Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Reform­po­litik in der Krise

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 83-91

Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise haben sich die gesellschaftlichen Koordinaten staatlicher Reformpolitik auf eine sehr widersprüchliche Art und Weise verschoben und die Protagonisten der politischen Parteien, vor allem der Linken haben erkennbar Schwierigkeiten, sich darauf strategisch auszurichten. Der eklatante Widerspruch zwischen Vergütung und Leistungsfähigkeit der Managerklasse, die Maßlosigkeit, mit der nach den Renditen des Kapitalmarktes nun die Hilfen des Staates vereinnahmt werden, die ebenso eklatante Ungleichheit der Antworten des Staates auf die Staatsbedürftigkeit des Finanz-und Firmenkapitals einerseits und des Prekariats andererseits haben der Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft neuen Auftrieb gegeben. Eine Zeit lang schien es fast so, als sei nun die Stunde gekommen, die entstandene Schieflage in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu korrigieren und die vermeintlich neoliberale Politik der zurückliegenden Jahre zu revidieren. Mehr Keynes, weniger Hayek lautete die wirtschaftspolitische Devise. Und wo immer in den letzten Jahren mit dem Verweis auf die Erfordernisse der Globalisierung, die Stärkung des Standortes und die abnehmende staatliche Steuerungsfähigkeit, Eingriffe in die verbrieften sozialstaatlichen Anwartschaften und Rechte vorgenommen wurden, standen diese nun zumindest unter einem verschärften Legitimationsdruck.

Die Parteien haben diesem Druck nachgegeben, sie sind in toto erkennbar nach links gerückt. Ihr Positionswandel entspricht einem schon länger anhaltenden Linkstrend der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung, der sich in einer wieder wachsenden Akzeptanz tradierter Gerechtigkeitsvorstellungen und einer massiver werdenden Kritik des sozioökonomischen Status-quo manifestiert.

Mit den Begriffen Antonio Gramcis` formuliert: der hegemoniale Diskurs ist links und es spricht einiges dafür, dass er den Wahlkampf 2009 prägen wird. Damit ist allerdings keinesfalls der Sieger präjudiziert. Die Umfragen und Wahlergebnisse der letzten Monate deuten darauf hin, dass mitnichten diejenigen Parteien, die sich ein Mehr an sozialer Sicherheit auf die Fahne geschrieben haben, aufgrund der Krise verstärkten Zulauf erfahren. Vielmehr erstarken jene politischen Kräfte, deren Ideologie die Begleitmusik der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre war. Ein entsprechender Ausgang der Bundestagswahl ist zu erwarten.

Die absehbare Niederlage der Parteien der Linken ist nicht allein eine Konsequenz eines von persönlichen Aversionen und politischen Abgrenzungen geprägten Kampfes um die Deutungshoheit in diesem politischen Lager. Die fehlende Machtperspektive ist nur ein Teil des Dilemmas. Wesentlich problematischer ist die, bei aller Differenz, beiden Parteien der Linken eigene Vorstellung von den Wirkmechanismen zwischen Gesellschaft und Ökonomie und der darauf ruhende Anspruch politischer Gestaltung. Ihr Reformbegriff ist normativ aufgeladen, reflektiert jedoch nicht die gewandelten Bedingen einer entsprechenden Politik und vor allem nicht die veränderten Anforderungen, die sie zum Gegenstand haben müsste. Demgegenüber sind die politischen Kräfte im Vorteil, die bei ähnlicher normativer Orientierung und perspektivischen Desorientierung Reformpolitik auf ein gelingendes Anpassungsmanagement reduzieren.

Wie die Interventionen gegen die wirtschaftlichen Folgen der Krise deutlich machen, basiert der in beiden Lagern dominierende Fortschrittsbegriff nach wie vor unhinterfragt auf ökonomischem Wachstum. Während das so genannte bürgerliche Lager diesem Ziel soziale Ansprüche notfalls unterordnet, beruht für die Linke der sozialen Fortschritts wesentlich auf einer impliziten Koppelung der Wachstumsdynamik des modernen Kapitalismus mit dem Fortwirken und der Fortentwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Anrechtesysteme. Die sozialstaatliche Inklusion ist funktionaler Treibsatz dieser Dynamik und die Aufgabe der Politik besteht darin, durch institutionelle Arrangements das Gleichgewicht zwischen konsumptivem und produktivem Pol zu gewährleisten. Dieser Fortschrittsbegriff ist deshalb so wirkmächtig, weil er durch die Erfahrung des sozialpolitischen Erfolgsmodells der Bundesrepublik gesättigt ist.

Es ist die Wachstumskonstellation, die der Soziologe Burkhart Lutz 1984 in seinem Buch „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ als das Kennzeichen der zurückliegenden Nachkriegsepoche charakterisiert hat. Deren Dynamik basierte auf der kontinuierlichen Absorbtion des landwirtschaftlichen durch den industriellen Sektor, da dieser dauerhaft ein über dem Subsistenzlevel der Landwirtschaft liegendes Lohnniveau bieten konnte, das zugleich ein exorbitantes Wachstum der Konsumgüterproduktion ermöglichte. Der Wohlfahrtsstaat war das funktionale Äquivalent dieses Produktionsmodells und der Korporatismus des „rheinischen Kapitalismus“ das passende Regime. Es war eine Zeit, in welcher die Fortschritte in der rechtlichen Emanzipation des Einzelnen eng mit dem materiellen Fortschritt von Wissenschaft und Technik korrelierten und so eine Zukunftzugewandtheit hervorgebracht wurde, wie es sie hernach nicht mehr gegeben hat. Es war die Zeit, welche das Idealbild von Reformpolitik prägte, an dem nicht nur das Regierungshandeln aller folgenden Perioden gemessen – und zwangsläufig als defizitär empfunden wurde und wird, sonder alle folgenden Reformen als Anpassungshandeln denunziert werden konnten.

Diese Prosperitätskonstellation kam Ende der siebziger Jahre an ihre Grenze. Seitdem wurde noch keine neue Konstellation gefunden. Seitdem hat der Neoliberalismus von den USA und England aus, seinen angeblich nun endenden Siegeszug angetreten. Schilderungen dieses Siegeszuges haben immer einen leicht verschwörungstheoretischen Anklang, es bleibt meist unklar, wieso er politisch so wirkmächtig werden konnte, obgleich seine negativen sozialen Folgen jederzeit offensichtlich waren.

Man kann das Aufkommen der neoklassischen Wirtschaftspolitik nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Anfang der achtziger Jahre der Staat mit seiner keynesianischen Variante des Wirtschaftens in eine Sackgasse gesteuert war. Obwohl die staatliche Verschuldung anstieg, konnten keine Produktivitätsschübe mehr induziert werden, um die wachsende Zahl der Arbeitslosen zu absorbieren.

Die Wachstumsdynamik des sich globalisierenden Kapitals löste sich von den Strukturen des Sozialstaates, dieser wurde weitgehend entbehrlich und in dem Maße, wie sein Anreizsystem zu Fehlsteuerungen führte, für die weitere Entwicklung hinderlich. Die Belastung des Faktors Arbeit mit steigenden Nebenkosten war der geldwerte Indikator dieser Fehlentwicklung, die Festschreibung eines Bodensatzes von dauerhaft Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern war ihr politischer Skandal und die Belastung der nachkommenden Generationen mit einem wachsenden Berg von Staatsschulden war ihr normativer Makel. Zudem wusste dieser Sozialstaat immer wenigen auf die Herausforderungen zu antworten, welche die Veränderung der Produktionskonfiguration in den letzten Jahrzehnten mit sich brachten.

Denn mit dem Ende des Lutzschen Prosperitätsmodells wandelte sich die industrielle Aneignung von Arbeit. Nach den Dörfern gerieten die Familien in den Sog produktiver Verwertung (Streeck 2005). Seit den siebziger Jahren nahm die Zahl erwerbstätiger Frauen zu. Zum einen war dies die Antwort auf die Notwendigkeit, das Niveau der familialen Lebensführung trotz stagnierendem oder gar sinkender Einkommen des malebread-winners zu halten oder zu verbessern, zum anderen entsprach der Gang in die Produktion einem Begriff persönlicher Emanzipation, welcher den Abschied von Heim und Herd als einen Akt der Gleichberechtigung feierte, um dessen Willen gar eine Senkung des Reservationslohnes in Kauf genommen wurde.

Diese Dialektik von Wandel der Produktivitätskonstellation und den mit ihm korrespondierenden gesellschaftlichen Veränderungen prägt seitdem die verschiedenen Begriffe, die sich heute von Fortschritt und damit von notwendigen Reformen gemacht wird. So hat es in der Union drei Jahrzehnte gedauert, bis die schon damals als Schlüssel weiblicher Emanzipation gefeierte Frauenerwerbstätigkeit in ihren gesellschaftlichen Konsequenzen anerkannt wurde, während die damit verbundenen Veränderungen der Arbeits- und Einkommensverhältnisse von den Gewerkschaften und der ihr nahe stehenden politischen Linken genauso lange beklagt wurde. Diese Diffusion verschiedener Fortschritts- und Reformbegriffe durchzieht auch die Migrationsdebatte.

Die Landnahme der Migranten war die zweite große Ressource kapitalistischer Entwicklung. Für Migranten war auf Grund ihrer meist ländlich geprägten Lebensgeschichte die Annahme von Arbeiten unterhalb des für Einheimische gängigen Reservationslohnes attraktiv.

Einer dritten Landnahme fiel ein großer Sektor staatlicher Dienstleistung und Produktion zum Opfer, die privatisiert, in ihrer Organisationsform enthierarchisiert und in ihren Rechts- und Tarifstrukturen dereguliert wurden.

Mit dem Fall der Mauer und dem Ende des Ostblocks eröffnete sich ein geradezu unerschöpfliches Reservoir an flexiblen, unter dem hiesigen Reservatslohn arbeitenden Arbeitskräften, denen es zumeist verwehrt ist, sich in das hiesige System sozialer Anrechte einzuklagen. Mit dem Fall der Mauer und der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen sind zudem der Externalisierung von Produktionen nach Maßgabe der Kostenfaktorenminimierung keine Grenzen mehr gesetzt. Produktionsstätten wandern vom Zentrum in die Peripherie und mittlerweile hat sich, was noch vor Jahren als Peripherie galt zu einem Zentrum entwickelt, das so mächtig ist, dass es den alten den Rang abläuft. Dort finden sich Prosperitätskonstellationen, die in der Rasanz mit dem sie Landarbeitskräfte absorbieren und Wachstum generieren, die damalige deutsche bei Weitem übertreffen.

China, Indien, Brasilien und andere emerging states gehören zu den Gewinnern der Globalisierung, weshalb dort der hiesige Vorbehalt gegen das liberale Weltwirtschaftsmodell auf wenig Verständnis stößt. Die Vorstellung, die Weltgesellschaft ließe sich womöglich dereinst nach dem Vorbild des rheinischen Kapitalismus formen, kann getrost ad acta gelegt werden. Mit dem Abschied von diesem Leitbild wird der Abschied von einer führenden Rolle in der Weltökonomie verbunden sein. Das wird Rückwirkungen auf die hiesige Wohlfahrtsökonomie haben, die wahrscheinlich über das hinausgehen, was bislang im globalen Wettbewerb zu verkraften war.

In der EU der 15 lebten im Jahr 2000 6 Prozent der Weltbevölkerung, die 21 Prozent des Weltbruttosozialproduktes (WBSP) erwirtschafteten, in den USA waren es 5 Prozent die 22 Prozent zum weltweiten BSP beitrugen und in China lautete das Verhältnis 22 Prozent der Weltbevölkerung zu 11 Prozent des WBSP. Im Jahr 2040 werden in der EU15 noch 4 und in den USA noch 5 Prozent der Weltbevölkerung leben, ihr Anteil am WBSP wird dann 5 resp. 14 Prozent betragen. China hingegen wird mit 17 Prozent der Weltbevölkerung 40 Prozent des WBSP erwirtschaften. Es wird dann mit 123 Billionen Dollar das WBSP des Jahres 2000 um das dreifache übertroffen haben. (Fogel 2007).

Gegenüber den ost- und südostasiatischen Staaten einschließlich Indien und den USA wird die EU zu den Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklung gehören. (Die eigentlichen Verlierer werden allerdings die afrikanischen und südamerikanischen Staaten sein). Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate seines BSP wird nur 1,2 Prozent per capita betragen (China: 8 Prozent).

Diese Aussichten werden mehr verschleiert als gemildert, indem man hierzulande noch gerne von den Niedriglohnländern spricht, deren Konkurrenz man parteiübergreifend zu entfliehen gedenkt, indem man auf die anscheinend standortspezifische Ressource „gebildetes Humankapital“ setzt. In China schließen mittlerweile jährlich rund 4 Mio. Personen eine Universitätsausbildung ab, der Anteil chinesischer Hochschulen an den 500 Spitzenuniversitäten der Welt nimmt rapide zu: von 1,8 % in 2006 auf 6 % in 2008 (Deutschland: 8 %). (Wiesenthal 2008)

Europa und Deutschlands werden als Global Player an Bedeutung verlieren. Der Spielraum staatlichen Handelns wird sich dramatisch verringern, zumal die demografische Entwicklung der Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten einen Großteil der Ressourcen binden wird. Derzeit (2006) liegt Deutschland noch mit einer Abgabenquote (Steuern und Sozialabgaben in Prozent des BIP) von 35,7 Prozent im Mittelfeld der führenden OECD-Staaten. Die anstehende demografische Veränderung wird jedoch bis zum Jahr 2050 den Altersquotienten (Zahl der Personen über 65 Jahre je 100 Personen im Alter von 20 bis 65 Jahre) auf 64 verdoppeln. Deren Versorgung wird die Abgabenquote um 15 Prozent auf 50 Prozent des BIP anwachsen lassen. Die Kosten für das Gesundheitswesen werden auf das Eineinhalbfache, die für die Alten und Hinterbliebenen auf mehr als das Doppelte steigen. Das Sozialbudget, das derzeit bei 30,3 Prozent des BIP liegt, wird auf 45,7 Prozent anwachsen.

Unter diesen Bedingungen ist das Wohlstandsniveau, nur bei einer entsprechenden Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität aufrecht zu erhalten. Doch in dem Maße, wie dieser Wandel der Gesellschaft ein Mehr an staatlichen Reformen notwendig macht, untergräbt er die finanziellen Ressourcen, diese ins Werk zu setzen. Auch die Möglichkeit, dieses Schere zwischen der Notwendigkeit von und der Fähigkeit zu Reformen durch vermehrte Schuldenaufnahme zu überbrücken, stößt an ihre Grenzen. In den siebziger und achtziger Jahren überstieg die jährliche Netto-Neuverschuldung noch die fälligen Zinszahlungen, die saldierten Mehreinnahmen des Staates erhöhten dessen fiskalische Handlungsmöglichkeiten. Von 1991 bis 2005 verkehrte sich jedoch das Verhältnis, in diesem Zeitraum überstiegen die Zinszahlungen die Nettoneuverschuldung um 208 Mrd. Euro. (Mai BDI 4/08). Ließ sich in der ersten Phase noch „keynesianisch“ argumentieren, dass eine durch eine schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik Wirtschaftswachstum induziert werden könne und als Sekundäreffekt erhöhte Einnahmen zurückfließen würden – was schon damals nicht zutraf -, so muss mit der zweiten Phase diese Theorie als vollends widerlegt gelten. Nicht zuletzt der in diese Zeit fallende Transfer erheblicher Mittel in den Aufbau Ost ist ein Beleg dafür, dass einer schuldenfinanzierten staatlichen Nachfragepolitik keinesfalls ein entsprechender phasenverschobener Rückfluss an Steuereinnahmen folgt. Die Konsequenz aus der Schuldenfalle kann nur in einer Konsolidierung des Staatshaushaltes durch Mehreinnahmen und Minderausgaben liegen, wie sie nach 2005 eingeleitet wurde. Sie wurde jedoch nun wieder zu Gunsten der Bekämpfung der Finanzkrise und der Rezession für unabsehbare Zeit aufgegeben. Da die dafür aufgebrachten enormen staatlichen Mittel lediglich dazu dienen, die Marktfähigkeit der in Schwierigkeiten geratenen Banken und Unternehmen wieder herzustellen, ihre ökologisch nachhaltigen und sozialen Effekte allenfalls sekundärer Natur sind, ist dies kein Beleg für ein Wiedererstarken der Politik gegenüber der Ökonomie.

Bereits vor dieser Krise, im Jahren 2005, betrug der Anteil der staatlichen Mittel, der nicht durch Zinszahlung, Schuldentilgung, Sozialausgaben, Pensionen, bilaterale Verpflichtungen etc. festgelegt war, der also den Verwirklichungsraum staatlichen Gestaltungsanspruchs markiert, lediglich 18,8 Prozent. Zur Hochzeit der in Reformdebatten gerne als Maßstab genommenen Brandtschen Ära 1970 waren es noch 43,3 Prozent.

Unter diesen Auspizien lässt sich kaum von einer Rückkehr des Staates sprechen. Auch wenn die Rede von einem Ende des „Neoliberalismus“ die gegenteilige Erwartung weckt: die Spielräume für Reformpolitik sind geschrumpft und werden infolge der Finanzkrise noch erheblich abnehmen, zumal durch sie die strukturelle Krise nicht nur der Banken, sondern eines der Kernsektoren der deutschen Wirtschaftsentwicklung, der Automobilindustrie, verschärft worden ist, ohne dass bereits entwickelt wäre, was neben ihr oder gar an ihrer Stelle Innovationskern der kommenden Jahrzehnte sein wird.

Reformpolitik wird auch zukünftig im Wesentlichen in einem Anpassungsmanagement bestehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht genug Möglichkeiten für eine partei- und koalitionsgeprägte Ausgestaltung hat. Doch haben diese Ausgestaltungen mit spezifischen legitimatorischen Erschöpfungszuständen zu kämpfen, zumal sie durch die Fragmentierung des Parteiensystems noch erschwert werden.

Die lange Ära der Regierung Kohl war reformpolitisch verlorene Jahrzehnte, in denen sich die Spannung zwischen der wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Dynamik einerseits und einem sklerotischem Institutionensystem andererseits zu einem drohenden sozialen Wandel auswuchsen. Das retrospektive Selbstbild eines gelungenen Prozesses der deutschen Einheit verdeckt die auch diesen prägenden reformerischen Mängel einer Regierung, die aus ideologischen und wahltaktischen Gründen nicht in der Lage war, aus dem Ende des male-bread-winner-Modells, der wachsenden Einbeziehung der Frauen und der Migranten in den produktiven Sektor die erforderlichen sozialpolitischen Konsequenzen zu ziehen. Ihre Modernisierungen erschöpften sich in einer teilweisen Privatisierung des öffentlichen Sektors, ohne das daraus ein neues Produktivitätsmodell erwuchs. Der von den IuK-Technologiern getragene Boom der neunziger Jahre ging an Deutschland vorbei. Die verrechteten Strukturen des Arbeitsmarktes blieben im Wesentlichen erhalten, so sie gelockert wurden, generierten diese Reformen, wie z. B. die Frühverrentung, neue Fehlallokationen.

Während der rot-grünen Ära verdichteten sich die Probleme in einer Weise, die die Regierungsparteien, vor allem die SPD, zur Abkehr von ihrer ursprünglichen Programmatik zwangen. Es folgte ein eher erratischer Reformprozess, der immerhin zur vier strukturellen Veränderungen und damit zum Ende des bundesrepublikanischen Modells Deutschland führte: Durch die Reform der Unternehmenssteuer und der Bankenstruktur wurden die industriellen Verflechtungen, als deren Netzknoten die Banken und Versicherungen fungierten, aufgelöst, das Kapital globalisierte sich. Zugleich wurden mit dem Bündnis für Arbeit die letzte Variante des korporativen Arrangements von Kapital und Arbeit beendet. Ihm war durch die Auflösung der Flächentarifvertragsstruktur schon weitgehend der Boden entzogen. Mit den Hartz-Reformen wurden schließlich die staatlichen Interventionen in diesem Bereich von einer Sicherung des sozialen Standards der Arbeitskraft auf deren Mobilisierung und Flexibilisierung umgestellt. Zugleich wurden in der Integrations-, Frauen- und Bildungspolitik die Konsequenzen aus der bereits beschriebenen Einbeziehung dieser Gruppen in den produktiven Sektor gezogen und in der Energiepolitik die Wende zu einer nachhaltigen Ausrichtung eingeleitet.

Obgleich diese Reformen in der Sache weitgehend erfolgreich waren, gelang es nicht, das Regierungshandeln mit der Programmatik der sie tragenden Parteien in einer Weise zu verbinden, dass daraus eine nach vorne offene Erzählung resultierte. Die alles überwölbende Globalisierung wurde von diesen vornehmlich als Bedrohung wahrgenommen. Es dominierten anonyme Sachzwänge, denen sich die normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts anzupassen hatten; was als „Neue Mitte“ kommuniziert wurde, blieb ideologisches Futter im parteiinternen Streit.

Zu diesem kommunikativen Unvermögen, unter dem vornehmlich die SPD litt, mag auch die oft sprunghafte Art rot-grünen Reformierens beigetragen haben, die häufig keine funktionalen Notwendigkeiten sondern allenfalls Zeitgeist-Opportunismus erkennen ließ. So war zur Auflösung des verflochtenen Modells Deutschland weder die völlige Freistellung der Veräußerungsgewinne bei Kapitalbeteiligungen noch die Senkung der Spitzensteuersätze erforderlich.

Die Große Koalition hat das Erbe rot-grüner Reformen verwaltet und fortgeführt, aber strukturell kaum neue Akzente gesetzt. Der Wille dazu war bei der SPD schon mit der Einleitung der Neuwahl und bei der Union mit dem schlechten Abschneiden bei der Wahl am 18. September 2005 gebrochen. Auf die Rente mit 67 folgte mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldes bei beiden Regierungsfraktionen ein strukturpolitischer Roll-Back. Der Erhöhung der Mehrwertsteuer zu Beginn der Legislaturperiode lag kein konzeptioneller Gedanke zu Grunde, der Einstieg in die notwendige stärkere Steuerfinanzierung der sozialen Sicherung wurde versäumt. Die familienpolitischen Entscheidungen bestachen als Parameter einer sich modernisierenden CDU, die materiellen Vorteile, die mit ihnen verbunden sind, bleiben jedoch zurück hinter den strukturellen Veränderungen, die angesichts der demografischen Entwicklung notwendig sind. Die Maßnahmen der Großen Koalition sind vornehmlich Elternpolitik, sie zielen auf die Gleichbehandlung der Paare und für die Frauen auf eine möglichst reibungslose Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung. Als solche hätten sie allerdings ergänzt werden müssen durch eine notfalls gesetzlich zu regelnde Gleichstellung der Frauen im Erwerbsleben. Denn eine um 25 Prozent geringere Bezahlung verletzt nicht nur den Gleichheitsgrundsatz, sie wirkt sich auf die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit wie zum Kinderkriegen aus.

Strukturell benachteiligt bleiben Familien mit gegenüber Familien ohne Kinder. Dies gilt sowohl für das Steuerrecht, dessen Splittingmodell nach wie vor keinen Unterschied zwischen den beiden Einkommensgruppen macht und die realen Unterhaltslasten von Eltern mit Kindern kaum berücksichtigt, dies gilt vor allem aber für die Sozialversicherung, deren Beiträge bei der Besteuerung auch auf jene Bestandteile des Eltern-Einkommens erhoben werden, die dem Unterhalt der Kinder dienen. Zudem bleiben in der größten Umverteilungsinstanz zwischen den Generationen, in der Rentenversicherung die Kinder und deren Kosten weitgehend unberücksichtigt, obgleich aus der späteren Erwerbstätigkeit dieser Kinder Kinderlose den gleichen rentensichernden Vorteil ziehen wie Eltern mit Kind. Es existiert nach wie vor in Deutschland „ein Steuer- und Abgabensystem(…), das zu den familienfeindlichsten der gesamten OECD gehört“. (A. Lenze 2008)

Die strukturelle Ungerechtigkeit der Familienpolitik schlägt vor allem dort negativ zu Buche, wo Kinder zum Armutsrisiko geworden sind. Weil diese Politik Kinder systematisch benachteilig, hilft sie kaum, den demografischen Trend umzukehren.

Mittlerweile ist es parteiübergreifend proklamierte Politik geworden, die fatalen Wirkungen dieses Trends durch eine verstärkte Migration abzumildern. Doch verbirgt sich hinter der meist quantitativen Betrachtung ein qualitatives Problem. Eine hohe Zahl von Migranten ist zwar eine notwendige Bedingung um den Rückgang der Bevölkerung abzumildern, jedoch allein kein hinreichender Garant der Wohlstandssicherung. Entscheidendes Kriterium dafür ist die Qualifikation der Zuwandernden. Bereits jetzt dominieren unter Personen mit Migrationshintergrund diejenigen mit niedriger Qualifikation. In einer Studie über die „Zuwanderung zum Zwecke der Erwerbstätigkeit im demografischen Wandel“ prognostiziert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (Brückner u.a. 2006) für einen Zeitraum von 15 Jahren, dass bei gleich bleibendem Qualifikationsniveau und gleich bleibender Zuwanderungsrate die Löhne für gering qualifizierte Arbeitskräfte um 7,5 Prozent und die Arbeitslosenrate um 1,7 Prozent steigen würde. Ein derartiges Absinken der Löhne würde zweifelsohne zu einer enormen Belastung der sozialen Sicherungssysteme führen, auf deren Leistung bereits heute überproportional viel Menschen mit Migrationshintergrund angewiesen sind. Von einer verstärkten Zuwanderung von Hochqualifizierten hingegen würden auch die Niedrigqualifizierten profitieren.

Obgleich diese Zusammenhänge bekannt sind, werden bislang weder bei der Steuerung der Zuwanderung noch bei der schulischen und beruflichen Qualifizierung der in Deutschland lebenden Migranten daraus die notwendigen Schlüsse gezogen.

Die Prognose des DIW basiert auf Projektionen des IAB, denen zufolge der Dienstleistungssektor sowie Tätigkeiten auf mittlerem und hohem Niveau perspektivisch zunehmen und Produktionstätigkeiten sowie an- und ungelernte Tätigkeiten abnehmen werden. Auf den entsprechenden Wandel der Qualifikationsanforderungen reagierte und reagiert das deutsche Bildungssystem nicht nur bei Migranten äußerst unzulänglich. Die Misere der Schulen und Hochschulen ist spätestens seit der ersten Pisa-Studie bekannt, immerhin ist sie im Laufe dieser Zeit auf den Agenden der Bundesregierungen kontinuierlich nach vorne gerückt. Doch obgleich Bildung gleichzeitig parteiübergreifend zum zentralen Medium der Zukunftsgestaltung wie der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen avanciert ist, werden daraus seit Jahren nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen. Die nicht enden wollenden konzeptionellen Debatten über Bildung verdecken nur dürftig, dass die personelle und materielle Ausstattung der Bildungseinrichtungen weit hinter dem zurück bleibt, was zur Verwirklichung dieser Zielvorstellungen erforderlich ist. Die Realisierung der Chancengerechtigkeit durch Bildung ist alleinige Sache der Bundesländer und die verfügen nicht über die notwendigen Mittel.

Diese Diagnose verweist auf eine chronische Misere der Reformpolitik in Deutschland, die angesichts eines sich etablierenden Fünf-Parteien-System allerdings eine dramatische Dimension gewinnt.

Das größte Reformversagen der Großen Koalition zeigt sich auf einem Feld, das bei ihrer Bildung geradezu als ihr Daseinszweck ausgegeben worden war. Das Bündnis der großen Parteien wurde vornehmlich dadurch gerechtfertigt, dass sie die strukturellen Veränderungen im überkommenen Institutionensystem, die zuvor an den Blockaden im Bundesrat gescheitert waren, in Angriff nehmen könne. Dass diese Erwartung eine Illusion war, belegt der bei der Gesundheitsreform gefundene Kompromiss.

Als noch fataler erweist sich jedoch das Scheitern der Erneuerung des föderalen Systems. Letztlich wurde aus keiner der für die Politik und deren Akzeptanz folgenschweren Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte eine strukturelle Konsequenz gezogen. Die Vetostrukturen wurden nicht durchbrochen, eine notwendige Zentralisierung unterlassen. Die bei der Föderalismusreform I gefundene Zuordnung der Gesetzgebungskompetenz lässt vor allem auf den zentralen Feldern der Kinder-, Bildungs- und Hochschulpolitik auch künftig kleinstaatliche Parallelstrukturen und Stagnation erwarten. Auch die Finanz- und Verwaltungsordnung ist in einer Weise geregelt, die ihre jeweiligen Defizite konserviert. Den Ländern wird keine fiskalische Autonomie gegeben, die einen produktiven Wettbewerb unter ihnen ermöglichen und der Arbeit der Landtage Substanz geben würde, die hoch verschuldeten kleinen Länder werden weiterhin in ihrer substanzlosen Eigenständigkeit belassen, die Entscheidungsstrukturen zwischen Ländern, Bund und Europa bleiben für den Bürger undurchsichtig. Weder können sich die Parteien auf einen anderen Besetzungsmodus des Bundesrates, etwa nach Vorbild des amerikanischen Senat, noch auf eine Synchronisierung der Wahltermine verständigen. Die gegebenen föderalen Strukturen sind ein historisch begründeter Geburtsfehler des ansonsten ausgefeilten Institutionensystems der Bundesrepublik, der sich bislang jeder nachhaltigen Veränderung, weil sie eben nur eine Selbstveränderung unter Einschluss aller Beteiligten sein kann, widersetzt hat.

Damit sind die Grenzen künftiger Reformfähigkeit abgesteckt. Die Große Koalition war die letzte politische Konstellation, in der eine strukturelle Selbstreform möglich erschien. Das sich etablierende Fünf-Parteien-System wird die Zahl der Vetospieler vermehren. Damit verkleinern sich die programmatischen Schnittmengen auf den Feldern der Reformpolitik. Sofern sie noch zustande kommen, werden deren Ergebnisse in der Konsequenz kaum mehr jene klare Kontur haben, die es den beteiligten Parteien wiederum ermöglichst, sie mit dem eigenen Profil zu einer Erfolgsgeschichte zu verknüpfen. Der Verdruss, der darob die Parteien und auch die Wähler erfassen wird, ist absehbar. Zugleich wird die Wahrscheinlichkeit der für eine Reform der föderalen Ordnung in Bund und Ländern erforderlichen Zweidrittelmehrheit gen Null tendieren lassen. Das Fünf-Parteien-System wird Reformnotwendigkeiten in dem Maße erhöhen, wie es Reformen unmöglich macht.

* Der Beitrag basiert auf einen Text, der in dem Buch „Wohin steuert Deutschland?“ von M. Machnig und J. Raschke (Hoffmann und Campe) erschienen ist.

Literatur

Herbert Brücker, Hella Engerer, Ulrich Thießen, (2006); Zuwanderung zum Zwecke der Erwerbsarbeit im demografischen Wandel, Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, DIW Berlin.

Robert W. Fogel, (2007);Capitalism and Democracyin 2040: Forecasts and Speculations, National Bureau of Economic Research Working Paper No. W13184.

Anne Lenze, (2008); In schlechter Verfassung Die Familienpolitik in Deutschland, vorgänge 183 3/2008.

Karl Mai, (2008); Nulldefizit und Entschuldung der öffentlichen Haushalte, Berliner Debatte Initial 4/2008.

Wolfgang Streeck, (2005); Vom kurzen Traum zum langen Alptraum, Vortrag anlässlich des 80sten Geburtstags von Burkart Lutz, MPIfG Working Paper 05/05.06.05.

Helmut Wiesenthal, (2008); Die postsozialistische Transformation – ein Musterfall für den Gestaltwandel der kontinetaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten, Beitrag auf dem 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

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