Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Für eine neue Balance zwischen Staat und Markt

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 46-49

Die Finanz- und Wirtschaftskrise als Chance begreifen, so tönt es aus vielen Mündern. Achim Steiner, der Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms spricht von einem „Global Green New Deal“ und hat damit erfreulich viel Resonanz, – am stärksten übrigens aus einem Land, auf das keiner von uns bei diesem Thema gekommen wäre: Süd-Korea. Der UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon fordert mit flammenden Worten: „Seal a Deal“. Friedrich Schmidt-Bleek zeigt, dass es ja auch so nicht weiter gehen durfte und dass nun die Dematerialisierungs-Modernisierung, die er seit 20 Jahren fordert, endlich angepackt werden sollte. Hans Christoph Binswanger, der schon seit Langem die Irreführungen, die Nicht-Nachhaltigkeit und die Instabilitäten der Finanzwelt analysiert und beschrieben hat, sieht die Möglichkeit gekommen, nun endlich den Nachhaltigkeitsgedanken in die Finanzwelt selber einzuführen. Und Andreas Kraemer et al. zeigen, dass Energie- und Finanzkrise eng zusammenhängen. Ich habe nicht die Absicht, diesen Autoren zu widersprechen. Und doch möchte ich die Akzente anders setzen – philosophischer, politischer, auch historischer. Ich behaupte, die Finanz- und Wirtschaftskrise resultiert zu großen Teilen aus dem Verlust der Balance zwischen Staat und Markt, aus der Arroganz der Markt-Ayatollahs seit der Wende. Dass diese Arroganz als ein Element auch die Verachtung der ökologischen Grenzen enthielt, sei ausdrücklich vermerkt.

Das Ende des Gleich­ge­wichts

Der Verlust der Balance ist ein neues Phänomen, politisch keine 20 Jahre alt, wenngleich von Autoren wie Milton Friedman, Friedrich von Hayek oder Ronald Coase schon Jahrzehnte früher gewünscht, vorbereitet, herbeigeschrieben und von politischen Führern wie Augusto Pinochet, Margret Thatcher und Ronald Reagan auf nationaler Ebene zum Programm gemacht. Solange jedoch der Kalte Krieg die beherrschende Realität der Welt war, hatten die Kapitalanleger ein starkes Motiv, sich in den Konsens mit den demokratischen Mehrheiten in den sozialstaatlich organisierten Ländern des Westens einzukaufen, war doch eben dieser auf sozialen Ausgleich bedachte Staat das beste ideologische Bollwerk gegen einen Kommunismus, der mit dem Heilsversprechen der sozialen Gerechtigkeit daherkam und zumindest anfänglich ausgesprochen expansiv-aggressive Züge hatte.

Wer hat nicht gejubelt beim Fall der Mauer, beim Ende des Ost-West-Konflikts? Jeder, der vorher schon politisch denken gelernt hatte, musste die unbeschreibliche Erleichterung fühlen, dass sich die Angst vor dem großen Atomkrieg in Luft aufgelöst hatte. Michael Gorbatschow kam einer halben Generation von Deutschen und Westeuropäern wie ein Friedensengel vor. In den USA war die Sichtweise allerdings anders: dort meinte man, Ronald Reagan hätte durch kühne und kompromisslose Konfrontation das „Reich des Bösen“ in die Knie gezwungen. Überlassen wir die Interpretation des Geschehens späteren Historikern. Wir halten heute, 2009, zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und mitten in einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise fest, was sich nach 1989 abspielte:

  • Das Wort „Globalisierung“ hielt Einzug in die Sprachen der Welt.
  • Das Kapital wurde auf einmal als ein „scheues Reh“ dargestellt, das sich beim leisesten Lärm von zu hohen Steuern oder von Mitbestimmung zurückzieht; das Werben um Kapital, um Investoren, wurde zum Hauptgegenstand des „Standortwettbewerbs“.
  • Innerhalb des Standortwettbewerbs gab es zwei Arenen: die staatliche und die betriebliche. Auf staatlicher Ebene ging es um den Abbau des „teuren“ Sozialstaats, um die Senkung der Unternehmenssteuern, um die Deregulierung des Arbeitsmarkts und der Finanzmärkte und um die Beseitigung von „Handelshemmnissen“, worunter die WTO wie der EU-Wettbewerbskommissar auch schon mal die ganz normale Umweltgesetzgebung verstanden.
  • Auf betrieblicher Ebene rückte der Kostenwettbewerb in den Vordergrund. Vorstandsvorsitzende wurden jetzt die Finanzvorstände, nicht mehr die Technikvorstände. Die „Konzentration aufs Kerngeschäft“, das Auslagern von möglichst viel Zulieferung und Nicht-Kern-Dienstleistungen hatte Konjunktur, und die Zielländer der Auslagerung waren die Billiglohnländer, allen voran China. Brave, noch gut verdienende Firmen wurden von den Anlegern angepeitscht, deutlich höhere Kapitalrenditen vorzuweisen, andernfalls man zur Beute von „Heuschrecken“ werden würde.
  • Und die Finanzmärkte wurden komplett angelsächsisch. Man konnte sich in einer deutschen oder niederländischen Bank nicht mehr sehen lassen, wenn man nicht die Gehirnwäsche durch amerikanische und englische Finanzinstitute und Rating Agenturen hinter sich gebracht hatte. Die Deregulierung ließ einen neuen Dschungel von anscheinend hoch profitablen „Produkten“ und „Instrumenten“ wachsen, deren Risiken, wie sich erst 2008 herausstellte, selbst ihre Erfinder und Meisterakrobaten nicht mehr abschätzen konnten.
  • Und schließlich machte die Internet-Revolution viel des Genannten technisch erst möglich und beschleunigte dabei manche Prozesse derart, dass die üblichen Kontroll- und Vorsichtsmaßnahmen außer Kraft gerieten.

Diese Geschehnisse reduzierten den Gestaltungsspielraum des Staates weitgehend auf das „Mithalten im Standortwettbewerb“. Die Stimmen der Investoren erschienen dem Staat hierbei gewichtiger als die Stimmen der Wählerschaft. Das Volk merkte das natürlich und fühlte sich vergackeiert. Es suchte aber die Schuld eher bei der Politik als bei den internationalen Finanzmärkten.

Die eigentliche Chance der gegenwärtigen Krise sehe ich daher darin, die skandalöse Unwucht zwischen den Finanzmärkten und der Demokratie wieder zu überwinden. Erst nachdem sich die vormals vergötterten Meisterakrobaten der Finanzwelt so gründlich blamiert und delegitimiert haben, besteht die Chance, über die Wünschbarkeit, ja Notwendigkeit einer gesunden Balance zwischen Staat und Markt wieder ernsthaft zu diskutieren.

Die zwei Arten der Aufklärung

Bevor wir uns der konstruktiven Aufgabe einer neuen Balance zuwenden aber erst noch ein weiterer Rückblick auf Vergangenes. Adam Smith (1723-1790), der schottische Ökonom und Vater der Marktwirtschaft, konnte noch wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die geographische Reichweite des Staates und des Rechts weitgehend deckungsgleich mit der geographischen Reichweite des Marktes waren. Die Ostindische Kompanie, die natürlich über England hinausreichte, war gleichwohl eine rein englische Gesellschaft, dem englischen Gesetz unterworfen. Diese geographische Deckungsgleichheit war die stillschweigend vorausgesetzte und voraussetzbare Bedingung für die alte Balance zwischen Staat und Markt.

In der angelsächsischen Welt gilt Adam Smith als einer der wichtigsten Vertreter der Aufklärung. Damit ist ein tief sitzender Konflikt zwischen der angelsächsischen und der kontinentaleuropäischen Aufklärung markiert, welche durch Namen wie Immanuel Kant, Voltaire oder Nicolas de Condorcet geprägt war und die auf den aufgeklärten Staat setzte. Solange die räumliche Deckungsgleichheit zwischen Markt und Staat noch einigermaßen funktionierte und es noch starke gemeinsame Gegner von Aufklärung, Demokratie und Markt gab, anfangs Könige und Kirchen, später Faschisten und Kommunisten, brach dieser Konflikt nicht aus. Und der breite Konsens der Nachkriegszeit im westlichen Lager gegen den Sowjetkommunismus war geradezu darauf aufgebaut, dass Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft eine unverbrüchliche Allianz eingegangen waren.

Diese über 200 Jahre funktionierende Synergie zwischen der angelsächsischen und der kontinentaleuropäischen Aufklärung brach nach dem Wegfall des letzten gemeinsamen Gegners, des Sowjetkommunismus, zusammen. Nun entstand auf einmal eine Welt des Konflikts zwischen beiden Weltanschauungen. Die Kräfte der aufgeklärten, freiheitlichen Demokratie mussten sich auf einmal gegen die Logik und die Kräfte des globalisierten Marktes zur Wehr setzen. Gleichzeitig entdeckt man in England und Amerika wieder wichtige Nuancen im Werk von Adam Smith, dass nämlich der Markt völlig ungeeignet ist, die äußere und innere Ordnung zu sichern und die Infrastruktur zu finanzieren. Smith nennt Häfen und Leuchttürme als zeitgemäße Beispiele der Infrastruktur. Heute würden wir – sollten wir, wie Reimut Jochimsen schon in den 1960er Jahren überzeugend hat – außer der materiellen Infrastruktur auch die personelle und institutionelle Infrastruktur, die Bildung, den Umweltschutz, das Rechtssystem dazu zählen.

Was zu tun ist

Damit sehen wir jetzt die philosophische Basis der neuen Synthese vor uns: Wir müssen sicherstellen, dass in einer globalisierten Welt (niemand will zurück in die verhockte Welt der Nationalstaaten) die essentiellen Funktionen des Staates gewährleistet und auch finanziert werden. Das Regulieren und Austrocknen der Steueroasen, beim G20Gipfel im April 2009 von Kontinentaleuropäern und Asiaten gegen die angelsächsischen Länder deutlich vertreten, wäre ein erster wichtiger Schritt. Vor der Finanzkrise hätten die Angelsachsen so etwas nicht einmal als Tagesordnungspunkt zugelassen und die Kontinentaleuropäer hätten nicht die Stirn gehabt, auch nur darüber sprechen zu wollen. Weitere notwendige Schritte in Richtung einer neuen Balance lassen sich unter dem Stichwort „Global Governance“ zusammenfassen. Die Autorität internationaler Organisationen wie UNESCO, UNEP, ILO, WHO muss gestärkt und gegenüber der Privatwirtschaft und den Einzelstaaten durchsetzbar gemacht werden. Auch die Frage der Finanzierung globaler Gemeinschaftsgüter und das Erheben globaler Steuern auf die Nutzung dieser Gemeinschaftsgüter müssen nun endlich auf den Tisch – wie vom WBGU schon lange vorgeschlagen.

Ferner sollte sich die Weltgemeinschaft darum bemühen und darauf dringen, die Vertretung öffentlicher Anliegen wie Menschenrechte, Klimaschutz, Mitbestimmung, Rechtsstaatlichkeit nicht alleine den Staaten und den internationalen Organisationen zu überlassen, sondern Vertretungsrechte von zivilgesellschaftlichen Organisationen im internationalen Raum fest zu verankern. Die Zivilgesellschaft kann allerdings das Konzert ihrer vielen Stimmen auch ohne formale Vertretungsrechte lautstark hörbar machen.

Die Beschränkung der Macht der Märkte und des privaten Geldes ist nötig für die Wiederbelebung der Demokratie und für die Annäherung an soziale Gerechtigkeit weltweit. Das ist der Kern der neuen Balance zwischen Staat und Markt. Diese Balance ist aber auch nötig, um all die guten und berechtigten Forderungen eines „Global Green New Deal“, einer nachhaltigen Finanzwirtschaft, einer nachhaltigen Stoffstrom- und Energiepolitik in der Praxis durchzusetzen. Der New Deal von Franklin D. Roosevelt 1932 war schließlich das gelungene Aufbäumen des Staates gegen eine frech gewordene und gescheiterte Privatwirtschaftsideologie, die einer von Roosevelt’s Vorgängern, Calvin Coolidge, auf den noch heute oft zitierten Nenner gebracht hatte: „America’s business is business“.

* Vorabdruck eines Beitrages, der im „Jahrbuch Ökologie 2010“ erscheinen wird.

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