Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Editorial

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 1-3

Zu den erstaunlichen Phänomenen der globalen Finanzkrise gehört das Auseinanderfallen von wirtschaftlicher Krisendynamik, gesellschaftlicher Krisenwahrnehmung und staatlicher Krisenbewältigung. In einer ungeheuren Geschwindigkeit hat sich die Krise immer weiterer Teile der realen Wirtschaft bemächtigt. Sie zwang den Staat zu milliardenschweren Rettungspaketen, doch von einer Rückkehr des Staates kann keineswegs die Rede sein. Dieser gibt derzeit vielmehr sein Letztes, um das Finanzsystem transaktionsfähig zu halten und marode Unternehmen zu stabilisieren. Er riskiert dabei in nicht unerheblichem Maße seine eigene Stabilität und Gestaltungsmacht, indem er sich mit Schulden überlastet, deren Begleichung er auf die Schultern der Steuerzahler, der Konsumenten und der künftiger Generationen verlagert.

Während sich am Aktienmarkt bereits wieder eine Erholung abzeichnet, steuert der Arbeitsmarkt auf seinen Tiefpunkt zu. Doch obgleich seit Monaten das erstaunliche Maß an Versagen der Wirtschafteliten, der Preis, der kollektiv dafür entrichtet werden muss, wie die anschwellende Zahl von Entlassungen und Kurzarbeitern, von einer eklatanten Verletzung gesellschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellungen zeugen, bleibt diese Gesellschaft erstaunlich passiv.

Das in die Milliarden gehende staatliche Krisenmanagement wird nicht an den gängigen Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit gemessen, sondern als Politik des Ausnahmezustandes hingenommen, die von jener Alternativlosigkeit ist, die Markenzeichen des überwunden geglaubten Neoliberalismus war. Bei der Überwindung der durch ihn verursachten Krise scheinen seine Rezepturen nach wie vor Gültigkeit zu haben.

Wenn eine nachhaltige Regulierung ausbleibt, ist die nächste Krise allerdings vorgezeichnet. Doch wie soll diese Regulierung aussehen, an welchen Kriterien soll sie sich ausrichten und welche supranationale Akteurskonstellation wird ihr zum Durchbruch verhelfen? In welchem Verhältnis steht die Krise der Wirtschaft zur Katastrophe des Klimas, wird sie notwendige Veränderungen verzögern oder kann sie diese sogar beschleunigen? Die Krise wird zu einer Veränderung des globalen Machtgefüges führen, wo wird Deutschland dabei stehen? Und welche gesellschaftlichen Veränderungen werden durch die Krise beschleunigt, welche politischen Verwerfungen stehen womöglich noch bevor?

Diesen Fragen ist die vorliegende Ausgabe der vorgänge gewidmet.

Stefan Collignon analysiert die Fehler des neoklassischen Denkens, das zur aktuellen Krise geführt hat, und entwickelt auf Basis des alternativen vertragswirtschaftlichen Paradigmas, das den Unsicherheiten des Marktes Rechnung trägt, das Anforderungsprofil einer entsprechend freiheitlich und sozial verfassten Europäische Union.

Hans Christoph Binswanger befasst sich mit dem Wachstumszwang der modernen Wirtschaft. Er sieht dessen treibenden Faktoren in der im Prinzip „unendlichen“ Geld- und Kreditschöpfung der Banken und der extremen Gewinnorientierung der Aktiengesellschaften und plädiert dafür, beides zu reformieren.

Karl Georg Zinn warnt davor, bereits in der staatlichen Hilfe für Banken und Unternehmen eine Revitalisierung des Keynesianismus zu erkennen. Statt sich auf Versatzstücke seiner Konjunkturtheorie zu stützen, sollten endlich die Lehren aus seiner Stagnationstheorie gezogen werden, in der er schon vor siebzig Jahren die krisenhafte Entwicklung der letzten Jahrzehnte vorhergesehen hat.

Arndt Sorge verweist darauf, dass Boom und Blase vor der Krise durch eine, vor allem zwischen den USA und China abgesprochene Beherrschung grundlegender Preise und Austauschbeziehungen gekennzeichnet war, der sich die neoliberale internationale Finanzwelt unterordnete. Er befürchtet, dass in den staatlichen Abhilfen bereits der Keim der nächsten Krise, der des überschuldeten Staates, angelegt ist und sieht die EU als Regulierungskraft in der Pflicht, wenngleich er deren entsprechende Fähigkeit skeptisch beurteilt.

Ernst Ulrich von Weizsäcker fordert angesichts der Krise auf globaler Ebene die essenziellen Funktionen des Staates sicherzustellen. Dazu gehört für ihn nicht nur eine Stärkung der Weltorganisationen, sondern auch die Finanzierung globaler Gemeinschaftsgüter und die Erhebung globaler Steuern.

Helmut Wiesenthal erkennt im Aufstieg der „emerging markets“ die eigentliche Transformation hinter der Krise. Durch sie erfahre der globale Modernisierungsprozess nicht nur eine spürbare Beschleunigung, sondern es wandele sich auch sein geographischer Ort und – womöglich – seine zivilisatorische Substanz. Die „alten“ Länder geraten dadurch unter Anpassungsdruck. Deren Fähigkeit, diese Anpassung zu gestalten, ist eher skeptisch zu beurteilen.

Karin Priester befasst sich aus nationalstaatlicher Perspektive mit der Krise hinter der Krise, die sie durch das Präfix „Post-“ klassifiziert und durch eine politisch entkernte, technokratisch formierte Gesellschaft charakterisiert sieht. Zu deren Wesensmerkmalen gehören die Einbeziehung so genannter „befestigter“ Gruppen in das Staatshandeln, das Primat der unideologischen Leistungsgemeinschaft und der Abbau des Parlaments durch Umdefinition seiner Aufgaben. Mit dieser Entwicklung einher geht eine Krise der Linken.

Gerd Mielke sieht den Grund für den geringen Zuspruch der Linken in einem bereits länger dauernden Entfremdungsprozess der SPD von den sie tragenden Milieus, der vor allem durch die Schrödersche Reformpolitik forciert wurde.

Für Dieter Rulff ist diese Krise der Linken verbunden mit einem Fortschrittsbegriff, der fragwürdig geworden ist, und einen Reformbegriff, der das in ihm liegende Versprechen nicht mehr einlösen kann und neue Anforderungen ausblendet.

Berthold Vogel sieht wesentliche Gruppen der gesellschaftlichen Mitte von Prekarisierung erfasst. Ihnen kommt eine zentrale Integrationsfunktion zu, sie sind die sozialen Träger des Staates, dem gegenüber sie nun eine Bedürftigkeit entwickeln.

Konrad Ott betont die Notwendigkeit der Nachhaltigkeit bei der Krisenbewältigung und benennt Maßnahmen, die Bestandteil eines Green New Deal sein müssen.

Die Krise der Wirtschaft ist eine Sinnkrise der Wirtschaftswissenschaft. Gert G. Wagner fragt, wie dazu kommen konnte und sieht die Politik in Mitverantwortung.

Im Essay befasst sich Florian Hartleb mit Niedergang und Wiederaufstieg der CSU und dem alten und neuen Phänotyp des CSU-Politikers, der damit verbunden ist.

Zwei Rezensionen zu Navid Kermanis Buch über Integration und Sebastian Rehses Abhandlung über die NPD in ostdeutschen Landtagen, verfasst von Gerd Pflaumer und Eckard Jesse schließen diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr

Dieter Rulff

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