Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Inter­na­ti­o­nale Lehren aus der Wirtschafts­krise

Diagnose, Abhilfe, Vorbeugung;

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 38-45

I. Einleitung

Die derzeitige Weltwirtschaftskrise stellt zum einen eine neue historische Konfiguration dar, insofern als sie durch Auswüchse des neuerlichen Finanzialismus bedingt wurde. Sie gemahnt aber auch an die bereits bekannte empirische Evidenz und programmatische Vorstellungen zur Wirtschafts- und Sozialordnung. In Deutschland ist auffällig, dass Ideen zur sozialen Marktwirtschaft, zum „Modell Deutschland“ oder ähnliche Topoi wieder belebt werden, nachdem der „rheinische Kapitalismus“ (Albert 1991) vor nicht allzu langer Zeit vorschnell abgefeiert worden war (Albert 1998). Als die bekanntesten Typologien werden die „sozial koordinierte Marktwirtschaft“ und die „liberale Marktwirtschaft“ einander gegenübergestellt (Hall und Soskice 2001; Soskice 1999; vgl. auch Whitley 1992). Über derartige und verwandte Topoi werden Deutungen, Emotionen und Politikansätze mobilisiert. Die Sache liegt aber wesentlich komplizierter, wenn man sich einer vertiefenden Diagnose widmet und versucht, dabei die Chancen der Abhilfe und der künftigen Vorbeugung auszuloten. Dabei gerät notwendigerweise die Internationalität des Lernens und der Vorbeugung in das Blickfeld.

II. Diagnose

Zunächst sind Krisen wie die gerade zu erlebende natürlich immer kapitalistische Krisen insofern, als der zeitweise gegebene Tauschwert von Vermögens- oder Anspruchstiteln sich vom langfristig haltbaren Gebrauchswert entfernt, die Kapitalverwertung ernsthaft gestört wird, und durch ein sich änderndes Konsumenten- und Produzentenverhalten weitere makroökonomische Störungen entstehen. Diese Ursachen und Abläufe sind verschiedenen Krisen gemein. Sie waren auch in der japanischen Krise der neunziger Jahre gegeben, die durch spekulative Überbewertung von Immobilien entstand, sie waren bei der asiatischen Krise in deren Folge zu sehen, ebenfalls in der schwedischen Bankenkrise vor zehn Jahren: Tauschwertblasen entstehen und platzen.

Jedoch wäre es verfehlt, den liberalen Marktökonomien eine größere Neigung zu solchen Krisen zuzuschreiben. Japan wurde nie als besonders liberale Marktökonomie angesehen, sondern eher dem „rheinischen Kapitalismus“ zugeordnet. In Japan wurde die Politik der Banken eher durch Industriekonzerne gesteuert als umgekehrt, und die Blase entstand nicht durch isolierte kapitalistische Spekulanten, sonder durch sozial „eingebettete“ Akteure, welche die Blase sozusagen konzertiert und im politischen Konsens erzeugten. Ein ähnlicher Ursprung ist auch bei der schwedischen Bankenkrise zu vermuten; auch Schweden ist ja beileibe keine Gesellschaft, in der zentrale Akteure in Regierung, Wirtschaft und Gesellschaft ohne Absprachen ihren individuellen Nutzen verfolgen. Die gerade erlebte Krise diskutiere ich anhand des Materials der unten angegebenen Internetquellen.

Das Besondere an der gegenwärtigen Krise ist sicher einerseits ihr fataler Umfang und ihre Unumgehbarkeit. Selbst Banken oder Länder, die sich „sauber“ von kontaminierten Papieren gehalten haben, sind aufgrund der Vertrauenseinbrüche im weltweiten Finanzsystem und durch die weltweiten konjunkturellen Effekte von den Folgen betroffen. Selbst wenn Deutschland kontaminierte Papiere an der Grenze hätte anhalten und von den Bilanzen einheimischer Käufer oder Anleger fernhalten können, so wäre das Land doch ähnlich hart von den Folgen zurückgehender Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern betroffen worden – gerade das Exportland Deutschland. Selbst wenn die EU durch eine frühzeitige Regulierung und Beaufsichtigung der Banken, Finanzintermediäre, Hedgefonds und der anderen Akteure kontaminierte Papiere, unter zeitweisem Verzicht auf die mit diesen Papieren und Geschäftsmodellen verbundenen Erträge, hätte fernhalten können, selbst dann wäre die EU von konjunkturellen Folgen nicht verschont geblieben.

Das qualitativ Besondere an der gegenwärtigen Krise, welches das außergewöhnliche Ausmaß erst möglich machte, liegt zum einen in ihrer Verortung in einem globalen Kapitalismus begründet, in dem die Finanzakteure durch einen wenig regulierten Rahmen kaum zur Vorsicht und Sicherheit angehaltenen wurden, zum anderen liegt es in einer grundlegenden, mehr oder weniger artikulierten Absprache zwischen den entscheidenden politischen Akteuren begründet. Diese Absprache war eines der Mittel, mit der die letzte amerikanische und dann weltweite Börsenkrise von 1988 behoben wurde. Sie führte zu einer Politik niedriger Zentralbankzinsen, kombiniert mit dem Vertrauen auf die Produktivitätseffekte neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, auf optimale Kapitalverwertungsbedingungen und auf die Begünstigung zunehmender privater Verschuldung. Auf amerikanischer Seite steht hierfür in erster Linie der Name von Alan Greenspan, des vormaligen Chefs des Federal Reserve Board.

Dieses durchgreifende kapitalistische Konzept hätte allerdings nationalwirtschaftlich gar nicht etabliert werden können. Notwendig war vor allem die Kooperation der Politik Chinas und anderer Länder. Sie zeichneten zunehmend amerikanische Schulden quasi als Gegengeschäft für die ebenfalls schnell wachsenden Exportchancen auf dem amerikanischen Markt. Die relative Stabilität des Dollars trotz eines schnell wachsenden Außenhandelsdefizits der USA wurde durch diese Finanztransaktionen ermöglicht.

Das mittelfristige weltwirtschaftliche Gleichgewicht im Wachstum ruhte somit auf drei Pfeilern: Auf dem Exportwachstum und der Industrialisierung Chinas, auf dem Verschuldungswachstum der USA und auf einem relativ stabilen Dollarkurs bei niedrigem Kurs der chinesischen Währung. Der Dollar blieb die nach wie vor für weltweite Transaktionen und wirtschaftliche Kalküle zentrale Währung, auf deren Stabilität die beteiligten Akteure vertrauen wollten und mussten. Sonst wäre der nachhaltige Wirtschaftsaufschwung nicht so zustande gekommen. Wäre der Dollar entsprechend der Leistungsbilanzentwicklung der USA gefallen, so hätten andere Länder keine Schulden in Dollar aufgenommen. Dann wären die USA auf einen Weg verwiesen worden, bei dem das Gleichgewicht durch einen Kursverfall der Währung hergestellt worden wäre, die Aussicht auf Konjunkturbelebung hätte sich aus den immer günstiger werdenden Exportbedingungen gespeist.

Zumindest kurz- bis mittelfristig hätte dies aber Wachstumseinbrüche und erhebliche soziale Auseinandersetzungen bedeutet. Nach 1988 fußte das amerikanische Konzept der Kapitalverwertung auf realwirtschaftlichen Veränderungen mit der Aussicht auf nachhaltig höheres Wachstum. Der Internetboom der neunziger Jahre hatte tatsächlich realwirtschaftlich fundierte Produktivitätssteigerungen und Wachstum hervorgebracht, doch das war 2002 vorbei. Ab Anfang 2002 blieb nur noch der blanke makroökonomische Keynesianismus mittels Schuldenaufnahme im Ausland. Während der Keynesianismus in Europa eher staatswirtschaftlich ist oder war, beruhte er in den USA auf staatlich geförderter Privatverschuldung (wie in der letzten Zeit) oder auf einer Staatsverschuldung (unter Präsident Reagan), die aus ideologischen Gründen nicht keynesianisch genannt werden durfte.

Erst neuerdings wird in der Krisenpolitik öfter wieder ein Bezug zu Keynes offenbar. Aber in der Praxis (im Gegensatz zur Ideologie) waren die USA bereits seit den achtziger Jahren klar auf keynesianischem Kurs, zunächst unter Reagan durch Staatsverschuldung, zudem und danach durch private wie öffentliche Auslandsverschuldung, gestützt auf eine internationale Gestaltung der Währungskurse und des Zinssatzes der Zentralbank. Im Maß der politischen Einbettung unterscheiden sich die Wirtschaftskonzepte der USA und Chinas im Prinzip nicht, wiewohl sie in der Ausgestaltung unterschiedlich und komplementär sind.

Also war trotz weltweiter liberaler Finanzmärkte der Aufschwung vor der Krise in einer ganz zentralen Makroregulierung verankert. Diese Regulierung war sicher keine im Sinne der alten deutschen, ordoliberalen Schule, die ja die Machtkonzentration von Akteuren in Konzernen und Politik über das Marktgeschehen eingrenzen wollte. Wenn oft der Begriff „neoliberal“ zur Kennzeichnung der Verhältnisse am Ausgangspunkt der Krise gebraucht wird, so trifft dieser Begriff nur teilweise zu, denn Boom und Blase vor der Krise waren durch eine abgesprochene Beherrschung grundlegender Preise und Austauschbeziehungen gekennzeichnet. Sie waren höchst originell in einer eigenwilligen Marktabsprache verankert, einer Absprache zwischen der chinesischen kommunistischen Partei und Regierung einerseits, die sich unter kontrollierten Bedingungen auf den weltweiten Kapitalismus einließ, und andererseits den amerikanischen Regierungen Arm in Arm mit Greenspan, die durch eine Optimierung der heimischen Kapitalverwertungsbedingungen und eine steigende Verschuldung gegenüber dem Ausland das Wachstum erzeugten, das für den sozialen Ausgleich und den eigenen politischen Rang in der Welt benötigt wurde. Davon profitierten nicht nur amerikanische Geldanleger, Konsumenten und Investoren in Häuser-, Renten- und andere Fonds, davon profitierten nicht nur chinesische Unternehmer und Arbeiter sowie auch deutsche Investitionsgüterhersteller, sondern auch – nicht zu vergessen – Politiker in verschiedenen Ländern, allen voran Präsident Clinton und sein Nachfolger Bush. Genau dieses Kapitalverwertungskonzept eigenwilliger Art war es, welches Clinton brauchte, um seinen oft gerühmten Ausspruch einzulösen: „It’s the economy, stupid.“ Es war in den USA ein in der Tat über Parteigrenzen hinweg praktiziertes Konzept – und jetzt stehen alle dumm da.

Diesem in seinen Grundlagen hoch regulierten Kapitalverwertungskonzept ordnete sich die tatsächlich sehr neoliberale internationale Finanzpolitik höchst wirkungsvoll unter. Die Wirksamkeit der Verschuldung bei der Binnennachfrage in den USA beruhte einerseits auf einer sehr großzügigen Kreditbereitstellung (Erleichterung des Konsumentenkredits und der Hypotheken oder Grundschulden auf Immobilien ohne Eigenkapital und mit staatlicher Förderung). Die steigenden Werte der Immobilien und anderer Aktiva generierten einen Vermögenseffekt, der zusätzliche Nachfrage direkt oder durch weitere Verschuldung entfesselte. Auf diese Weise wurde Wachstum durch zunehmende Binnennachfrage in Gang gehalten. Andererseits, und hier kam die innovativ weiterentwickelte internationale Finanzwirtschaft ins Spiel, konnten die aufgenommenen Schulden verbrieft, ins Ausland weiter veräußert und durch neuartige Finanzpapiere gegen Kursverfall abgesichert werden. Absicherung war zumindest die Absicht, aber trotz bester ökonometrischer Berechnungen hat es doch nicht funktioniert. Der neoliberale und höchst effektive internationale Finanzmarkt diente, wie sich an seiner faktischen Nutzung ablesen lässt, vorrangig dem Zweck, den USA und ihnen folgenden Ländern wie Großbritannien immer neue Verschuldung zu ermöglichen. Diese geschah auf Seiten des Staates vor allem durch von China und anderen Ländern gezeichnete Staatsanleihen, und auf Seiten der privaten Wirtschaftsakteure vermittels kompliziert geschachtelter Papiere (collateralized debt obligations und Derivate) an allen möglichen Orten.

Aber bevor wir uns wieder ausschließlich über den Neoliberalismus erregen, sehen wir uns die sozialhistorische Quelle der unzureichend gesicherten und staatlich geförderten Immobilienverschuldung an. Es war kein kapitalistischer Teufel, der die USA dort hineingeritten hat. Es fing alles im New Deal an, als die staatliche Förderung des Eigentumserwerbs am eigenen Heim als populäres und zunächst „sozialdemokratisches“ Konzept eingeführt wurde. Der Eigentumserwerb durch breite Volksschichten entsprach sehr verschiedenen Interessen und konnte von verschiedenen Parteien aufgenommen und vertreten werden. Völlig entgegen den neoliberalen Konzepten ging es um Subvention. Diese populistische politische Strömung im Allparteienkonsens mündete in der Einrichtung von Fannie Mae und Freddy Mac, also staatlicher Kreditanstalten, die den Zweck hatten, von kommerziellen Banken vergebene Immobilienkredite aufzukaufen. Dies war der erste historische Schritt zur Bildung einer immer komplexer und tiefer gestaffelten Schuldenverflechtung. Man musste nur auf der jeweils niedrigeren Stufe Forderungen gegenüber Schuldnern verbriefen und diese Verbriefung, zur Risikostreuung oder -gestaltung gegebenenfalls kombiniert mit anderen Forderungen, als Finanztitel neuer Art weiter veräußern. Ohne staatliche Förderung wäre diese Bewegung sicher nicht in der Breite und Tiefe entstanden. An der Wiege des financial engineering stand also, wie bei der damaligen Immobilienkrise in Japan, ein „sozial eingebetteter“ und „koordinierter“ Kapitalismus. Man hätte meinen können, die USA lägen dem rheinischen Kapitalismus ähnlich nahe wie Japan.

Von manchen Ökonomen war die Inflation der Preise von Finanzanlagen und Immobilien bereits vor einiger Zeit aufgezeigt und kritisiert worden. Dass die auf diese Art erzeugte Blase irgendwann platzen würde, war ihnen ziemlich sicher. Die Frage war nur, wie hoch und wie weit verteilt der dadurch entstehende Schaden sein würde. Im Economist konnte man das klar und deutlich lesen (The Economist 15.1. 2001, S. 15- 16; 15.4. 2000, S. 13-14). Hierzu gab es keine verlässlichen Schätzungen, da ja auch wegen der Schachtelung und weiten Verbreitung verbriefter Schulden und von Derivaten niemand verlässliche Angaben machen konnte oder wollte. Niemand konnte oder wollte offenbar sagen, bis wohin das verästelte Domino der Verbriefung und Derivierung reichte. Es brauchte nur einiger Anstöße in den riskanteren Schuldensegmenten der USA (sog. sub-prime mortgages), um das Umfallen der Dominosteine in der Verschuldungskette in Gang zu bringen. Andere Ökonomen haben diese Entwicklung, die kommen musste wie das Amen in der Kirche, jedoch nicht zu berücksichtigen vermocht. Die Spezialisierung der Wissenschaft ist so weit vorgedrungen, dass die einen Spezialisten mit den anderen (den Makroökonomen) nicht mehr verlässlich kommunizieren können. Zu vermuten ist auch, dass zuletzt der Mantel des Schweigens über das entstandene Risiko gebreitet wurde. Keine Zentralbank, keine kommerzielle Bank und kein anderweitiger Finanzintermediär hat schließlich ein Interesse daran, durch negative Meldungen den Boom vorzeitig zu beenden, zumindest nicht, bevor man riskante Papiere durch Veräußerung an Andere entsorgt hat. Aber selbst dann war zu erwarten, dass man durch negative Marktentwicklungen zu Schaden kommt, weil Misstrauen zwischen allen Marktteilnehmern um sich greift und zur Zurückhaltung in Investition und Konsum veranlasst. Wenn Wellen von Misstrauen und Zurückhaltung erst in die Realwirtschaft übergreifen, dann werden auch Kreditgewährung, Investition und Konsum bei nicht direkt betroffenen Teilmärkten negativ beeinflusst. So kam es denn ja auch, von etwa 2007 an bis zum Herbst und Winter 2008-09. Die Optimisten unter den Analytikern sagen nun, dass die Talsohle auf den Finanzmärkte erreicht ist, während die Pessimisten meinen, es schlummerten noch Mengen riskanter Papiere in den Portefeuilles der Banken. Was mit ihnen geschehe, sei ungewiss, und ebenso seien Zeitpunkt und Ausmaß der konjunkturellen Erholung nicht verlässlich vorherzusagen.

III. Abhilfe und Vorbeugung

Die öffentliche und politische Diskussion, die nach dem Höhepunkt der Krise im Herbst 2008 losbrach, bekam schnell eine ungewöhnliche Breite. So wurden im Eifer der Analyse und Debatte verschiedene Aspekte zusammengetragen: Neue Zweifel am Kapitalismus an sich und am angloamerikanischen Finanzkapitalismus insbesondere, Rückbesinnung auf die Tugenden der sozialen Marktwirtschaft und der europäischen Sozialmodelle, Kritik am Verhalten der Banken und Banker im Allgemeinen und im Besonderen der öffentlichen Banken, wie Sparkassen, Landesbanken und Industriekreditbank, Kritik der hohen Managementgehälter und der Entlohnung durch Aktienoptionen, sowie Kritik am „neuen Geist des Kapitalismus“ (Kasinokapitalismus, Kurzfristigkeit der Erwartungen, Frivolität, Kultur der Verantwortungslosigkeit und der Schaumschlägerei).

Zufällig hatte der neue US-amerikanische Zentralbankpräsident Bernanke besonders die Fehler bei der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise 1929 erforscht und sich zu Herzen genommen. So ist es nicht verwunderlich, dass prompt Maßnahmen zur Flutung der Banken mit Liquidität und zur Garantie von eingegangenen Verbindlichkeiten durch die Regierungen verschiedenster Länder getroffen wurden. Innerhalb kürzester Zeit wandelten sich die vorgeblich liberalen Marktökonomien – die USA und Großbritannien allen voran – zu Interventionsstaaten in der Finanzwelt. So etwas galt in der Betrachtung der varieties of capitalism bislang als dubioses Reservat eines französischen oder mediterranen Kapitalismus. Auch bundesdeutsche Wirtschaftswissenschaftler aller Richtungen proklamierten nun mit einer Stimme, das Schlimmste überhaupt sei Deflation, und das Wichtigste sei, Liquidität und Vertrauen zu schaffen. Während der Staat vorher eher aufgefordert wurde, sich nicht in wirtschaftliche Abläufe zu drängen, da er zu Verschwendung und Suboptimalität neige, wurde er nun als Nothelfer angerufen. In den USA wurde in kurzer Zeit eine Staatverschuldung betrieben, die in etwa den Anstrengungen im Zweiten Weltkrieg gleichkommt. Deutschland ist nunmehr eher im Mittelfeld der Staatsverschuldung, trotz der gewaltigen Vereinigungslasten, abgehängt durch die „liberalen Marktökonomien“, allen voran die USA.

Auch der Weltwirtschaftsgipfel folgte diesem Trend und konzentrierte sich auf Liquiditätsschaffung, national aber auch durch den Internationalen Währungsfonds. Entwicklungs- und Schwellenländer waren ja bereits durch finanzielle Engpasse und Überschuldung notorisch geplagt, entweder zyklisch oder langfristig strukturell. Noch schneller und stärker als Europa und Nordamerika waren Russland und Asien durch konjunkturelle Einbrüche betroffen. Die Funktionalität der Liquiditätsschaffung ist wohl kaum zu bestreiten, selbst wenn man über den Umfang der neuerlichen Staatsverschuldung und der Stützung von Unternehmen streiten kann oder muss.

In längerfristiger Betrachtung ist aber festzuhalten, dass nun im Grunde dasselbe geschehen kann, wie nach 1988: Die Behelfe zur Behebung der damaligen Börsenkrise, die bereits als auffälligste seit der Weltwirtschaftskrise 1929 ausgerufen worden war, hatten zwar von den USA aus die Wirtschaftsdynamik effektiv und nachhaltig belebt, aber sie hatten die bereits genannten offenen Flanken, über die eine neuerliche und noch schwerer wiegende Krise 2007-09 hereinbrach. Die gegenwärtigen Behelfe zur Wiederbelebung können dazu führen, dass grob gesagt zwar die „Fäule“ der Finanzanlagen aus den privaten Bilanzen entschwindet, aber in die Staatshaushalte eindringt.

Staaten ziehen ja zurzeit Wechsel auf zukünftiges realwirtschaftliches Geschehen, von denen in keiner Weise klar ist, inwiefern sie gedeckt werden können. Die Drohung des Staatsbankrotts ist bereits jetzt akut, zum Beispiel in Island und in einigen osteuropäischen Ländern, und sie beschäftigt internationale Gemeinschaften wie die EU. Lernt man aus der Zeit zwischen 1988 und jetzt, dann fasst man die Lektion in die einfache Faustregel: Analysiere die weit offenen Flanken der jeweils aktuellen und zunächst unvermeidlich erscheinenden Behelfe, damit zeigen sich die Ursachen der nächsten Krise.

Es ist auffällig, dass im Gegensatz zu der Schnelligkeit, mit der Staatseingriffe zur Liquiditätsschaffung und zur Stützung von Unternehmen unternommen werden, die Vorbeugung einen geringen Raum einnimmt und zögerlicher betrieben wird. Es ist in keiner Weise zu sagen, welche Maßnahmen genau die Staaten und internationalen Gemeinschaften ergreifen werden, wie diese in die Praxis umgesetzt werden und was sie bewirken. Die allgemeine Tendenz im Diskurs ist, die Regulierung der internationalen Finanzmärkte zu intensivieren und national wie international die Spekulation einzugrenzen und die Sicherheit und Transparenz von Finanzanlagen und Geschäften zu erhöhen. Wie das geschehen soll und wie wirksam die Maßnahmen sein werden, bleibt die große Frage. Zwar hat gerade Präsident Obama im großen Stil eine neue und intensive Finanzaufsicht durch die Zentralbank angekündigt. Die EU hat auch Pläne, aber der britische Finanzminister fordert mehr nationale statt europäische Kompetenzen ein. Der Kompetenzstreit ist im Gange, aber klar scheint eines zu sein: Die Auswüchse des Finanzialismus sind im Prinzip weder von koordinierten noch von liberalen Marktökonomien besser in den Griff zu kriegen. Der Finanzialismus erreichte erst seine vernichtende Kraft durch die Kombination sozialer Belange mit finanzkapitalistischer Raffinesse, von institutioneller Einbettung mit Gier. Reinen Kapitalismus gibt es gar nicht, nicht einmal in den USA, nur mit einem Gegensatz in national unterschiedlichen Formen kombinierte Kapitalismen. Die deutsche soziale Marktwirtschaft hat zwar gelernt, die ärgsten Exzesse zu vermeiden oder zu mindern, aber die amerikanische soziale Marktwirtschaft hat das Gegenteil gelernt und selbst die japanische soziale Marktwirtschaft erzeugte ihre eigene Blase.

Entweder Staaten entschließen sich zur Renationalisierung von Finanzflüssen, also zur nationalen Aufsicht und Regulierung. Wenn sie das wollen, müssen sie die internationale Veräußerbarkeit von Finanzprodukten und die finanziellen Ströme genau so kontrollieren wie Warenströme: Man prüft an der Grenze, ob Importe Gift enthalten, und wenn sie das tun, dann hält man sie fern, und zwar kompromisslos. Man kann nun zwar Finanzprodukte fernhalten, aber wenn der Rest der Welt sich darauf einlässt, wird man doch durch die konjunkturellen Rückwirkungen ihres Platzens an weit entfernten Orten der Welt betroffen. Die andere Alternative ist eine effektive und auf klaren Kriterien beruhende Weltfinanzaufsicht. Auch diese ist kaum wahrscheinlich. Regulierung und Kontrolle sind bereits in den meisten Nationalstaaten unsicher und unzuverlässig; im weltweiten Rahmen ist eher ein Ausbund an Komplexität und Heuchelei zu erwarten. Zumal die USA haben als Leitbild der Weltwirtschaft gründlich ausgedient. Zwar bilden sie weiterhin noch im Verein mit China den zentralen Anker weltwirtschaftlicher Stabilität. Aber sie verkörpern kein Wirtschaftsmodell mehr, das selbst nach eigenen Maßstäben glaubwürdig wäre, geschweige denn, im Weltmaßstab. Folgt man Robert Boyer, dann ist mit der letzten Krise auch dem amerikanischen Akkumulationsmodus der Boden entzogen, und ein neuer Akkumulationsmodus ist nicht in Sicht. Das ist der Standpunkt der Pessimisten. Folgt man Sigurt Vitols (in seinem Korreferat zu Boyer in der Vortragsreihe des WZB zur Finanzkrise), so besteht Aussicht auf Beilegung der Finanzkrise. Das ist der Standpunkt der Optimisten.

Wenn ein politisch hinreichend kräftiger Kern zur Durchsetzung neuer Kriterien und einer effektiven Aufsicht entstehen kann, dann wohl vor allem in der EU. Diese ist allerdings auch durch eine interne Verschiedenheit der Interessen geprägt, und hier vor allem durch den britisch-nationalen Eigenwillen. Darüber hinaus hat sich nicht erst mit der letzten Europawahl eine eher euroskeptische Stimmung in der Bevölkerung verbreitet. Es gab immer schon den mit der Ausweitung der EU verbundenen Rückfall hinter die engeren Horizonte der Vergesellschaftung (Sorge 2005): eine defensive Reaktion gegen die neu erlebten Effekte der weitläufigeren und weniger durchsichtigen und kontrollierten Verhältnisse.

Europa bietet durchaus die Chance der Konsolidierung eines Mittelweges zwischen offener und verbindlicher Regulierung, der in den anzustrebenden Multilateralismus der Welt ausstrahlen könnte. Aber die Nutzung dieser Chance ist angesichts eines defensiver und dumpfer werdenden europäischen Volkssouveräns, der sich meistens gar nicht als integrierter Souverän sehen will, auch nicht wahrscheinlich. Bürger und Politiker rufen zwar wieder nach einem starken Staat, aber insofern sich dieser Ruf an den Nationalstaat wendet, ist er nostalgisch und unrealistisch. Politiker haben im Wahlkampf mit ihrem unfundiertem Gerede (vgl. Plehwe 2008) über die vorgeblich 80 Prozent der Gesetze, die aus Brüssel stammen, sicher eher eine Abwehrhaltung gegen Europa verstärkt. Fest steht aber: Wenn es eine effektive Vorbeugung gegen die nächste Weltwirtschaftskrise gibt, die die bekannten Defizite entlang der nun neu geöffneten Flanken angeht, dann wird sie international kreativ zu definieren sein. Aber wie viele Bürger und Politiker sind bereit, der EU oder anderen supranationalen Instanzen Staatlichkeit zuzuerkennen? In der Abteilung Internationalisierung und Organisation des WZB würden wir sagen (Sorge 2009): Die Verwirklichung nationaler Belange ist unweigerlich auf diesen Weg verwiesen.

Literatur

Albert, Michel, 1991: Capitalisme contre capitalisme, Paris.

Albert, Michel, 1998: Die Zukunft der Sozialmodelle des europäischen Kontinents; in: Streeck, Wolfgang (Hg.), Internationale Wirtschaft, Nationale Demokratie: Herausforderungen für die Demokratietheorie, Frankfurt a. M., S. 195 -209.

Financial crisis of 2007-09: http://en.wikipedia.org/wiki/Financial_crisis_of_2007%E2%80%932009, download am 18.06.2009.

Finanzkrise ab 2007: http://de.wikipedia.org/wiki/Finanzkrise_ab_2007, download am 18.06.2009.

Hall, Peter A./Soskice, David (Hg.), 2001: Varieties of capitalism. The institutional foundations of comparative advantage, Oxford.

Plehwe, Dieter, 2008: Transformation Europäischer Governance im Bereich der Verkehrspolitik; in: integration, Jg. 31, H. 3, S. 290-306.

Sorge, Arndt, 2005: The Global and the Local: Understanding the Dialectics of Business Systems, Oxford.

Sorge, Arndt (Hg.), 2009: Internationalisierung: Gestaltungschancen statt Globalisierungsschicksal, Berlin.

Soskice, David, 1999: Divergent production regimes: Coordinated and uncoordinated market economies in the 1980s and 1990s; in: Kitschelt, Herbert/Lange, Peter/Marks, Gary/Stephens, John D. (Hg.), Continuity and change in contemporary capitalism, Cambridge, S. 101-134.

Whitley, Richard (Hg.), 1992: European business systems, London.

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