Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Europa vor seiner zweiten Trans­for­ma­tion

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 50-59

Wachstum wofür?

Anders als in früheren Wirtschaftskrisen haben sich die Regierungen vieler Länder beeilt, den befürchteten Auswirkungen auf Produktion und Beschäftigung durch Konjunkturprogramme und Staatshilfen zuvorzukommen. Noch ist nicht absehbar, ob die allerorten gewachsene Bereitschaft zur staatlichen Intervention ausreicht, um einen drastischen Einbruch der Beschäftigung und eine lange Durststrecke ohne positive Wachstumsraten zu vermeiden. Mit gutem Grund fragen Publizisten und manche Politiker, ob es überhaupt noch ein sinnvolles Ziel sein kann, zu Verhältnissen zurückzukehren, wie sie vor dem Ausbruch der Finanzkrise bestanden. Käme es jetzt nicht vielmehr darauf an, andere Varianten des kapitalistischen Wirtschaftens, Stichwort „Kapitalismus 2.0“, zu erproben? Mit mehr Regulation der Märkte, mehr Umverteilung von den reicheren zu den ärmeren Bevölkerungsgruppen, mehr Unterstützung für unterentwickelte Länder, weniger Konkurrenz durch asiatische Billiganbieter, mehr Binnenkonsum statt Exportrekorde und vor allem weniger klimaschädlichen CO2-Emmissionen?

Die große Krise, die Politische Ökonomen der Linken schon vor Jahrzehnten angekündigt hatten, weckt offensichtlich nicht nur alte Ängste, sondern auch neue Hoffnungen. Ihre Auswirkungen auf gesellschaftliche Denkformen und Visionen bergen aber auch erhebliche Risiken: vor allem Risiken der Selbsttäuschung und kurzsichtigen Selbstbezüglichkeit. Wie wenig der Wille, den Auswirkungen der Krise zu trotzen, mit wirtschaftlichem und gesellschaftspolitischem Weitblick gepaart ist, hat die verzweifelte Rettungsaktion für die deutschen Opel-Werke gezeigt. Obwohl deren Produkte nicht zukunftstüchtiger als die der Konkurrenz sind, obwohl die Automobilbranche unter enormen Überkapazitäten leidet, obwohl Opel schon vor der Krise Milliardenverluste einfuhr, obwohl eine „geordnete Insolvenz“ am ehesten die umweltorientierte Revolution der Produktpalette ermöglicht hätte und obwohl kaum ein deutscher Politiker freiwillig auf Opel umsatteln würde, zählte für die Regierung allein die Stimmung im Lande, sprich: der Vorwahlkampf zur Bundestagswahl 2009.

Um größere Klarheit zu gewinnen, muss man an dieser Stelle noch etwas weiter bohren. Ist es wirklich das kapitalistische Wirtschaftsprinzip – etwas vereinfacht: das Privateigentum an Produktionsmitteln und der Wettbewerb am Güter-, Finanz- und Arbeitsmarkt -, das uns zu immerwährendem, Ressourcen verschleuderndem Wirtschaftswachstum zwingt? Der Autor, der selbst einige Jahre im Auf und Ab eines Industriebetriebs verbracht hat, vermag das nicht einzusehen. Weil kein Unternehmen seines Überlebens im Wettbewerb sicher sein kann und Jahr für Jahr neue Unternehmen Zutritt zum Markt erlangen, während andere ausscheiden oder schrumpfen, mögen Unternehmer zwar das Anwachsen des Bruttosozialprodukts ganz allgemein zu schätzen wissen, aber ihr eigenes Schicksal ist mit der nationalen Wachstumsrate nicht oder nur sehr lose verknüpft. Es sind andere, die für die Bewältigung ihrer Aufgaben und zur Sicherung ihres gesellschaftlichen Status zwingend auf Wirtschaftswachstum angewiesen sind: in erster Linie die Fonds der sozialen Sicherheit (v. a. bei steigendem Durchschnittsalter der Bevölkerung!), die Arbeitsuchenden (v. a. bei stetigem Produktivitätswachstum und Senioritätsrechten der Beschäftigten) und natürlich die Politiker, die das Funktionieren der sozialen Sicherungen und des Arbeitsmarktes zu verantworten haben. Sehen wir noch genauer hin, dann erkennen wir schließlich im demokratischen Parteienwettbewerb einen starken „Treiber“ des Strebens nach Wirtschaftswachstum.

Zwei Faktoren sind es vor allen anderen, die das politische System etablierter Demokratien nötigen, für Wachstum um nahezu jeden Preis zu sorgen: zum einen die Generalzuständigkeit der Politik für alle Themen, die als soziales Problem wahrgenommen oder etikettiert werden, und zum zweiten das (nicht immer) unausgesprochene inklusive Wohlstandsversprechen der Politik. Optimisten mögen einwenden, es handele sich umein zeitbedingtes Übel, von dem uns eine dezidiert „soziale“ Politik befreien könnte. Doch weder lässt sich der Wunsch nach mehr Sicherheit, mehr Einkommen, mehr Freizeit, mehr sozialer Gleichheit, mehr Anerkennung, mehr Gesundheit usw. endgültig befriedigen, noch lässt er sich verbieten oder mit Appellen zu „mehr“ Bescheidenheit stilllegen. Allein Zyniker verfügen über ein schlagendes Argument gegen die Kritik an der bestehenden Ungleichheit. Da von dem Wertverfall der „toxischen“ Finanzanlagen vor allem die Besserverdienenden betroffen sind und folglich in der Krise das statistische Durchschnittseinkommen sinkt, werden bald viele Bezieher von Transfereinkommen nach SGBII die statistisch definierte Armutszone nach oben verlassen. Denn sinkende Spitzeneinkommen bedeuten weniger Ungleichheit. Es braucht nicht viel Phantasie, um vorherzusagen, dass dieses Ergebnis keine Begeisterung wecken wird.

Kurzum: All die guten Dinge, die im einleitenden Absatz aufgelistet sind, treten hinter dem Dauerauftrag zurück, den wir der Politik erteilt haben: Sorgt dafür, dass es – mir, uns oder auch: allen – besser geht. Und der Parteienwettbewerb bewirkt, dass die Zweifler an diesem Staatsauftrag auf einsamem Posten bleiben. Ein Wettbewerb um „mehr“ Bescheidenheit und Verzicht ist schlicht nicht vorstellbar. Und qualitative Veränderungen unserer Lebens(um)welt scheinen nur dann politisch machbar, wenn die Politik die quantitativen Fragen zufriedenstellend beantworten oder aber mit guten Argumenten neutralisieren kann.

Eine andere Welt ist entstanden

Seit Jahren wirbt Attac für seine Vision einer humanen Globalisierung mit dem Spruch „Eine andere Welt ist möglich“. Was als optimistisch gefasste Kritik an der Internationalisierung der Märkte daherkommt und den Blick auf arbeitnehmerfreundliche Alternativen lenken soll, ist im Begriff, auf ganz andere Weise wahr zu werden. Noch geschieht die Entstehung der anderen Welt weitgehend unbemerkt. So suggeriert die Bundesregierung mit der Verlängerung des Kurzarbeitergelds und dem Rettungsfonds für angeschlagene Unternehmen, die Krise untertunneln zu können, um dann in ein oder zwei Jahren zu einem Zustand wie gehabt zurückzukehren. Das ist aber unmöglich.

Denn im letzten Jahrzehnt hat die Weltwirtschaft einen tief greifenden Wandel erfahren. Dabei hat sich das Verhältnis zwischen den „reichen“ Industrieländern und den ehemaligen Schwellen- bzw. Entwicklungsländern grundlegend verändert. Hintergrund dieser Entwicklung ist die weltweite Ausbreitung von marktwirtschaftlichen Institutionen im Anschluss an den Niedergang der sozialistischen Staatswirtschaften. Auch wenn derzeit vor allem die Folgerisiken und -probleme der Liberalisierungswelle beklagt werden, ist der wirtschaftliche Aufschwung nicht zu übersehen, den viele „arme“ Länder im Zuge von Liberalisierung und Globalisierung genommen haben – selbst in Teilen Afrikas. Das schlägt sich auch im Sprachgebrauch nieder: Man spricht nur noch von „emerging markets“ bzw. „emerging economies“ auf der einen Seite und den „alten“ Industrieländern auf der anderen.

Genaueren Aufschluss gibt der Bertelsmann-Transformations-Index, der die Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft in den 120 ärmeren Ländern der Welt im Zweijahresturnus verfolgt. Danach waren es 2007/2008 genau 100 Länder, die eine „gute“ oder „sehr gute“ Wirtschaftsleistung aufweisen. Berechnet man diese nicht anhand von marktüblichen, sondern von kaufkraftgewichteten Wechselkursen, so zeigt sich, dass die „neuen“ Industrieländer seit 2006 zusammen schon mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung bestreiten. Sie sind außerdem auch für gut die Hälfte der weltwirtschaftlichen Wachstumsrate verantwortlich. Die verbreitete Annahme, dass sich hinter dieser Entwicklung vor allem das Wirtschaftswunder China verbirgt, ist unrichtig. Vielmehr repräsentieren die vier größten „emerging economies“, nämlich Brasilien, Russland, Indien und China, lediglich 40 Prozent der Produktionskapazität aller „Neuen“.

Was der rasante Aufstieg der einstigen Entwicklungs- und Schwellenländer für unsere Welt bedeutet, wird an drei Sachverhalten deutlich. Einer betrifft die historische Einmaligkeit der jüngsten Wachstumsraten. In keiner der früheren Boomphasen der Industrialisierung wuchs das Weltsozialprodukt so rasch wie heute: zwischen 1870 und 1913 um durchschnittlich 1,3 Prozent im Jahr, von 1950 bis 1973 um 2,9 Prozent, aber von 2000 bis 2005 um 3,2 Prozent (The Economist 2006) und von 2003 bis 2007 um 4,8 Prozent. Das war, wie man weiß, am wenigsten den Volkswirtschaften des OECD-Raums geschuldet.

Der zweite Sachverhalt resultiert aus dem erstgenannten. Weil die neuen Industrieländer nicht denselben Entwicklungspfad einschlagen wie die „alten“, sondern gleich von den Vorteilen modernster Technologien Gebrauch machen können, durchlaufen sie einen beschleunigten Wandlungsprozess. Während es im 19. Jahrhundert 50 Jahre brauchte, bis sich das reale Pro-Kopf-Einkommen in Großbritannien und den USA verdoppelt hatte, bewältigte China die gleiche Transformationsleistung in lediglich neun Jahren.

Dabei konnten bislang rund eine halbe Milliarde Menschen dem Armutsschicksal entkommen. Gleichwohl ist der forcierte Modernisierungsprozess von eklatanter sozialer Ungleichheit, gravierenden Umweltbelastungen, miserablen Arbeitsbedingungen und einem Heer von Arbeitsmigranten und Tagelöhnern begleitet (vgl. Yang 2006). Aber diese Periode enormer sozialer Belastungen fällt wesentlich kürzer aus als im Europa und den USA des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Folglich treten viele positive Resultate des Wandels noch innerhalb der Lebensspanne einer Generation auf, so dass der Wandel nicht nur von Protest und sozialen Konflikten begleitet ist, sondern auch von wachsender Zufriedenheit und Stolz auf individuelle und gesellschaftliche Erfolge. Das bedeutet unter anderem, dass die Entstehung einer Arbeiterbewegung nach dem Muster der westlichen Industriestaaten wenig wahrscheinlich ist.

Das Beispiel China

  • Obwohl Chinas Wirtschaftsaufschwung schon vor 30 Jahren begann, sind die gewaltigsten Veränderungen in den letzten zehn Jahren eingetreten. Sie betreffen die Einkommensentwicklung, das Produktionsvolumen und Chinas Bedarf an Rohstoffen und Energie. In diesem Zeitraum hat sich z.B. die Roheisengewinnung versiebenfacht und die Stahlerzeugung vervierfacht. Der Import von Rohöl, Kupfer und Sojabohnen hat sich um das 25- bis 35-fache gesteigert. Zweistellige Wachstumsraten des Sozialprodukts waren bis 2008 „normal“.
  • Für das stürmische Wachstum der letzten Jahre spielten das „outsourcing“ und ausländische Direktinvestitionen der „alten“ Industrieländer keine zentrale Rolle. Die Entwicklung wurde vielmehr von der Entfaltung der Binnenmärkte und umfangreichen Investitionen in die Infrastruktur getragen. Das aktuelle Infrastrukturprogramm umfasst u.a. den Bau von weiteren 50.000 km Eisenbahnstrecken (bis 2015) und von 100 weiteren Flughäfen (bis 2020). Der Economist schrieb am 05.01.08: „Domestic demand is a bigger driver of China’s growth than it is of America’s.“
  • Chinas Exportboom wird als Wachstumsmotor überschätzt. Zieht man den Wert der importierten Komponenten von den Exportumsätzen ab, so reduziert sich der Exportanteil am Sozialprodukt auf 5 Prozent (für 1999 bis 2004) bis 20 Prozent (ab 2005). Vielfach wurde die Produktion von billigen Massengütern zu Gunsten avancierter Industrie- und High-Tech-Güter aufgegeben bzw. in andere Länder verlagert (The Economist 15.03.08).

  • Entgegen einer verbreiteten Annahme beruht der Aufstieg Chinas nicht auf einer Armee unqualifizierter und dauerhaft niedrigentlohnter Arbeiter. So stieg der Anteil elektronischer Erzeugnisse an den Exporten von 18 Prozent in 1995 auf 42 Prozent in 2006. Schon 2004 wurden die USA beim Export von IT-Gütern überholt. Ein Produktivitätsanstieg von 20 Prozent in 2006 resultierte in Lohnerhöhungen von durchschnittlich 15 Prozent. Gleichzeitig litten viele Unternehmen unter Arbeitskräftemangel und sahen sich deshalb veranlasst, die Arbeitsbedingungen zu verbessern bzw. neue Betriebsstätten im ärmeren Hinterland zu errichten.
  • Auch wenn die Fähigkeit zu eigenständigen wissenschaftlich-technologischen Innovationen noch nicht sehr ausgeprägt ist, wird angesichts der breiten Anwendung modernster Technologien und der rasch wachsenden Qualität und Kapazität der Bildungseinrichtungen mit einer baldigen Schließung der Innovationslücke gerechnet. Jährlich schließen ca. vier Millionen junge Chinesen eine Universitätsausbildung ab. Waren 2006 schon neun chinesische Hochschulen unter den 500 Spitzenuniversitäten der Welt vertreten, so stieg ihre Zahl im folgenden Jahr auf 13 und 2008 auf 30.
  • Schließlich macht uns der Aufstieg der neuen Industrieländer bewusst, dass der Prozess der Modernisierung mit dem hierzulande erreichten Entwicklungsstand keineswegs zum Abschluss gelangt ist. Was wir derzeit erleben, ist vielmehr ein tief greifender Formwandel der globalen Modernisierungsprozesse: Sie erfahren nicht nur eine spürbare Beschleunigung, sondern es wandelt sich auch ihr geographischer Ort und – womöglich – ihre zivilisatorische Substanz (Schmidt 2008). Der Westen gibt seine angestammte Rolle als Codierer und Impulsgeber der Modernisierung an die neuen Zentren Asiens ab. Gleichzeitig verliert er an wirtschaftlicher Bedeutung. Nicht nur wird China in weniger als zehn Jahren die weltgrößte Wirtschaftsnation sein (Maddison 2007: 174). Sondern nach weiteren zehn Jahren werden alle „Neuen“ zusammen etwa zwei Drittel des realen Welt-Sozialprodukts (nach Kaufkraftparität gewichtet) bestreiten. Und der Welt- Sozialprodukt-Anteil der EU-15 (das sind die EU-Mitgliedsländer vor der Osterweiterung), der 2000 noch gut 20 Prozent betrug, wird um 2040 nur noch etwa 5 Prozent betragen.

    Spätestens wenn die EU-15 zusammen mit den USA und Japan nur noch ein Fünftel des globalen Sozialprodukts repräsentieren, was um 2040 der Fall sein dürfte, werden sie sich – die derzeit wichtigsten Befürworter der demokratischen Regierungsform – auf eine geopolitische Minderheitsposition verwiesen sehen (Fogel 2007). Falls die politischen Systeme der neuen Wirtschaftsregionen bis dahin keinen nachhaltigen Demokratisierungsschub erfahren haben, droht die institutionelle Koexistenz von Demokratie und Marktwirtschaft, die zum zivilisatorischen Identitätskern des „Westens“ zählt, den Charakter einer historischen Ausnahmeerscheinung anzunehmen. Die Konsequenzen für alle Fragen der „global governance“, nicht zuletzt im Umgang mit dem Klimawandel, scheinen unabsehbar. Jedenfalls ist ein spürbarer Rückgang des Einflussgewichts von Europa und Japan zu erwarten, während allenfalls noch die USA die Chance besitzen, ihr weltwirtschaftliches und politisches Gewicht zu wahren.

    So viel zu den Koordinaten des schleichenden Wandels, dessen Zeugen wir in diesen Jahren sein dürfen – vor, während und erst recht nach der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise.

    Was auf uns zukommt

    Seit Längerem ist uns die Palette von Wirkungen vertraut, die mit dem Prozess der Globalisierung in Verbindung gebracht werden: das stetig wachsende Angebot preiswerter Elektronik- und Textilprodukte, erschwingliche Autos, und immer wieder der Hinweis auf die anderenorts niedrigeren Lohnkosten, sei es um Produktionsverlagerung zu begründen, sei es um Lohnerhöhungen abzuwehren. Was kann die Verlagerung der weltwirtschaftlichen Gewichte da noch Neues bringen?

    Es sind vor allem zwei Wirkungen, auf die sich die Länder Kontinentaleuropas rechtzeitig einstellen sollten: erstens, die Schrumpfung des Feldes ihrer Kernkompetenzen bzw. Alleinstellungsmerkmale und, zweitens, die Temposteigerung des ökonomischen und sozialen Wandels. Zwangsläufig sinkende Löhne gehören nicht dazu. Vielmehr wird den „alten“ Industrieländern der Triade selbst noch für 2040 das Dreifache des chinesischen Durchschnittseinkommens prognostiziert. Und für die USA wurde errechnet, dass höchstens 26-29 Prozent aller Arbeitsplätze überhaupt zur Verlagerung ins Ausland geeignet („offshorable“) sind (Blinder 2007). Das Hauptgewicht der von Europa zu schulternden Anpassungslast resultiert vielmehr aus der Geschwindigkeit des außeninduzierten Strukturwandels, dem mit den klassischen Instrumenten der Wirtschaftsund Industriepolitik, also der Forschungs- und Investitionsförderung, nicht mehr beizukommen sein wird.

    Eine unzweifelhaft willkommene Folge ist die steigende Nachfrage nach Investitionsgütern, die die neuen Industrieländer benötigen. Allerdings werden die Bereiche der Wirtschaft, die von einer überlegenen Wettbewerbsposition profitieren, sukzessive schrumpfen. Die einzige Möglichkeit, Schritt zu halten, besteht darin, den fortlaufenden Strukturwandel der europäischen Volkswirtschaften zu erleichtern – und zu ertragen. Das ist allerdings mit den verbreiteten Vorstellungen von enger beruflicher Spezialisierung, kontinuierlicher Beschäftigung und einer linearen Lebenslaufplanung nicht vereinbar. Gleichzeitig kollidieren die immer differenzierter und wechselhafter werdenden Bedingungen des Erwerbslebens mit den tradierten Formen der sozialstaatlichen Sicherheitsgewähr.

    Die Beschleunigung der modernen Lebensformen ist kein ganz neuartiges Phänomen (Rosa 2008). Indem sie noch stärker als bisher das Wirtschafts- und Arbeitsleben ergreift, wird sie vor allem den kontinentaleuropäischen Ländern Probleme bereiten. Hier, wo dem historischen Demokratisierungsprozess die Eroberung sozialer Bürgerrechte folgte und die Stabilität des politischen Systems auf einem vielfältig institutionalisierten Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit beruht, wird die forcierte Wandlungsdynamik unvermeidlich mit überlieferten Strukturen und Verfahren in Konflikt geraten. Doch die längst vertrauten Probleme wie die beschleunigte Obsoleszens der Industriestruktur, die Abwanderung arbeitsintensiver Industrien, die hohe Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten und die – auch bei Mindestlohnregeln – zunehmende Spreizung der Reallöhne und Lohnerhöhungsspielräume sind keine unvermeidlichen Folgen des Aufstiegs ferner Wirtschaftsregionen, sondern zum größten Teil „institutionell“ bedingt: Sie resultieren aus der Diskrepanz zwischen der sich wandelnden ökonomischen Umwelt auf der einen Seite und den traditionellen Wahrnehmungsfiltern, institutionalisierten Konfliktroutinen und dem begrenzten Interessenhorizont der zuständigen Akteure.

    Schwierige Entschei­dungen

    Naive Gemüter mögen hoffen, dass die gegenwärtige Wirtschaftskrise hilft, den erforderlichen Anpassungsprozess zu vertagen und die längerfristige Anpassungslast zu verringern. Doch diese Hoffnung trügt. Die flexibleren Arbeitsmärkte, die liberalere Marktverfassung und die schwächer ausgeprägte Sozialstaatlichkeit der neuen Industrieländer werden sich unweigerlich als Tempobeschleuniger der wirtschaftlichen Erholung auswirken. Dementsprechend wird der Adaptionsdruck auf die „wohlregulierten“ Sozialstaaten Europas steigen.

    Ebenso wenig Anlass besteht, auf ein mutmaßlich höheres Wettbewerbspotential der osteuropäischen Neu-Mitglieder der EU zu bauen. Aus zwei Gründen bilden sie keine EU-interne Flexibilitätsreserve. Zum einen besitzen die Bürger in Osteuropa keine wesentlich anderen und bescheideneren Erwartungen an das vom Staat zu gewährleistende Wohlstands- und Sicherheitsniveau als die Bürger in Westeuropa. Und zum zweiten haben letztere eine deutliche Abwehrhaltung bewiesen, wenn Unternehmen aus Osteuropa ihren Lohnkostenvorteil im gemeinsamen Markt der EU ausspielen wollten. Das ist durch die Einführung der sog. Entsenderichtlinie 1996 und die Abkehr vom Herkunftslandprinzip in der Dienstleistungsrichtlinie 2005 hinreichend belegt. De facto wurde Dienstleistungsunternehmen aus den neuen mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern der Einsatz ihrer Arbeitnehmer (ausgenommen Leitungskräfte) in anderen EU-Ländern verboten.

    Welchen Anpassungspfad die westeuropäischen Demokratien auch bevorzugen werden, sei es eine weitergehende (aber für Sozialdemokraten und Gewerkschaften nicht akzeptable) Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, sei es die (schwerlich finanzierbare) Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens oder sei es eine Palette von Reformen nach dem Muster des (am ehesten kompromissfähigen) Flexicurity-Konzepts: Die Umkehrung der sozialpolitischen Prioritäten von der kurativen, versorgungsorientierten und statusbezogenen Sicherheitsgewähr zu verstärkt präventiver, mobilitäts- und kompetenzorientierter Unterstützung ist dringend geboten. Allerdings erscheint sie – vor dem Hintergrund der verbreiteten Überzeugungen und Werthaltungen – als ein politisches Projekt, dessen Umfang und Risiken dem der Systemtransformation der ehemals sozialistischen Staaten nahe kommen. Betrachtet man seine Realisierungschance genauer, so ist es sogar als wesentlich weniger erfolgsträchtig anzusehen.

    Das Flexicurity-Konzept

    • Flexicurity meint eine Kombination von beschäftigungsfördernden Maßnahmen der Flexibilisierung von Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht mit Regelungen zur Verbesserung der sozialen Sicherheit bei Arbeitslosigkeit, Weiterqualifikation und Arbeitsplatzsuche. So wurde z.B. in skandinavischen Ländern, die mittels Flexicurity ihre Arbeitslosenquote in den 90er Jahren deutlich verringerten, ein Abbau des Kündigungsschutzes mit relativ großzügiger Arbeitslosenunterstützung und effektiven Wiedereingliederungsmaßnahmen kombiniert.
    • Nach einem Vorschlag der EU-Kommission soll Flexicurity helfen, „ein neues Gleichgewicht zwischen Flexibilität und sozialer Sicherheit“ zu finden (Kaufmann/Schwan 2007). Nachdem das Konzept zunächst vom Europäischen Gewerkschaftsbund (ETUC) in einer gemeinsamen Empfehlung mit dem Unternehmensverband BUSINESSEUROPE unterstützt wurde, stieß es bei nationalen Gewerkschaften sowie sozialistischen und grünen Parteien auf entschiedene Ablehnung. Deren Kritik betraf v .a. die Differenzierung von Beschäftigungs- und Arbeitsplatzsicherheit. Während das Konzept im Interesse größerer Flexibilität des Arbeitskräfteeinsatzes lediglich Beschäftigungssicherheit verspricht, bestehen die gewerkschaftlichen Kritiker auf der Gewährleistung von Arbeitsplatzsicherheit. Sie unterstellen, der Wandel der Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur ließe sich mit quasi-gesetzlichen Mitteln unterbinden (Wiesenthal /Goymann 2008).

    Denn die Abwehr eines drohenden Übels wird nicht annähernd so stark motivieren wie vor 20 Jahren die Aussicht auf effektive Wohlstandsgewinne. Eine Präventivreform des Wohlfahrtsstaats wird auch kaum auf die Unterstützung einer sozialen Bewegung bauen können. Eher wird der hohe Organisationsgrad der westeuropäischen Zivilgesellschaften dafür sorgen, dass der ohnehin kleinen Befürworterschar eine breite Koalition von engagierten Besitzstandsverteidigern gegenüber steht. Schließlich ist anzunehmen, dass rechtzeitige Reformbemühungen auch deswegen unterbleiben, weil sie zu wenig unmittelbaren „politischen Profit“ abwerfen und dem in der Zukunft vermiedenen Leid kein unmittelbarer Gewinn entspricht.

    So verdient die Idee einer Problem angemessenen Transformation der europäischen Wohlfahrtsstaaten exakt jenes Maß an Skepsis, mit dem die postsozialistische Transformation in den ersten Jahren irrtümlich bedacht wurde. Was als sinnvoll und notwendig erscheint, droht mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Gegenwartspräferenz der Wählerschaft und der Opportunismusneigung von Politikern zu scheitern. Da dieses Schicksal aber auch schon der letzten Endes erfolgreichen Transformation des Sozialismus prognostiziert worden war, ohne dass es sich bewahrheitet hätte, bleibt wenigstens ein Funken Hoffnung.

    Rationale Argumente und aneinander gereihte Wahrscheinlichkeitsannahmen können niemals das gesamte Feld zukünftiger Möglichkeiten abstecken. Sie bleiben ein Versuch der allemal unvollständigen Komplexitätsreduktion und umreißen bestenfalls ein Spektrum potentieller Ereignisse von erhöhter Wahrscheinlichkeit. Diesen Sachverhalt korrekt wahrzunehmen, bedeutet u. U. schon, seinen Wahrscheinlichkeitswert zu verändern. So gesehen wäre es durchaus möglich, dass es angesichts eines drohenden Übels zu rechtzeitigen und angemessenen Gegenreaktionen kommt – ähnlich wie in Polen und der DDR im Jahr 1989, als die erstarrten Verhältnisse immer mehr Menschen motivierten, das „Unmögliche“ zu denken und zu wagen? Die Antwort auf diese Frage mag jeder für sich zu finden versuchen.

    Hier sei nur auf notwendige Voraussetzungen zweckmäßiger Reaktionen auf den Wandel der Weltwirtschaft hingewiesen. Aus der Frühgeschichte der Sozialstaaten weiß man, dass es eines Netzwerks von nüchtern denkenden und öffentlichkeitswirksamen Individuen bedarf, um traditionelle und allzu kurzsichtig-egoistische Sichtweisen aufzubrechen (Wiesenthal 2003). Das „neue Denken“, in dessen Rahmen es um 1900 zur Einführung allgemeiner Sozialversicherungssysteme kam, war inspiriert durch eine zutreffende und von jedermann nachvollziehbare Diagnose des sozioökonomischen Wandels und geeigneter, in aller Regel schon anderenorts erprobter Innovationen. Der Umbesinnungsprozess, in dem die Vertreter obsoleter Deutungen allmählich an Boden verloren, dauerte allerdings bis zu einem Jahrzehnt. Wachsender Problemdruck erwies sich dabei als hilfreich. Aber das anfängliche Leistungsniveau der neuen sozialen Sicherungen war ausgesprochen bescheiden. Das stand der allmählichen Ausweitung und Anhebung der Leistungen bekanntlich nicht im Wege.

    Literatur

    Blinder, Alan S., 2007: How Many U.S. Jobs Might Be Offshorable? Princeton University, CEPS Working Paper No. 142.

    Fogel, Robert W., 2007: Capitalism and Democracy in 2040: Forecasts and Speculations. NBER Working Paper No. 13184.

    Kaufmann, Inge; Schwan, Alexander, 2007: Flexicurity auf Europas Arbeitsmärkten – Der schmale Grat zwischen Flexibilität und sozialer Sicherheit. Internationale Politikanalyse. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

    Maddison, Angus, 2007: Contours of the World Economy, 1-2030 AD. Essays in Macro-Economic History. Oxford: Oxford University Press.

    Rosa, Hartmut, 2008: The Universal Underneath the Multiple: Social Acceleration as a Key to Understanding Modernity. In: Schmidt, Volker H. (Hg.): Modernity at the Beginning of the 21st Century. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing, 62-88.

    Schmidt, Volker H., 2008: One World, One Modernity. In: Schmidt, Volker H. (Hg.): Modernity at the Beginning of the 21st Century. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing, 205-228.

    The Economist, March 25th 2006: Balancing act. A survey of China.

    The Economist, January 5th 2008: An old Chinese myth, 63.

    The Economist, March 15th 2008: A ravenous dragon. A special report on China’s quest for resources.

    Yang, Dali L., 2006: Economic Transformation and Its Political Discontents in China: Authoritarianism, Unequal Growth, and the Dilemmas of Political Development. Annual Review of Political Science 9, 143-164.

    Wiesenthal, Helmut, 2003: Beyond Incrementalism: Sozialpolitische Basisinnovationen im Lichte der politiktheoretischen Skepsis. In: Mayntz, Renate; Streeck, Wolfgang (Hg.): Die Reformierbarkeit der Demokratie. Innovationen und Blockaden. Festschrift für Fritz W. Scharpf. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 31-70.

    Wiesenthal, Helmut; Goymann, Andrea, 2008: Das soziale Europa. Eine Studie über die Bedingungen und Möglichkeiten grüner Sozialpolitik in Europa. Berlin: Heinrich Böll-Stiftung.

    nach oben