Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Die vermeidbare Krise

Bereits vor siebzig Jahren lieferte John M. Keynes die Instrumente zu ihrer Diagnose und Bekämpfung,

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 28-37

Die große Krise im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts lässt sich allenfalls mit der Großen Depression der 1930er Jahre vergleichen. Die beiden augenfälligsten Unterschiede – staatliche Expansionsmaßnahmen heute, Krisen verschärfende Ausgabenkürzungen nach 1929, und das gegenüber damals inzwischen vielfach höhere Produktions- und Produktivitätsniveau der reichen Volkswirtschaften – begründen zwar die verhalten optimistische Erwartung, dass die aktuelle Weltrezession gebremst verläuft, dank des Staatsinterventionismus die Umkehr zu einem Aufschwung rascher erreicht wird und die sozialökonomischen Krisenfolgen verteilungspolitisch gemildert werden. Doch die heutige Krise entwickelte sich über einen sehr viel längeren Zeitraum als die Große Depression nach 1929, und die seit etwa drei Jahrzehnten zu beobachtende globale Divergenz zwischen finanzkapitalistischen Transaktionen und realwirtschaftlicher Aktivität führte zu strukturellen Verwerfungen, deren Ausmaß keine Parallele in der Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit findet. Vor allem spielten in den 1930er Jahren die heutigen Langzeitprobleme, wie Umweltzerstörung, Klimawandel, Ressourcenerschöpfung, kurz: die Gesamtheit der ökologischen Gefährdungen, noch keine Rolle, so dass die Krisenpolitik auf solche „Nebenbedingungen“ keine Rücksicht zu nehmen brauchte.

Die Krise nach 1929 wurde „nur“ von einem Börsencrash ausgelöst und eskalierte zur Weltwirtschaftskrise erst aufgrund falscher bzw. zu lange hinausgeschobener krisenpolitischer Gegenmaßnahmen der Regierungen. Heute erleben wir eine „Doppelkrise“ von Finanzsektor und Realwirtschaft. Die Verschuldung privater Haushalte, von Unternehmen und Staaten wurde über Jahrzehnte hinweg auf ein unhaltbares Niveau getrieben. Weltweit wurden industrielle Überkapazitäten aufgebaut – nicht nur in der Kfz- Branche, deren auf das Jahr bezogener globaler Angebotsüberhang schon in den vergangenen Jahren 20 Millionen Produktionseinheiten aufwies. Die Immobilienmärkte vieler Länder brechen unter einem riesigen, mittels Krediten finanzierten Überangebot zusammen. Die Globalisierung, die eine weltweite Verflechtung von Produktionsketten und einem entsprechenden Anstieg des Handelsvolumens herbeiführte, erschwert nationale Wirtschaftspolitik, aber die der Situation angemessene globale Abstimmung einzelstaatlicher Nachfrageprogramme ist bisher nicht zustande gekommen. Daher wird sich der realwirtschaftliche Abschwung länger fortsetzen – mindestens bis 2011 -, als die zweckoptimistische Rhetorik der Machthaber verkündet, und mit der noch unsicheren Bewältigung der Finanzkrise – im Kern ist es eine Bankenkrise – werden die realwirtschaftlichen Probleme keinesfalls „automatisch“ gelöst sein.

Der lange Vorlauf zur großen Krise

Die Vorgeschichte der aktuellen Krise reicht bis Ende der 1960er Jahre zurück, als es infolge der durch den Vietnam-Krieg bedingten Leistungsbilanzdefizite der USA zu einer Dollar-Krise kam, die schließlich 1973 zum Ende der 1944 in Bretton Woods vereinbarten festen Wechselkurse führte. Der Verfall der US-Währung wirkte als Katalysator für den Beschluss der OPEC, den Ölpreis 1973 massiv zu erhöhen. Dieser Schock stieß die entwickelten kapitalistischen Länder von ihrem bis dahin steilen Wachstumspfad, auf den sie bis heute nicht mehr zurück gefunden haben. Das Wirtschaftswachstum blieb von da an dauerhaft so schwach, dass es nicht mehr ausreichte, um das Beschäftigungsniveau auch nur zu stabilisieren. Es verwundert schon, dass in der öffentlichen Diskussion über die aktuelle Krise kaum Bezug auf die anhaltende Beschäftigungskrise der vergangenen drei Jahrzehnte genommen wird, als hätte jene mit dieser überhaupt nichts zu tun. Dieses Defizit an historischem Verständnis für sozialökonomische Entwicklungen begründet nicht zuletzt erhebliche Zweifel an der Problemlösungsfähigkeit der neueren Wirtschaftswissenschaft und somit auch an ihrer politischen Beratungskompetenz in der gegenwärtigen Krise.[1]

Der tiefe Wachstumseinbruch der 1970er Jahre provozierte einen Paradigmenwechsel der herrschenden Wirtschaftslehre in der akademischen Ökonomik und der Wirtschaftspolitik der Mehrzahl der industrialisierten Länder des Westkapitalismus. Der gemäßigte beschäftigungspolitische Staatsinterventionismus der ersten Nachkriegsjahrzehnte, der sich am traditionellen Verständnis der Keynesschen Theorie orientiert hatte, wurde vom Neoliberalismus verdrängt. Die neue Botschaft der von staatlichen Regulierungen „befreiten“ Märkte klang verheißungsvoll: Überwindung der Wachstumsschwäche und Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Die Versprechungen wurden nicht eingelöst, und der Neoliberalismus zeugte die gegenwärtige globale Wirtschaftskrise, deren politischen Folgen noch nicht absehbar sind.[2]

Vor dem Hintergrund der schleichenden Zerstörung des Wohlfahrtsstaates während der vergangenen dreißig Jahre und den wiederkehrenden „kleinen“ Krisen des Finanzsektors und der Realwirtschaft – von der Mexiko-Krise 1982 bis zur Krise der New Economy Ende der 1990er Jahre – lässt sich rückblickend feststellen, dass die reichen kapitalistischen Sozialökonomien bereits einen erheblichen Zerrüttungsprozess erlebten. Die große Krise, die seit dem September 2008 virulent geworden ist, kam also weder so urplötzlich, wie es der Mehrheit der politischen Klasse und der breiten Öffentlichkeit bisher erscheint, noch handelt es sich um eine bloße Finanz- bzw. Bankenkrise, sondern synchron treten zwei Krisen auf – die Finanzkrise und die Krise der Realwirtschaft. Es versteht sich, dass sie sich gegenseitig verstärken – eben zu der großen Krise. Die in Europa und insbesondere Deutschland vorherrschende Deutung, es handele sich bei den realwirtschaftlichen Problemen „nur“ um die Folge der Finanzkrise, muss als Fehldiagnose verworfen werden. Zutreffend ist hingegen, dass die Finanzkrise letztlich von den durch den dauerhaften Wachstumsrückgang seit den 1970er Jahren ausgelösten wirtschaftspolitischen Fehlhandlungen und das dadurch erst ermöglichte Ausufern finanzkapitalistischer Spekulationspraktiken verursacht worden ist.

Die Erblast des Neoliberalismus:
Fehlerhafte Krisendiagnose und unzulängliche Therapie

Die inzwischen fast lächerlich erscheinenden allerersten „Erklärungen“ zur Krise wollten glauben machen, es handele sich um ein Art Betriebsunfall, der von gierigen Zockern verursacht wurde. Mittlerweile wird der Kreis der vermeintlich Schuldigen etwas weiter gezogen, aber nach wie vor bestehen erhebliche Aversionen gegen eine radikale Analyse der eigentlichen, langfristigen Krisenursachen. Die vom Neoliberalismus vereinnahmte Hochschulökonomik tut sich verständlicherweise schwer, ihre Mitschuld an den Fehlentwicklungen einzugestehen[3], und deshalb können von dieser Seite weder eine unvoreingenommene Ursachenerklärung noch zukunftssichere Reformentwürfe erwartet werden.

In Europa und insbesondere in Deutschland wird die gegenwärtige Krise als Finanzkrise mit realwirtschaftlichen Folgen wahrgenommen, so dass die politisch brisante Schuldfrage nach wie vor allein an den Finanzsektor und personalisiert an die Banker gerichtet wird. In den USA wird der „Doppelcharakter“, d. h. das synchrone Auftreten von zwei Krisen, inzwischen klarer gesehen[4], und auch US-Regierung und amerikanische Zentralbank reagieren angemessener auf diese Konstellation als die europäischen Regierungen und die Europäische Zentralbank. Es ist zwar zu erwarten, dass mit Fortschreiten der Krise auch Europa zur besseren Einsicht gelangt, aber bis dahin verstreicht kostbare Zeit, in der die notwendigen Maßnahmen für die Realwirtschaft unterbleiben. Die vermeintlichen Hilfen, die die Bundesregierung für die Realwirtschaft auf den Weg gebracht hatte – verzögert und wegen unzulänglicher Krisendiagnose keineswegs problemgerecht – waren selbst im April/Mai 2009, also mehr als ein halbes Jahr nach dem offenen Ausbruch der Krise, bei den Adressaten noch nicht „angekommen“[5]. Den nur scheinbar plausiblen Entschuldigungen für solche Verzögerungen, dass Konjunkturprogramme eine Vorbereitungs- und Anlaufzeit benötigen, dass man/frau von dem Krisenausbruch überrascht wurde, muss entgegen gehalten werden, dass bereits lange vor dem September 2008 offenkundig geworden war, dass die Wirtschaft auf eine Rezession zusteuerte, dass die US-amerikanische Hypothekenkrise vorhersehbar weiter eskalierte, und dass sich selbst in der neoliberal eingestellten Wirtschaftspresse spätestens seit Frühjahr 2008 mehr und mehr Alarmmeldungen fanden.

Das 1967 (!) geschaffene „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (Stabilitätsgesetz) sieht eine mittelfristige Finanzplanung vor, in deren Rahmen auch „Schubladenprogramme“ für öffentliche Investitionen konzipiert werden sollen, die im Fall einer Rezession eine schnelle Steigerung der staatlichen Nachfrage gestatten. Das keynesianisch inspirierte Stabilitätsgesetz verschwand jedoch wie der sprichwörtliche „tote Hund“ aus Augen und Sinn der Politik. Einflussreiche Entscheidungsträger der Geld- und der Finanzpolitik malten die Lage noch im Spätsommer 2008 in freundlichen Farben. So meinte beispielsweise der Präsident der Deutschen Bundesbank noch Mitte August 2008, für Konjunkturprogramme gäbe es überhaupt keinen Anlass, auch nur darüber zu reden.[6]

Wie bereits bemerkt, reichen die Ursachen der realwirtschaftlichen Krise in die 1970er Jahre zurück. Die seitdem chronische Wachstumsschwäche der hoch entwickelten kapitalistischen Länder wurde partiell durch die explosionsartige Zunahme der Verschuldung von Unternehmen, privaten und öffentlichen Haushalten verschleiert, d.h. aufgrund der immensen Kreditaufnahme konnte für die erstaunlich lange Zeit von drei Jahrzehnten die Wachstumsabschwächung teilweise latent gehalten werden, aber eben nur teilweise. Die unkontrollierte Schuldenexpansion wirkte auf den wachstumsschwach gewordenen Kapitalismus wie ein Dopingmittel auf einen gealterten Leistungssportler: Er kehrt zwar nicht auf sein früheres Niveau zurück, aber die Aufputschmittel bleiben auch nicht ganz wirkungslos. Die Risiken und Nebenwirkungen sind jedoch erheblich. Am Ende der temporären Pseudoverjüngung steht der Kollaps – die große Krise.

Jetzt ist die Schuldenpyramide unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen. Das zeigt sich als Finanzkrise. Zu erwarten, dass allein mit den Milliardenhilfen für den Finanzsektor auch die realwirtschaftliche Krise (wieder) beendet werden könnte, ist illusorisch. Die triviale Tatsache, dass auf einem begrenzten Planeten kein endloses Wachstum möglich ist, sowie die Erkenntnis, dass Wachstum den reichen Ökonomien längst keine echten Wohlstandszunahmen mehr beschert[7], sind unbequeme Botschaften für die Wachstumsgläubigen, aber Wunsch und Wirklichkeit waren schon immer verschiedene Dinge.

Die Vergan­gen­heit holte die Zukunft ein

Vor 32 Jahren, also im Jahr 1977, war in dieser Zeitschrift ein Aufsatz unter dem Titel erschienen „Wieder zehn Jahre Massenarbeitslosigkeit?“[8] Der darin artikulierte Pessimismus erwies sich als viel zu vorsichtig, wie die vergangenen Jahrzehnte bewiesen haben. Der Autor konnte sich in den siebziger Jahre doch noch nicht vorstellen, dass demokratische Regierungen und ihre Wählerschaft es zulassen würden, dass sich ein langfristiger, über mehrere Jahrzehnte geduldeter Trend steigender Arbeitslosigkeit herausbilden könnte. Inzwischen ist eine ganze Generation herangewachsen, die sozusagen vom Säuglingsalter an lernen musste, dass Massenarbeitslosigkeit zu einer Art Normalerscheinung in Deutschland und anderswo wurde. Gewöhnung und das ideologische Dauerfeuer, dass es nur eine einzige Option, nämlich die der TINA-Formel gäbe (TINA = „there is no alternative“, hämmerte die britische Premierministerin Thatcher ihren Insulanern ein, und die Botschaft wurde weltweit gehört und aufgegriffen), lähmten die Mehrheit, und die wenigen „Rebellen“ wurden von den Massenmedien lächerlich gemacht oder ganz ignoriert. Diese Tatsache berechtigt zur Skepsis bezüglich der weiteren Entwicklung. Wenn die Krise eine Trendwende bewirken, also die Rückkehr zur Vollbeschäftigung wenigstens einleiten soll, dann würde das mehr als die derzeitigen Rettungsversuche zugunsten der fallierenden Banken und sonstigen Spekulanten erfordern.

Dass der Staat jetzt eingreift, ist noch kein Beweis für einen Kurswechsel der politischen Klasse und der Shareholder-Value-Apologeten.[9] Die Reform-Mimikry der vergangenen Jahre bekommt einen neuen Anstrich. Das war es wohl schon. Um die Reformbeteuerungen und die Beschuldigungsrhetorik wahlpolitisch glaubwürdig erscheinen zu lassen, wird das systemkonforme Rettungsgeschäft als Abkehr von der Marktideologie und als Renaissance des Keynesianismus ausgegeben, womit der Symbolwert des Namens Keynes jedoch missbraucht wird: Die neoliberalistische Ära mag sich ihrem Ende zuneigen, aber dass der Neoliberalismus überhaupt zeitweilig so starken Einfluss gewann, verdankt er denselben machtpolitischen Einflüssen, die nach wie vor den Takt angeben. Nicht der Neoliberalismus hat den Kapitalismus instrumentalisiert, sondern umgekehrt bot sich der Neoliberalismus unter bestimmten historischen Umständen den Herrschenden als zweckvolle Abwehr des forcierten Ausbaus des sozialstaatlichen und beschäftigungspolitischen Interventionismus an. Wenn der kapitalistischen Machtelite gegenwärtig der Rückgriff auf den Staat, d. h. die Steuermilliarden, opportun erscheinen, so mag das als keynesianisch bezeichnet werden, aber das ist eher ein semantischer Rosstäuschertrick, um den Griff der Spekulationsbanken in die Staatskasse, als Gesinnungswandel und Reformbereitschaft zu legitimieren – ähnlich der TINA-Formel. Jedenfalls schreckte der Kapitalismus im Laufe seiner Geschichte nicht einmal vor der Kollaboration mit dem Faschismus zurück, wenn sich die „Systemfrage“ ernsthaft stellte.

Der verzerrte „Keyne­si­a­nismus“ und was Keynes tatsächlich über Wachs­tums­schwäche und die Wiederkehr der Krise vorher­ge­sagt hat

Die neue Popularität für den lange Zeit ins Abseits gestellten „Jahrhundertökonomen“ John Maynard Keynes (1883 – 1946) wird selbst von Hauspostillen des Neoliberalismus gepflegt. Doch was hierbei als der Keynesianismus vorgeführt wird, ist eine kastrierte Version – sozusagen ein „Mainstream-Keynesianismus“, dem die Stacheln gezogen wurden. Dieser Mainstream-Keynesianismus reduziert sich auf die Meinung, Keynes habe für Krisen staatliche Ausgabensteigerungen empfohlen und für diesen Zweck auch eine (hohe) Staatsverschuldung gut geheißen. Das ist nicht prinzipiell falsch, verwechselt aber die Keynessche Konjunktursteuerung, also Maßnahmen für die Glättung der seit 200 Jahren den Kapitalismus begleitenden zyklischen Aufwärts- und Abwärtsbewegungen der gesamtwirtschaftlichen Aktivität, mit Keynes´ Stagnationstheorie und den darauf bezogenen wirtschaftspolitischen Empfehlungen[10]. Stagnation bedeutet, dass das Wirtschaftswachstum dauerhaft, also die Konjunkturzyklen übergreifend, so stark abfällt, dass sich selbst in konjunkturellen Aufschwungsphasen keine Vollbeschäftigung mehr einstellt. Exakt diese von Keynes lange im Voraus prognostizierte Konstellation erlebten wir seit den 1970er Jahren.

Die Elimi­nie­rung der „langen Frist“ in der geläufigen Keynes-Re­zep­tion

Im Mai 1943 legte John Maynard Keynes im Auftrag der englischen Regierung eine kurze Analyse zur voraussichtlichen Beschäftigungsentwicklung nach Kriegsende vor. In dieser theoretisch fundierten Vorausschau auf die langfristige Entwicklung der technisch-wirtschaftlich weit fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaft fasste Keynes Überlegungen zusammen, die seit Ende der 1920er Jahre sein Denken bestimmt hatten und dann durch sein 1936 veröffentlichtes theoretisches Hauptwerk die „Allgemeine Theorie“ weiter fundiert wurden. Keynes trennte in seinen Analysen zwischen kurzfristigen und langfristigen Entwicklungen und entsprechend unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Handlungsoptionen.[11] Die Keynes-Rezeption wurde aber in den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs weit weniger von der Lektüre der Keynesschen Originalquellen bestimmt als durch die kurz nach Erscheinen der „Allgemeinen Theorie“ von Keynes´ Landsmann John Richard Hicks auf einen Zeitschriftenaufsatz[12] quasi eingedampfte, vor allem aber um wichtige Aspekte der „Allgemeinen Theorie“ verkürzte Wiedergabe der Keynesschen Beschäftigungstheorie. Von Entwicklungen in der langen Frist war in Hicks „shortstory“ der „Allgemeinen Theorie“ nicht mehr die kleinste Spur zu finden. Die Hicks´sche Keynes-Darstellung klammerte die in der „Allgemeinen Theorie“ nachweisbare Langfristperspektive völlig aus, und wegen des immensen Einflusses von Hicks auf die nationalökonomische Lehrbuchliteratur nach 1945 konnte sich dann – und zwar bis heute – das falsche Keynes-Verständnis ausbreiten und festsetzen, Keynes habe nur die kurze Frist, gemeint ist der Konjunkturzyklus (5-7 Jahre), vor Augen gehabt und auch nur dafür wirtschaftspolitische Empfehlungen zu bieten.

Hicks hatte aber auch ganz anderes im Sinn, als Keynes´ Kapitalismusanalyse originalgetreu und in der gedanklichen Breite zu vermitteln. Vielmehr beabsichtigte er, die klassische (Gleichgewichts)Theorie und Keynes Kritik an dieser zu synthetisieren, was als „neoklassische Synthese“ bekannt wurde – und von der Keynesianerin Joan Robinson als „Bastardkeynesianismus“ kritisiert wurde. Keynes war nicht nur ein herausragender Wirtschaftswissenschaftler, sondern er verfügte – wie Marx und Schumpeter – über etwas, das „historische Intelligenz“ genannt werden kann. Das hatte er bereits mit seiner scharfen Kritik an dem wegen seiner weltpolitischen Folgen verheerenden Versailler Vertrag bewiesen, und Keynes´ historische Intelligenz ließ ihn auch die langfristig eintretende Stagnation lange im Voraus erkennen. Was für ein Drama, dass Keynes´ theoretisches Werk derart verstümpert rezipiert worden ist![13]

Keynes Langfrist­pro­gnose der Entwicklung reicher, kapita­lis­ti­scher Volks­wirt­schaften

Trotz recht unterschiedlicher Strömungen in der Keynes-Nachfolge besteht Übereinstimmung darüber, dass Keynes Wachstum und Beschäftigung hoch entwickelter Volkswirtschaften wesentlich von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bestimmt sieht, was angebotsseitige Aspekte ja nicht ausschließt. Die Nachfrage verändert sich mit steigendem Einkommen bzw. Anhebung des materiellen Lebensstandards strukturell, was trivial ist. Nicht trivial ist hingegen die Art der strukturellen Veränderung bei der Einkommensverwendung. Bei bestimmten Gütergruppen – beispielsweise Nahrungsgütern – wird ein relatives Sättigungsniveau erreicht, so dass dann absolut und relativ mehr vom Einkommen für andere, insbesondere auch neue Konsumgüter verwendet wird. Mit steigendem Einkommen nimmt jedoch auch die Sparfähigkeit zu, so dass ein wachsender Einkommensanteil für Vorsorge im weiten Sinn verwandt wird; es wird absolut, meist auch relativ mehr gespart. Ein Vierpersonenhaushalt mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 3000 Euro wird davon vielleicht 5 Prozent sparen; steigt das Einkommen auf 5000 Euro netto, so sind es nicht mehr nur 5, sondern 7 oder gar 10 Prozent. Dieses Spar- bzw. Vorsorgeverhalten befriedigt selbstverständlich auch ein gegenwärtig akutes Bedürfnis wie der Kauf von Konsumgütern, nämlich das Bedürfnis nach (Zukunfts-) Sicherheit. Deshalb ist auch gar kein Zinsanreiz notwendig, um zum Sparen zu motivieren, auch wenn jeder Sparer in der Regel lieber (höhere) Zinsen erhält, als leer auszugehen.

Das Problem für hoch entwickelte Volkswirtschaften, das sich mit der steigenden gesamtwirtschaftlichen Ersparnis stellt, liegt in der (produktiven) Verwendung der Spargelder. Werden sie in vollem Umfang in neue Fabriken, Häuser, Straßen usw. investiert, so kompensiert diese Investitionsgüternachfrage jenen durch die Sparentscheidungen entstehenden Nachfrageausfall. Da jedoch die Investoren nur investieren, wenn sie mit steigendem Absatz rechnen – warum sollte sonst eine zusätzliche Anlage installiert werden -, vermindert die relative Abschwächung der Konsumdynamik auch die Investitionsbereitschaft. Der relativen Sättigung beim Konsum folgt sozusagen eine relative Sättigung bei den Investitionen. Für Keynes und viele andere Ökonomen ist Sättigung an sich kein Problem, sondern zeugt im Gegenteil davon, dass jener erwünschte Zustand erreicht oder zumindest in Reichweite gekommen ist, bei dem die Menschen das Gefühl haben, nun ist bezüglich Konsumstandard ein Niveau erreicht, das weiter ansteigen zu lassen, die Lebenszufriedenheit, dass Glück nicht mehr steigern wird; vielleicht tritt sogar das Gegenteil ein, weil ein Zuviel an Konsum auch zu viel wertvolle Lebenszeit für die Konsumaktivitäten in Anspruch nimmt.

Die vorstehenden Überlegungen sind bereits hinreichend, um Keynes Langfristprognose verständlich zu machen. In der erwähnten Stellungnahme von 1943 prognostizierte Keynes drei Entwicklungsetappen für die Zeit nach Kriegsende:

Eine erste Phase des Nachholbedarfs bei Konsumenten und Investoren. Es besteht inflationäre Übernachfrage, und Produktion und Beschäftigung steigen.

In der zweiten Phase stabilisiert sich die Volkswirtschaft auf einem hohen Beschäftigungsniveau, aber der Nachholbedarf ist gedeckt, und die Gefahr der Nachfrageinflation geschwunden.

In der dritten Phase beginnt die Ersparnis (beim Vollbeschäftigungseinkommen) die für Investitionen nachgefragte Kreditsumme zu übersteigen, so dass sich eine gesamtwirtschaftliche Nachfragelücke öffnet. Sie lässt sich einerseits als Folge des Wohlstands bzw. der damit eintretenden relativen Konsumsättigung bei den höheren Einkommensschichten und des Kaufkraftmangels der weniger Begüterten verstehen. Es liegt auf der Hand, dass mit der Umverteilung von unten nach oben, wie sie über die vergangenen Jahrzehnte stattgefunden hat, der Nachfrageausfall noch erheblich vergrößert worden ist. Die retardierende Konsumnachfrage wirkt sich auch auf die Investitionstätigkeit aus, so dass Keynes für die dritte Phase eine relative Sättigung der Investitionen (saturation of investment) vorhersah. Das gesamtwirtschaftliche Wachstum sinkt, und die Beschäftigung fällt unter das Vollbeschäftigungsniveau, und zwar nicht nur vorübergehend wie in den wiederkehrenden konjunkturellen Abschwungsphasen, sondern eben dauerhaft. Ob diese Konstellation als Stagnation, als Wachstumsschwäche, als Erschöpfung der Wachstumsdynamik oder wie auch immer bezeichnet wird, ist irrelevant, aber die Bezeichnung Stagnation hat sich in der Fachliteratur weitgehend etabliert.

Der theoriegeschichtlichen Bedeutung halber sei noch kurz erwähnt, dass der französische Sozialwissenschaftler Jean Fourastié unabhängig von Keynes kurz nach Kriegsende, 1949, sein zumindest in Fachkreisen nicht unbekanntes Werk „Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts“[14] publizierte, in dem er ebenfalls – mit prinzipiell gleicher Argumentation wie Keynes – die künftige Stagnation als unvermeidlich herausstellte.

Die empirische Bestätigung der Langfrist­pro­gnose adelt die ihr zugrunde liegende Theorie

Im Großen und Ganzen wurde die Keynessche Prognose der langfristigen Nachkriegsentwicklung der reichen kapitalistischen Länder von der historischen Entwicklung bestätigt, insbesondere durch die anhaltende Wachstumsabsenkung seit den 1970er Jahren. Keynes´ theoretisch fundierte Voraussage des unvermeidlichen Wechsels vom Vollbeschäftigungswachstum zu dauerhaft schwachem Wachstum, also zum Stagnationstrend. Aus der Treffsicherheit der Keynesschen Langfristprognose kann – sozusagen wissenschaftstheoretisch legitimiert – auf die Realitätstüchtigkeit der ihr zugrunde liegenden Theorie geschlossen werden. Keynes´ Theorie stellte der Ökonomik ein Fernglas zur Verfügung, das es erlaubte, 1943 – mitten im Zweiten Weltkrieg – in die weitere Zukunft zu blicken und die dauerhafte Absenkung des Wirtschaftswachstums über Jahrzehnte im Voraus recht genau zu erkennen. Hingegen waren die Politiker und die meisten Ökonomen auch noch während und nach dem Wachstumseinbruch der 1970er Jahre der Ansicht, es handele sich um eine vorübergehende, konjunkturelle Rezession. Bloße Mehrheitsmeinung ist meist ein unbrauchbares Wahrheitskriterium, und Mehrheitsideologie versetzt die Wahrheit ins Koma.

Keynes wirtschaftspolitische Empfehlungen für die Stagnationsphase sind recht einfach, so einfach, dass jeder unvoreingenommene Laienverstand von allein darauf kommen könnte. Es sind im Wesentlichen drei Handlungsbereiche:

1. Gleichmäßigere Einkommensverteilung, um den Massenkonsum auf ein vernünftiges Niveau zu heben.

2. Dauerhafte Ausweitung der öffentlichen Investitionen und öffentlichen Vorsorge- und Zukunftsleistungen – public utilities im weitesten Sinn – was auch eine dauerhafte Finanzierung erfordert, also höhere Staats- und Steuerquote.

3. Die flexible Anpassung bzw. Absenkung der (Lebens-)Arbeitszeit an die steigende Arbeitsproduktivität.

Der anhaltende Wachstumsverlust seit jener Umbruchsphase in den 1970er Jahren wurde, wie erwähnt und inzwischen allgemein bekannt, durch einen historisch beispiellosen Exzess weltweiter Verschuldung teilweise und für eine erstaunlich lange Zeit abgebremst. Die kreditfinanzierte Scheinblüte verschleierte sozusagen die Fäulnis des Stamms. Die in der neoliberalistischen Marktmetaphysik befangenen Auguren der wirtschaftswissenschaftlichen Profession und die von ihren Ratschlägen begeisterte politische Klasse täuschten sich lange bzw. wurden lange getäuscht über den unaufhaltsamen Fortgang der chronischen Krankheit. Es ist auch gegenwärtig noch Skepsis geboten, ob die so lange gepflegte Wachstumsillusion nicht erneut die nüchterne Wahrheit überlagern wird – mit der Konsequenz, dass nach einer inflatorischen Expansionsphase die nächste Krise bereits hinter dem sichtbaren Horizont lauert.

[1] Vgl. die scharfe Kritik an den wirtschaftstheoretischen und sozialethischen Mängeln der während der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte tonangebenden Hochschulökonomik im „Dahlem Report“ (98th Dahlem Workshop, 2008): David Colander/Hans Föllmer /Armin Haas /Michael Goldberg /Katarina Juselius /Alan Kirman /Thomas Lux/Brigitte Sloth: The Financial Crisis and the Systemic Failure of Academic Economics (im Internet unter „Dahlem Report“ zu finden); Karl Georg Zinn, Mindert die Enthistorisierung der Nationalökonomie ihre Kompetenz zur Problemwahrnehmung und Problemlösung?, in: derselbe: Die Keynessche Alternative, Hamburg 2008, S. 144-164.

[2] Vgl. die Analysen zum Zusammenhang zwischen sozialökonomischer Deprivation und rechtsextremistischen Tendenzen in den von Wilhelm Heitmeyer herausgegebenen Forschungsberichten der Langzeitstudie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF). Zuletzt: Wilhelm Heitmeyer, Hg. : Deutsche Zustände, Folge 7, Frankfurt/M 2009. -Materielle Abstufung allein scheint eher zu resignativen Einstellungen zu führen, aber die mit der Exklusion einher gehende Demütigung, das Gefühl, seiner Würde beraubt zu werden, enthält ein explosives Potential für politischen Extremismus, wie Zygmut Baumann im Kontext des Verlusts traditioneller Gemeinschaft dargelegt hat. Vgl. Zygmut Baumann: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt/M 2009.

[3] Vgl. Fußnote 1; Beth Gardiner: Lehrstätten für Finanzjongleure. Die Business Schools der Topuniversitäten geraten in Misskredit. Kritiker meinen, sie hätten falsche Inhalte gelehrt, in: Handelsblatt, Nr. 71, 14. April 2009, S. 26.

[4] „The global economy is in a substantial recession as well – also deep and probably long, likely the worst in modern times. Along with the U.S. and global recessions, now arguably an economic crisis in breadth, abruptness, and the potential for even worse, there is a financial crisis.“ Siehe Allen Sinai, Macroeconomic Policy. Challenge and Choices in a Time of Crisis, in: Challenge, Jg. 52, Nr. 2, März-April 2009, S. 5.

[5] Vgl. Sven Afhüppe/Klaus Stratmann, Staatshilfe kommt nur tröpfelnd an. Konjunkturprogramme des Bundes sind erst zu einem Bruchteil abgerufen worden. DIHK klagt über bürokratische Hürden, in: Handelsblatt, Nr. 70, 9./13. April 2009, S. 1.

[6] Vgl. HB/doh, Bundesbankchef Weber hält Rezessionsängste für überzogen. Weber: Kein Zeitpunkt, um über Konjunkturprogramm zu reden – Ministerpräsident Rüttgers legt „Anti-Rezessionsprogramm“ vor, in: Handelsblatt, Nr. 156, 13. August 2008, S. 4.

[7] Vgl. die Untersuchungen der „Glücksökonomie“. Einen informativen Überblick vermittelt Richard Layard: Die glückliche Gesellschaft. Kurswechsel für Politik und Wirtschaft, Frankfurt/M-New York 2008.

[8] Karl Georg Zinn, Wieder zehn Jahre Massenarbeitslosigkeit? Der langfristige Charakter der Krise und die Chancen einer humanen Wirtschaftspolitik, in: Vorgänge, H 28, 4/1977, S. 45-62.

[9] Vgl. Sven Afhüppe/Dorit Hess: Arbeitgeber warnen vor populistischer Politik. BDA-Präsidium beschließt Sieben-Punkte-Plan – Auslandsinvestitionen brechen ein, in: Handelsblatt, Nr. 71, 14. April 2009, S. 3; Vera Gaserow: Arbeitgeber trommeln für Schwarz-Gelb. Bundesvereinigung legt zahlreiche Empfehlungen für den Bundeswahlkampf vor, in: Frankfurter Rundschau, Jg. 65, Nr. 86, 14. April 2009, S. 13.

[10] Keynes widmete seine Aufmerksamkeit spätestens seit 1930 wiederkehrend der langfristigen Entwicklung der fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften und gelangte dabei stets zu der Einschätzung, dass die Wachstumsraten aufgrund relativer Sättigung (von Konsum bzw. Investition) unter Umständen bis zur völligen Stagnation absinken würden. Eine knappe, quasi alle einschlägigen Vorüberlegungen zusammenfassende Langfristprognose lieferte Keynes 1943. Vgl. John Maynard Keynes, The long-term problem of full employment, in: derselbe, Collected Writings, Bd. 27, London-Basingstoke 1980, S. 320ff. (deutsch u.d. T. Das Langzeitproblem der Vollbeschäftigung, in: Norbert Reuter, Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität. Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen, Mit Texten von John Maynard Keynes und Wassily W. Leontief, 2. A., Marburg 2007, S. 159-164.

[11] Vgl. Norbert Reuter, Ökonomik der „Langen Frist“. Zur Evolution der Wachstumsgrundlagen in Industriegesellschaften, Marburg 2000.

[12] John Richard Hicks: Mr. Keynes and the „Classics“. A Suggested Interpretation, in: Econometrica, Bd. 5, 1937, S. 147-159.

[13] Vgl. hierzu Karl Georg Zinn, Rezeptionslücke des Keynesianismus: Die Langfristperspektive der Keynesschen Ökonomik, in: Karl Georg Zinn, Die Keynessche Alternative, Hamburg 2008, S. 13-32.

[14] Jean Fourastié: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln-Deutz 1954.

nach oben