Zweckgesellschaften bilanztechnisch verschleiert. Andere Länder und Institutionen, darunter deutsche Landesbanken und Kommunen (durch das sog. cross border leasing) stiegen in dieses System der wunderbaren, aber immer weniger zu durchschauenden Reichtumsvermehrung ein.

Die reale Intransparenz wurde von der Doktrin effizienter Märkte gerechtfertigt, die impliziert, dass alle verfügbaren Informationen in Preisen und Kursen enthalten seien. Die Vermischung von idealen Modellmärkten und realen Märkten gehört zur „Trickkiste“ des Neoliberalismus. In der Praxis führte die reale Intransparenz zu faulen Wertpapieren und spekulativen Blasen, deren Platzen wir beobachten mussten.

III. Staats­the­orie

Bereits Hegel hatte in der Rechtsphilosophie ein Argument zugunsten staatlicher Regulierungspraxis entwickelt: Je mehr die bürgerliche Wirtschaftsgesellschaft vom Prinzip des Eigennutzes durchdrungen ist, desto unverzichtbarer wird die staatliche Regulierung und Administration. Das Komplexitätsniveau der Regulierung darf dabei hinter dem der Auswirkungen ökonomischer Aktivitäten nicht zurückbleiben. D.h. ein demokratisch legitimierter Rechtsrahmen weist den Egoismus der Wirtschaftssubjekte in die Schranken. Alle Ökonomen sind sich einig, dass es einer rechtlichen Rahmenordnung bedarf. Die Frage ist nur, welche spezifischen Regeln in diesem Netz aus einzelnen Regelwerken gelten oder nicht, d.h. welche Handlungsweisen jeweils bedingt oder unbedingt geboten, erlaubt oder verboten sind. Darüber befinden in diskursethischer Sicht letztlich die Staatsbürgerinnen, die Parlamentarier demokratisch ermächtigen, diesen Ordnungsrahmen zu programmieren. Wird allerdings, wie in den ökonomischen Demokratietheorien, davon ausgegangen, dass es nicht die am Gemeinwohl interessierten Staatsbürger, sondern die eigennutzorientierten Wirtschaftsbürger sind, die sich über die staatliche Rahmenordnung verständigen, ist es nahe liegend, dass das politische Leitbild das einer größtmöglichen Freiheit der erfolgsorientierten Wirtschaftsbürger ist. Der Neoliberalismus favorisiert damit Verhältnisse, in der mit Ressourcen gut ausgestattete Industrien einer personell ausgedünnten und mit schwachen Kompetenzen ausgestatteten Administration gegenüber stehen.

In der reinen ökonomischen Modellwelt taucht das Recht als Restriktionsfunktion auf. In der Realität der Wirtschaftspolitik bündeln Wirtschaftsbürger ihre gemeinsamen Interessen zu Verbänden und Lobbys und versuchen an den Peripherien des politischen Systems den rechtlichen Rahmen zu ihren Gunsten zu modifizieren. Dessen Erfolge lassen sich in der Chemikalien-, Energie-, Gesundheits-, Medien-, Agrar-, Verkehrspolitik etc. registrieren. Die parlamentarische Demokratie verblasst, denn Gesetzesinitiativen werden häufig nicht mehr zwischen den Organen der Zivilgesellschaft und der Legislative debattiert, sondern zwischen Vertretern der Lobbys und der Administration.

IV. Multiple Krisen

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist nicht isoliert zu sehen. Sie verbindet sich mit einer Krise des Wachstumsparadigmas, einer strukturellen Armuts- und Entwicklungskrise und einer umfassenden Natur- und Klimakrise. Deren Syndrome wie Zerstörung von Ökosystemen, Unterernährung, Kriegen um Ressourcen, Enteignung und Vertreibung, Flüchtlingsströme, Artensterben und Klimawandel greifen zunehmend ineinander über. Das neoliberale Projekt hat zwar die ökonomische Globalisierung vorangetrieben und dabei in seinen Zentren ungeheuren Reichtum angehäuft, aber keine der eigentlichen Schicksalsfragen der Menschheit gelöst.

Obwohl die Brisanz der Klimaproblematik von der Weltöffentlichkeit erkannt ist und die Warnungen der Wissenschaft immer eindringlicher werden, steigen die globalen Emissionen weiter an und die internationale Politik verharrt bislang noch in einer gegenseitigen Blockade, die sich durch die Politik der neuen US-Administration allerdings zu lockern beginnt. Auch in Bezug auf den Klimawandel ist die herrschende Ökonomik Teil des Problems, nicht Teil der Lösung gewesen. Die Berechnungen der maßgeblichen Ökonomen haben die Gefahren des Klimawandels herunter und die Kosten herauf gerechnet, wozu jedes ökonomische Modell Möglichkeiten bietet (Diskontrate, Schadensfunktion, Monetarisierung ökologischer Schäden, Wert eines statistischen Menschenlebens usw.)[3]. Es ist bezeichnend, dass einige Kreise in den USA, die noch vor Kurzem die anthropogen verursachte Erderwärmung bestritten und die internationale Klimapolitik sabotiert haben, mittlerweile die Option eines (möglicherweise unilateralen) Geo-Engineering als „effiziente Lösung“ des Klimaproblems propagieren.
Wir sehen derzeit absolute Armut im globalen Süden, einen wachsenden „planet of slums“ jenseits der postmodernen Glitzerfassaden, neokoloniale Praktiken der Rohstofferzeugung, Zerstörung und Nivellierung natürlicher Systeme, Raubbau an tropischen Wäldern und Fischbeständen, Intensivierung der Landnutzung zugunsten westlicher Konsumstile, Aneignung fruchtbaren Bodens durch finanzstarke Investoren („landgrab“), drohende strukturelle Nahrungsmittelknappheiten, steigende Anzahl von Umweltflüchtlingen, massive Umweltkosten von Wirtschaftswachstum in den sog. Schwellenländern sowie die Gefahren einer imperialen Geopolitik zur Sicherung der Rohstoffversorgung.

Die lächerlich niedrigen Schwellen der Weltbank zur Berechnung extremer Armut (1,24 US Dollar Kaufkraftparität im Jahr 1993) können nicht darüber hinweg täuschen, dass absolute Armut global zugenommen hat. In Wirklichkeit lebt fast die Hälfte der Menschheit von 2-3 US Dollar täglich und damit immer noch in absoluter Armut. Die Syndrome der Krisen greifen zunehmend ineinander. Eine politische Debatte müsste die spezifischen Zusammenhänge innerhalb dieser Syndromverflechtung analytisch präzise und normativ klar herstellen. Die praktische Philosophie, sofern sie sich mit den Fragen eines verantwortbaren Naturumgangs befasst („Umweltethik“), tendiert aufgrund objektiver Entwicklungen in die Richtung hin zu einer kosmopolitischen Ökonomik eines nachhaltigen und schonenden Naturumgangs.

V. Zur Notwen­dig­keit der Wachs­tums­kritik

Zu einer solchen Ökonomik zählt eine Reflexion auf die Messgröße des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Das BIP ist nur ein Maß für diejenigen wirtschaftlichen Aktivitäten, die über Märkte abgewickelt werden; es ist kein Maß für Wohlfahrt und Lebensqualität. Es misst, um ein Wort von Robert Kennedy aufzugreifen, alles außer allem, wofür es sich zu leben lohnt. Es sprechen starke Indizien aus dem Bereich der Glücksforschung für die Hypothese, wonach oberhalb bestimmter Schwellenwerte im Pro-Kopf-Einkommen das BIP-Wachstum keinen Zugewinn an Lebensqualität mehr mit sich bringt. Neueren Studien zufolge trägt eine aktive politische Teilhabe in reichen Ländern mehr zur Lebensqualität bei als steigende Kaufkraft. Die Kennziffer BIP hat daher als Maß für erfolgreiche Politik ausgedient. Der Schrecken eines Nullwachstums läge darin, jährlich mit 2300 Mrd. Euro bei sinkender Bevölkerung auskommen zu müssen. Wachstumskritik ist wahrlich nicht mehr originell, da die wesentlichen Argumente seit 40 Jahren bekannt sind, aber sie ist dringender als je.

Die Rechtfertigung der Notwendigkeit ständigen BIP-Wachstums mit der Schaffung und dem Erhalt von Arbeitsplätzen[4], mit der Erhaltung des sozialen Friedens und mit einem kontinuierlich hohen Steueraufkommen sind allerdings funktionalistisch. Funktionalistische Argumente lassen Debatten über funktionale Äquivalente, d.h. über Alternativen zu, die unter dem Stichpunkt „Zukunft der Arbeit“[5] und einer ökologisch-sozialen Steuerreform diskutiert werden sollten. Der sozialstaatliche Kompromiss der Nachkriegszeit im Westen Deutschlands und die gewachsenen ökonomischen Disparitäten des vereinigten Deutschlands müssen insofern „beyond growth“ neu verhandelt werden. Dies könnte und sollte ein anderer Diskurs sein als die inszenierte Debatte darüber, welche Opfer der Bevölkerung abverlangt werden müssen, damit „die Wirtschaft wieder wächst“. Es könnte ein Diskurs sein, der auch gemeinsame Ziele von Umweltverbänden und Gewerkschaften identifiziert.

Gegenwärtig befinden wir uns in einem günstigen Zeitfenster für grundlegend neue Regelwerke. Eine langfristig angelegte und tief greifende wirtschaftspolitische Reformstrategie wäre ein echter „Green New Deal“ für entwickelte Volkswirtschaften. Es geht hierbei nicht nur um die Regulierung von Finanzmärkten und um staatliche Investitionen, sondern um ein umfassendes Konzept für eine in mehreren Hinsichten gerechtere und nachhaltige Wirtschaftsweise. Diese Idee reicht daher sehr viel weiter als bis hin zu Abschätzungen, wie viele Prozent eines Konjunkturprogramms einen Umweltbezug haben mögen. Maßgabe müssen Ziele und Grundsätze sein, die nicht der Logik von Effizienz und Nutzenmaximierung entstammen, sondern aus der Zivilgesellschaft kommen. Die Orientierungsvokabel „Green New Deal“ ist mittlerweile in aller Munde; was noch fehlt, ist ihre programmatische Untersetzung. Dazu wollen wir im Folgenden Vorschläge unterbreiten.

VI. Regeln und Regelwerke

Bereich A: Wirtschaft

Die Festlegung der Besteuerung der Bürger ist eine zentrale Aufgabe einer Demokratie. Steuersysteme sind historisch gewachsen („Alte Steuer, gute Steuer!“), stehen aber grundlegenden Reformen im Rahmen der verfassungsmäßigen Grenzen offen. Entscheidend sind die normativen Maßstäbe eines Steuersystems, die auch unter den Bürgern konsensfähig sein müssen, die durch das Steuersystem womöglich stärker belastet werden. Die Grundzüge eines Steuersystems sollten u. E. so beschaffen sein, dass auf gerechte Weise ein dauerhaft hohes Staatsaufkommen erzielt wird, ohne dass dabei die natürliche Umwelt und die menschlichen Lebensqualität geschädigt werden. Unter der titelartigen Überschrift „ökologische Steuerreform“ liegen hierzu viele Vorschläge vor.

Ein Element eines solchen umfassend gerechten Systems könnte ein zulässiges Höchsteinkommen sein. Wenn die wirtschaftliche Tätigkeit von Menschen zwar monetärer Anreize, aber nicht eines unbegrenzt hohen Einkommens bedarf, sprechen ethische Gründe für eine 100prozentige Besteuerung ab einer festzulegenden Höhe des Einkommens. Dazu gibt es verschiedene Ansätze, darunter den, dass das Monatsgehalt eines Spitzenverdieners nicht das Jahresgehalt eines Durchschnittsverdieners überschreiten sollte. Eine gerechte Erbschaftssteuer sollte so bemessen sein, dass die Vermögenden zum Aufbau zukunftsfähiger Infrastrukturen und zur ökologischen Modernisierung beitragen und dass zugleich das Recht geachtet wird, legal erworbenes und bereits versteuertes Eigentum auf die Nachkommen zu übertragen. Die Erbschaftssteuer dient auch als ein Korrektiv für ungleiche Chancen zum Vermögensaufbau, wie sie bspw. durch die Teilung Deutschlands nach 1945 entstanden sind. Durch das zulässige Höchsteinkommen und die Erbschaftssteuer erübrigt sich eine zusätzliche Vermögenssteuer. Jedoch könnte man für große Geldvermögen die Pflicht einführen, dass ein bestimmter geringer Anteil des Vermögens in niedrig verzinste staatliche Anleihen, die hohe Sicherheit bei wenig Risiko bieten, angelegt werden muss. Dieser moderate Eingriff lässt sich leichter rechtfertigen und breitere Akzeptanz erwarten.

Die Erwerbsarbeit sollte durch eine Reduzierung der Wochenstunden, Teilzeitarbeit, Jobsharing, Sabbaticals, Arbeitszeitkonten usw. auf mehr Schultern verteilt werden. Ziel sollte sein, den Arbeitenden mehr Zeitwohlstand und mehr Arbeitslosen Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft zu ermöglichen. Durch Anrechnung von ehrenamtlichen Tätigkeiten, Mindestlöhne (ca. 7 Euro/h), Eindämmung der Leiharbeit und der Scheinselbstständigkeit und eine negative Einkommenssteuer für den Niedriglohnsektor soll geleistete Arbeit angemessener gewürdigt werden. Zwischen dem zulässigem Höchsteinkommen und der negativer Einkommenssteuer spricht vieles für einen einheitlichen Steuersatz und Streichung der Sonderregelungen. Die Mehrwertsteuer sollte anhand ökologischer und sozialer Kriterien gestaffelt werden. Klimaschädliche Produkte sollten durch 100prozentige Versteigerung der CO2-Lizenzen verteuert werden und die Erlöse aus der Versteigerung je zur Hälfte bedingungslos an die Bürger und an einen internationalen Adaptionsfonds ausgeschüttet werden. Ebenso sollte die KfZ-Steuer nur anhand der CO2-Emission bemessen werden. Die Pendlerpauschale ist durch Anreize zu umweltfreundlicherer Mobilität, wie bspw. eine Monatskarte für den ÖPNV und Betriebsräder, zu ersetzen. Staatliche Förderung sollte generell an soziale und ökologische Ziele gebunden sein und umweltschädliche Subventionen abgebaut werden.

Um die Dominanz des Finanzsektors einzudämmen und ihm wieder eine dienende Rolle gegenüber der Realwirtschaft zu geben, um Steuerflucht bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von staatlichen Institutionen und Infrastrukturen zu unterbinden, sind neue, strengere Regeln und eine schärfere Aufsicht erforderlich. Geschäfte außerhalb der Bilanz, Zweckgesellschaften, Handel mit nicht-börsennotierten Papieren durch Banken und Geschäfte zugunsten von Personen und Instituten, die in „Steueroasen“ registriert sind, sollten verboten werden. Neue Finanzprodukte sollten durch Zulassungsverfahren geprüft und solche, die nur der Spekulation dienen untersagt werden. Die Größe einzelner Banken sollte beschränkt werden und die Inanspruchnahme staatlicher Unterstützung an die Bedingung geknüpft werden, dass sie sich aus den Steueroasen zurückziehen. Darüber hinaus plädieren wir für eine Einführung von Börsenumsatz- und Tobin-Steuer.

Die Modellfigur eines rationalen und souveränen Verbrauchers ist widerlegt und wir sehen es als gerechtfertigt an, konsumpolitische Anreize für einen nachhaltigen Konsumstil zu setzen. Voraussetzung dafür ist eine klare Kennzeichnung der ökologischen und sozialen Aspekte von Produkten und deren Herstellung und eine Stärkung der Verbraucherinstitutionen, die auch durch eine Besteuerung von Werbung finanziert werden sollten.

In der Ernährungspolitik sollte das Leitbild einer giftarmen, regionalen, saisonalen und damit energiesparenden und naturschonenden Ernährungsweise gelten. Hierzu sind steuerliche Anreize und pädagogische Ansätze beispielsweise für eine Verringerung des Fleischkonsums, Entlastung des Gesundheitswesens und der Schutz der Nahrungssicherheit für Länder des Südens sinnvoll und notwendig.

Aufgrund ökologischer und ökonomischer Dringlichkeiten sollten industriepolitische Stimuli so gesetzt werden, dass so rasch wie möglich auf Ressourcen schonende Techniken umgerüstet wird und „grüne“ Innovationen die Wirtschaft nachhaltig stärken. Dazu sind die derzeitigen Anreize zu schwach und bedürfen einer deutlichen Nachbesserung. Dynamisierte Standards, wie beim Top Runner Modell, die Öko Design-Richtlinie und das EEG sind geeignete Instrumente, die geschärft, genutzt und weiterentwickelt werden sollten. In der Bauplanung soll der Energieverbrauch der gesamten Lebenszeit bilanziert und berücksichtigt werden, insbesondere bei öffentlichen Aufträgen. Strukturen wie das Schienennetz, Trinkwasserversorgung usw. gehören in öffentliche Hände und sollten ökologisch saniert werden.

Verkehrspolitik sollte danach streben, mehr Mobilität für die gesamte Bevölkerung bei weniger Verkehr zu erreichen. Deutschland verfügt über das zweitlängste Straßennetz der Welt. Weiterer Ausbau ist unnötig, zerschneidet und versiegelt Landschaften und bürdet zukünftigen Steuerzahlern hohe Unterhaltungskosten auf. Der Bundesverkehrswegeplan sollte daher abgeschafft werden, eine Maut sowie ein Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen eingeführt werden und als eine nahe liegende Konsequenz die Motoren bei 160 km/h abgeriegelt werden. Für den Flottenverbrauch sollte ein EU-weites Lizenzhandelssystem eingeführt werden. Innerörtlich sollte die Regelgeschwindigkeit 30 km/h betragen und es sollten Straßen zugunsten von Bürgersteigen und Radwegen zurückgebaut werden. Die Lebensqualität der Städte lässt sich erhöhen, wenn das verfehlte Leitbild der autogerechten Stadt nicht nur nicht fortgesetzt, sondern seine baulichen Resultate behoben werden.

Für innereuropäische Flüge ist eine Kerosinsteuer überfällig und innerdeutsche Flüge sollten unattraktiver gemacht werden. Vom Börsengang der Deutschen Bahn sollte Abstand genommen werden und statt Prestigeobjekten sollte ein flächendeckendes, kostengünstiges Angebot gefördert werden. Die weitere Umwandlung von Flüssen zu Wasserstraßen sollte verhindert werden und Schiffen mit hoher Schadstoffemission und einwandigen Tankern sollte der Zugang zu deutschen Häfen bald verwehrt werden.

Bereich B: Ökologie

Ziel einer weitsichtigen Politik ist der Aufbau eines Systems differenzierter Landnutzung, das das vernetzte Ensemble der Naturkapitalien umfassend und vorsorglich sichert (hierzu Ott & Döring 2008). In der Agrarpolitik sind radikale Umschichtung der Mittel der ersten in die zweite Säule der Agrarförderung und wirkungsvolle Anreize für Agrarumweltprogramme und den ökologischen Landbau erforderlich. Produktionsintegrierter Naturschutz sollte ausgebaut, das Umbrechen von Grünland abgewendet und eine extensive Weidewirtschaft bevorzugt werden. Industrielle Fleischmast sollte mit strengen Auflagen bedacht werden, um die externen Kosten für Mensch, Tier und Umwelt zu berücksichtigen. Neue Massentierhaltungsanlagen sollten nicht mehr genehmigt werden können. Pestizide sollten nur befristet zugelassen und gegebenenfalls ausgemustert werden und synthetische Düngemittel mit einer Abgabe versehen werden, um die Eutrophierung zu verringern. Gentechnikfreie Landwirtschaft muss weiterhin möglich sein. Die Vielfalt von Haus- und Nutztierrassen und -sorten sollte bewahrt werden.

Der Anbau von Biomasse ist mit erheblichen sozialen und ökologischen Risiken verbunden, die durch obligatorische Zertifizierung mit entsprechenden Standards vermieden oder verringert werden müssen. Extensive Anbausysteme, wie Niederwald- und Schilfnutzung auf nassen Standorten sollte gefördert werden. Der Einsatz von Bio-Kraftstoffen im Verkehrssektor ist wegen seiner Ineffizienz abzulehnen und die Beimischungsquote daher abzuschaffen.

In der Wald- und Forstwirtschaft ist der Druck in Richtung größere Wettbewerbsfähigkeit spürbar, was mit einer Intensivierung der Bewirtschaftung und mit einer Degradierung des Ökosystems einherginge. Wir plädieren der Tendenz zu einem Neoproduktivismus durch einen konsequenten Umbau zu naturnahen und widerstandsfähigen Wäldern entgegenzutreten. Forstwirtschaftliche Standards guter fachlicher Praxis, Honorierung ökologischer Leistungen, Förderung von Plänter- und Laubwäldern, Ausbau der Waldschutzgebiete auf 5 Prozent der Waldfläche und Förderung genossenschaftlicher und kleinflächiger Waldnutzung sind wünschenswerte Maßnahmen hierzu. Die Wildbestände sollten durch ein Fütterungsverbot reduziert und die Wiedereinbürgerung größerer Raubtiere, wie Luchs und Wolf, sollte unterstützt werden. Die weltweite Ausbeutung der Wälder soll durch strikte Standards vermieden und Zellstoffimporte EU-weit besteuert werden.

Dem Wasserhaushalt der Landschaft sollte mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden und die WRRL konsequent umgesetzt werden. Wiedervernässung und andere Renaturierungsmaßnahmen gehören ebenso wie ein Gebietswassermanagement auf die Agenda. Böden müssen vor Erosion, Verdichtung, Schadstoffimmission und besonders Versieglung geschützt werden, denn sie spielen eine entscheidende Rolle beim Kohlenstoffkreislauf. Daher sollte der Erhalt und Anstieg des Kohlenstoffgehalts in jeglichen Bodenformen lanciert werden. Im Naturschutz gilt es, die Erfolge der Schutzgebiete auf die gesamte Landesfläche zu übertragen und die nationale Biodiversitätsstrategie konsequent umzusetzen. Das differenzierte Schutzgebietssystem sollte auch grenzüberschreitend ausgeweitet werden und in Anpassung an den Klimawandel flexibler gestalten werden. Förderungswürdig ist die Renaturierung von Ökosystemen. Eine Renaturierung der gesamten Landnutzung ist zu moderaten volkswirtschaftlichen Kosten möglich. Viele Zahlungsbereitschaftsanalysen kommen zu dem Ergebnis, dass eine Nachfrage nach Naturschutz existiert, der kein ausreichendes Angebot gegenübersteht. Insofern wären Investitionen in eine Renaturierung des Naturhaushaltes volkswirtschaftlich sogar sinnvoll.

Die Meere sind übernutzt, versauernd und überdüngt. Die Fischerei muss als drastisches Beispiel nicht nachhaltiger Nutzung angesehen werden. Das System der Fangquoten hat sich nicht bewährt. Es muss durch andere Regelungen wie langfristige Managementpläne ersetzt werden. Schonende Fangmethoden sollten begünstigt bzw. besonders schädliche verboten werden. Die Bemessung der Fanghöhe muss sich an fischereibiologischen Grenzen orientieren. Die Überkapazitäten der EU-Flotte, insbesondere Spaniens, sollten abgebaut und die Befischung vor afrikanischen Küsten sollte rasch gestoppt werden. Sinnvoll ist eine Pflicht zur Anlandung des Beifangs. Regionale genossenschaftliche Strukturen sollten bevorzugt werden.

Scheinbar gleiche Produkte („like products“ der WTO) sind sehr unterschiedlich hinsichtlich ihrer sozialen und ökologischen Auswirkungen, die für Konsumenten in der Regel nicht oder nur mit großem Rechercheaufwand erkennbar sind. Dies gilt bekanntermaßen für Gold, Baumwolle, Thunfisch, Biomassen, Viehfutter und Holz. Daher fordern wir Regeln für Rohstoffimporte und -exporte, die die unterschiedlichen externen Kosten sichtbar machen. Werden bestimmte Mindeststandards nicht eingehalten, sind Importzölle gerechtfertigt. Wir denken hierbei an Holz/Zellstoff, Baumwollprodukte, Kaffee, Tee, Garnelen, Palm- und Jatrophaöl u.v.m. EU-weit sollte der Export von Quecksilber reduziert werden und dessen Nutzung zur Goldgewinnung unterbunden werden. Gleichfalls sind Agrarexporte einzustellen und Müllverschiebung in Länder außerhalb der EU zu unterbinden.

Eine Langfassung dieses Textes kann unter dem folgenden Link eingesehen und unterzeichnet werden:
http://blog.gruene-greifswald.de/regelwerke/liste

[1] Mit dem Ausdruck „Neoliberalismus“ bezeichnen wir die herrschende Strömung seit ca. 1980; die Ansätze der späten 1930er Jahre wären korrekterweise als „Ordoliberalismus“ zu bezeichnen.

[2] Sehr hellsichtig hierzu Dieter Rulff, „Totgesagte leben länger“, TAZ vom 20. April 2009, S. 10.

[3] Der sog. Stern-Report hat hier allerdings alternative Berechnungsmöglichkeiten aufgezeigt.

[4] Nach dem Syllogismus: 1) Wachstum schafft Arbeit, 2) „sozial ist, was Arbeit schafft“, 3) also ist Wachstum die beste Sozialpolitik.

[5] Zur wachstumsinduzierten Reduzierung von Arbeitslosigkeit sind dauerhafte Wachstumsraten von 2,5-3 Prozent nötig.

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